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Sechzehnter Februar

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Ich bin über zwanzig. Meine Ausbildung habe ich hinter mir. Ich war sechs Jahre in der Grundschule. Ich war nicht der Beste. Ich war nicht der Schlechteste. Ich befand mich im Mittelfeld.

Nach der Grundschule ging ich ab der siebenten Klasse auf die Realschule in meinem Ort. Dort machte ich die Fachoberschulreife. Wieder war ich nicht der Beste. Wieder war ich nicht der Schlechteste. Ich war wieder einmal im Mittelfeld. Anschließend begann ich meine dreijährige Ausbildung. Mein Ausbilder hat mich danach übernommen. Seit drei Jahren arbeite ich nun als vollwertiger Mitarbeiter hier.

Meine Arbeitsstelle liegt nicht im dem Ort, in dem ich auch lebe. Dort, wo meine Freunde und meine Familie leben, arbeite ich nicht. Es ist auch kein Katzensprung bis zur Arbeit. Es sind geschätzt vierzig Kilometer bis dorthin. Ich könnte mit dem Auto fahren. Doch noch habe ich weder Auto noch einen Führerschein.

So war ich mit Bus und Bahn unterwegs. Früh morgens lief ich eine Minute zur Bushaltestelle. Der Bus brachte mich zum Bahnhof. Ich musste nur die Straße überqueren und schon stand ich auf dem Bahnsteig. Zehn Minuten später fuhr der Zug. Mit diesem war ich rund zwanzig Minuten unterwegs. Dann noch fünf Minuten laufen und ich war auf Arbeit.

Nachmittags dann dasselbe Spiel. Nur umgekehrt. Ich lief erst fünf Minuten bis zum Bahnhof. Dort wartete ich zirka zehn Minuten. Dann kam mein Zug. Zwanzig Minuten später stieg ich wieder aus dem Zug aus. Ich lief zur Bushaltestelle und wartete etwas mehr als zehn Minuten. Dann kam mein Bus an. Sieben Minuten später war ich zu Hause.

So ging es montags bis freitags. Nur wenn ich Urlaub hatte, blieb ich Zuhause. In meiner Ausbildungszeit war es ähnlich. Nur wenn ich zur Berufsschule musste, war der Weg etwas anders. Doch nicht viel. Meine Arbeitsstelle und die Berufsschule waren nur einen Kilometer voneinander entfernt.

Ich fuhr also beinahe täglich mit der Bahn. Ich sah viele Menschen. Frauen und Männer. Senioren und Kinder. Manche Leute sah ich zweimal. Manche nur einmal. Manche traf ich unregelmäßig wieder. Eigentlich war es mir egal, wie oft ich wen sah. Es waren fremde Menschen für mich.

Doch heute sah ich jemand, den ich gerne wiedersehen wollte. Sie fiel mir auf, als ich fast zu Hause war. Ich wollte den Zug kurze Zeit später verlassen, weil ich Zuhause war. Sie war ebenfalls fast zu Hause. Sie verließ vor mir den Zug. Ich hätte sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn wir beide nicht in der oberen Etage des Doppelstockwagens gewesen wären. Als ich die ersten Treppenstufen hinab ging, sah ich sie.

Ehrlicherweise muss ich sagen, sie war nicht die Schönste. Das meine ich auch heute noch. Doch trotzdem hatte sie etwas. Irgendetwas zog mich an. Irgendetwas war da. Ich wusste nur nicht was. Ich wusste, dass ich sie wiedersehen möchte. Ich wusste, dass ich jeden Tag an sie dachte.

Ist es Liebe? Habe ich mich in sie verliebt? Aber müsste ich dann nicht sagen können, dass sie wunderschön ist? Ich kann es nicht. Es gibt schönere Frauen. Frauen, die schöneres blondes Haar haben. Frauen, die schönere blaue Augen haben. Kann dies wirklich Liebe sein? Wenn es nicht Liebe ist, was ist es dann? Ich denke an sie. Ich träume von ihr. Ich lächele, wenn ich sie im Zug sehe. Das muss doch Liebe sein, oder?

Erzählen-AG: 366 Geschichten

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