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Ottilie trank einen Schluck Vollmers-Tee. Ihr war so, als würde der präparierte Grüne Hafertee wie Öl durch ihre Kehle rinnen. Sie spürte förmlich, dass sie da etwas sehr Gesundes zu sich nahm. Das Telefon läutete. Die Wirtschafterin ging an den Apparat und rief gleich danach nach oben: „Dana! Telefon für dich!“

Dana kam die Stufen heruntergesprungen. Sie war vor einer halben Stunde nach Hause gekommen.

„Wer ist es?“, fragte sie leise und deutete auf den Hörer.

Wenn es Peter Nowak war, würde sie sich verleugnen lassen. Für Peter Nowak war sie nicht zu sprechen, denn er hatte sie mit seinem aufdringlichen Benehmen ziemlich verärgert.

„Andy Schneider“, sagte die alte Haushälterin da.

Das ist was anderes, dachte Dana und griff nach dem Hörer. „Hallo, Andy.“

Ottilie zog sich diskret zurück.

„Wir haben uns verfehlt“, sagte Andy. „Ich war auch in der Paracelsus-Klinik. Gleich, nachdem du dich von Lilo verabschiedet hattest. Hast du Zeit? Können wir uns sehen? Ich mache mir Sorgen um Lilo: Ist dir an ihr etwas aufgefallen?“

„Nein.“

„Sie war heute nicht besonders gut drauf“, stellte Andy Schneider fest.

„Bist du das immer?“, wollte Dana wissen.

„Sie machte auf mich einen ziemlich geknickten Eindruck“, sagte Andy. „Sie befürchtet, ihre Erinnerungslücken könnten sich nie mehr schließen. Und nicht nur das: Sie hat auch Angst, es könnten neue hinzukommen.“

„Das ist Blödsinn.“

„Habe ich ihr auch gesagt. “

„Wie sollen denn neue hinzukommen?“

„Das weiß sie nicht. Es ist so eine fixe Idee von ihr. Ich konnte sie nicht davon abbringen. Sie sieht ihre schriftstellerische Zukunft gefährdet.“

Dana verabredete sich mit ihm. Eine halbe Stunde später schlenderten sie nebeneinander durch den Englischen Garten und redeten über Lilo Henckels.

„Ich habe befürchtet, dass das alles nicht so glatt abgehen wird“, seufzte Andy Schneider. „Nun stellen sich die ersten Komplikationen ein. Der Defekt, den Lilo abgekriegt hat, scheint schlimmer zu sein, als dein Vater und seine Kollegen es mit all ihren schlauen Geräten messen können. Der Schaden liegt meines Erachtens im seelischen Bereich. Da, wo es nichts zu registrieren und auszuwerten gibt.“

„Scheint so, als hätte Lilo dich mit ihrer Angst bereits infiziert.“

„Ich habe diesen Unfall nun mal verschuldet“, meinte Andy. „Alles, was sich daraus ergibt, belastet mein Gewissen, ist doch klar.“

„Also, ich glaube, in ein, zwei Wochen geht es Lilo schon wieder so gut, dass wir alle zusammen über eure mit Sicherheit unbegründeten Befürchtungen lachen können.“

„Das hoffe ich. Sprichst du daheim mit deinem Vater über Lilo?“

„Ja. Und er ist zuversichtlich, dass sie bald wieder ganz obenauf sein wird“, sagte Dana.

Sie setzten sich auf eine Bank.

„Ich liebe die Natur“, sagte Andy Schneider. Er legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und atmete tief ein. „Das Rauschen der Blätter. Das Summen der Insekten. Das Zwitschern der Vögel. All das ist Musik in meinen Ohren. Ein wunderbares Konzert, für das man sich keine teure Eintrittskarte zu kaufen braucht. Es ist völlig gratis. Aber leider kommt den Menschen immer mehr die Fähigkeit abhanden, diese klangvolle Darbietung von Mutter Natur richtig hören und genießen zu können.“

Er drehte den Kopf, öffnete die Augen und schaute Dana an. „Hörst du das berauschende Klangbild?“

Sie nickte. „Ich höre es.“

„Jede feine Nuance?“

Dana schmunzelte. „Ich habe gute Ohren.“

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Das hat nichts mit den Ohren zu tun.“

Dana lachte leise. „Womit hörst du denn?“

„Mit dem Herzen“, antwortete Andy Schneider ernst. Er forderte sie auf, die Augen zu schließen und sich total zu entspannen. „Stell dir vor, du liegst in einer bequemen Hängematte, und um dich herum ist nichts weiter als eine friedliche, üppige, unberührte Natur.“

Dana legte, wie er, den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und hatte keine Mühe, sich vorzustellen, was Andy Schneider gesagt hatte.

Plötzlich legten sich seine Lippen heiß auf ihren Mund. Sie erschrak, riss die Augen auf und stieß ihn mit beiden Händen wild zurück. „Bist du verrückt?“, fuhr sie ihn an. „Was tust du denn da?“

„Entschuldige. “ Er schaute sie verlegen an. „Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen.“

„Du hast sie wohl nicht alle!“, schimpfte Dana zornig. „Wie kannst du mich so hinterlistig überrumpeln? Wie kannst du mich küssen – einfach so!?“

„Ich dachte, es würde dir gefallen“, rechtfertigte sich Andy. „Ich dachte, du möchtest es auch. Ich dachte ...“

„Du dachtest! Du dachtest! Du dachtest ...!“

„Mein Gott, es war doch nur ein Kuss.“

„Ich wollte aber nicht geküsst werden.“

Andy verdrehte die Augen. „Du tust ja so, als hätte ich dich vergewaltigt. Also ehrlich, Dana, meinst du nicht, dass du ein wenig überreagierst?“

„Du hast mein Vertrauen missbraucht.“

„Und du benimmst dich wie – wie – wie ... Sag mal, bist du vielleicht noch Jungfrau?“

Dana sprang gereizt auf und rannte davon.

Der Arztroman Lese-Koffer Mai 2021: 16 Arztromane

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