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2. Inhalt und Auswirkung
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Der Vorrang des Unionsrechts ist mithin ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz der Union. Er ist Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit der Verträge und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte, d.h. letztlich für den darauf fußenden Fortbestand der Union.
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Als Kollisionsregel kommt er im Einzelfall zur Anwendung, wenn eine mitgliedstaatliche Rechtsnorm, gleich ob geschrieben oder ungeschrieben, im Widerspruch oder Konflikt zu den Bestimmungen des Unionsrechts steht: Erstere darf dann nicht angewendet werden und muss unberücksichtigt bleiben.
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Voraussetzung ist allerdings ein wirklicher Konflikt in der Normanwendung, dass also die Anwendung der mitgliedstaatlichen Norm zu einem Ergebnis führen würde, das im Widerspruch zu Unionsrecht steht. Kann ein solcher Konflikt durch unionsrechtskonforme Auslegung der innerstaatlichen Vorschrift oder entsprechende Ermessensausübung vermieden werden, wird der Anwendungsvorrang nicht aktiviert; er flankiert insoweit den Grundsatz der Unionstreue.
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Der Anwendungsvorrang erstreckt sich aus unionsrechtlicher Perspektive auf alle Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, unabhängig von ihrer Rangstufe in der innerstaatlichen Normenhierarchie und unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem widersprechenden Unionsrechtsakt in Kraft getreten sind. Er gilt für sämtliches innerstaatliches Recht – Gesetze, Rechtsverordnungen, Einzelrechtsakte und Verwaltungsentscheidungen eingeschlossen – und erstreckt sich auch auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht (s. unten Rn. 67 ff.). Auch Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften, bspw. für die Ungültigkeitserklärung nationalen Rechts oder die Umsetzung von Verwaltungsentscheidungen – z.B. betreffend die Rückforderung rechtswidrig gezahlter Beihilfen – oder sonstige Vorgaben, die die praktische Wirksamkeit unionsrechtlich verliehener Rechte erschweren oder unmöglich machen würden, werden von entgegenstehendem Unionsrecht verdrängt und müssen im konkreten Fall außer Betracht bleiben. Der Rang der Unionsrechtsnorm ist unerheblich; der Anwendungsvorrang gilt für Kollisionen mit Unionsrecht jeglichen Ursprungs und jeglicher Rangstufe und erstreckt sich mithin auch auf rechtskräftig gewordene Entscheidungen der Kommission.