Читать книгу Erzählen-AG: 366 Geschichten - Andreas Dietrich - Страница 46
Zehnter Februar
ОглавлениеEs war vor vielen Jahren. Es war Mitte Februar und es war Winter. Wer hinaussah, erkannte es. Wer hinausging, spürte es. Wer auf den Kalender schaute, wusste es.
Draußen lag Schnee. Überall. Wer aus dem Fenster sah, erkannte es. Auf dem Land und in der Stadt. Die Wälder waren schneebedeckt wie die Wiesen. Dächer und Bürgersteige besaßen eine dicke Schneedecke. Die Straßen waren nur teilweise geräumt. Es schneite immer wieder. Teilweise kam der Winterdienst nicht hinterher. Er konzentrierte sich auf die Hauptstraßen. Die Nebenstraßen mussten warten, bis der Schneefall nachließ.
Draußen konnte der Schnee nur fallen und liegen bleiben, wenn es kalt war. Draußen war es kalt. Wer hinausging, der spürte es. Am Tage stieg das Thermometer höchstens auf null Grad Celsius. Die Regel waren maximal minus zwei Grad. In der Nacht sank das Thermometer natürlich noch weiter. Dann konnte es damals runter bis auf minus Zwölf Grad Celsius gehen.
Damals hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Das Erste, was ich damals am Morgen des zehnten Februar sah, war ein Kalender. Auf dem Kalender stand ganz oben der Monat, also Februar. Darunter war eine große Zahl zu sehen. Die Zehn. Der Kalender war nicht in meinem Zimmer. Ich war nicht zu Hause. Ich war woanders.
Ich musste erst einmal überlegen, wo ich war. Langsam wurde es mir klar. Ich war bei meiner besten Freundin. Ich war in ihrem Bett. Wie kam ich nur hier her?
Ich erinnerte mich dunkel, dass wir gestern Abend in einen Club gingen. Meine Freundin kam zu mir. Von mir gingen wir zum Club. Gegen zwanzig Uhr waren wir dort. Im Club tanzten wir. Natürlich tranken wir auch Alkohol. Vielleicht lag es daran, dass ich mich an die letzte Nacht kaum erinnern konnte.
Langsam kam mein Gedächtnis zurück. Langsam erinnerte ich mich, was in der letzten Nacht geschah. Ich sah zwar nur Bruchstücke, doch diese reichten halbwegs, um mich zu erinnern. Ich sah einen Moment, wie meine Freundin und ich Arm in Arm nach Hause gingen. Dann sah ich mich nackt. Nicht nur mich. Auch meine Freundin war nackt. Hatten wir etwa? Hatten wir etwa miteinander geschlafen?
Ich hob vorsichtig die Bettdecke nach oben. Ich erschrak. Ich hatte nichts an. Mit großen Augen drehte ich meinen Kipf nach rechts. Meine Freundin lag dort. Genau jetzt öffnete sie ihre Augen. Sie wünschte mir einen guten Morgen. Erst dann sah sie meine großen Augen.
Sie wunderte sich darüber. „Du weißt wohl nicht, was letzte Nacht geschah. Warum wir beide nackt sind“ sagte sie. Ich bejahte es. Dann sagte meine beste Freundin mir das, was ich schon ahnte. Sie und ich hatten miteinander geschlafen. Sie erzählte mir jedes Detail. Sie konnte sich an alles erinnern.
Ich erschrak noch mehr. Ich hatte zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen! Das wäre ja normal, wenn ich männlich wäre, aber ich bin doch eine Frau. Ich stand doch bisher auf Jungs und Männer. Sollte sich das jetzt geändert haben? Sollte ich jetzt lesbisch sein?
Nein, das konnte nicht sein. Der Alkohol war Schuld. Ohne Alkohol wäre ich nicht nachts im Zimmer meiner besten Freundin gelandet. Ich hätte sie nicht geküsst. Ich hätte sie nicht entkleidet. Ich hätte nicht mit ihr geschlafen. Ich wäre am elften Februar nicht nackt im Bett meiner besten Freundin aufgewacht. Der Alkohol ist Schuld. Ganz sicher, oder?