Читать книгу Nur ein Tropfen Leben - Christina M. Kerpen - Страница 16
Angeklagt
ОглавлениеSchon von weitem erkennt der sonst immer so gelassene und jeder Situation gewachsenen Mann den Pulk von Ordnungshütern und Dorfbewohnern, die böse und aggressiv auf dem Zentralplatz einigen wenigen Indianern gegenüber stehen und nervös den Eindruck erwecken, als wollten sie jeden Moment auf die unbewaffneten Männer losgehen.
Zum ersten Mal in seinen Leben hat der Indian das Gefühl, einer Situation nicht recht gewachsen zu sein, doch er schüttelt dieses Gefühl schnell ab und gesellt sich in seiner ruhigen, bedächtigen Art zu dem Auflauf hinzu.
Er hört gerade noch, wie ein Mann böse kreischt: „Holt die verdammte, rothaarige Hexe her, die hat Martin auf dem Gewissen, die hat das Messer geworfen. Die Indianerschlampe gehört aufgehenkt!“
David verspürt genau in diesem Moment eine heftige Bewegung und sieht Carol, deren Augen zwar zornig blitzen, die sich aber krampfhaft bemüht, nach außen hin ruhig zu erscheinen. „Ihr braucht die Hexe nicht zu holen, ich bin von alleine gekommen!“
Sofort tritt Ruhe ein und die junge Frau geht scheinbar seelenruhig in das Zentrum der Menschenansammlung.
Wer sie nicht kennt, könnte meinen, sie genösse das Schauspiel, aber David erkennt, dass alle ihre Nerven bis zum Zerreißen gespannt sind und ihre Hände leicht zittern, während sie sie immer wieder zu Fäusten ballt und dann wieder öffnet.
„Hier bin ich, wie lautet die Anklage?“ Ihre Stimme zittert leicht, ist aber dennoch fest und ihr Mann denkt, wie gut es ist, dass sie nicht gehört hat, was Luk‘ana über den alten Sheriff gesagt hat. Ihn schaudert es bei dem Gedanken, dass möglicherweise mit einem anderen Ordnungshüter Carols Leben schon jetzt keinen Cent mehr wert wäre.
„Du hast meinen Bruder kaltblütig abgestochen, Du ekelhafte Indianerschlampe!“
David zuckt zusammen und er muss an sich halten, um dem Sprecher nicht eins auf sein ungehobeltes Maul zu geben.
Er richtet sich auf und alle seine Muskeln straffen sich, damit er nötigenfalls eingreifen kann, wenn es einer wagen sollte, seiner Frau zu nahe zu treten.
Gleichzeitig suchen seinen Augen die Reihen der Ankläger ab, ob nicht irgendwo eine Waffe verdächtig auf Carol gerichtet ist.
In diesem Moment schiebt sich ein Mann beruhigend zwischen Carol und den Tobenden, der anklagend seinen Zeigefinger auf die rothaarige junge Frau richtet und schreit: „Sie ist eine Mörderin, knüpft sie auf!“
Der ruhige Mann, der seine flache Hand auf die Brust des zornigen Mannes gelegt hat, versucht ihn nun zu beschwichtigen. „Nur die Ruhe, Hickory, nur die Ruhe. Ich bin hier der Sheriff und wenn jemand eine Anklage vorbringt, dann bin noch immer ich das! Aber im Moment klage ich noch niemanden an, erst will ich ganz genau wissen, was sich zugetragen hat und wie der ganze Ablauf vonstatten gegangen ist.“
Murren unter seinen Begleitern kommt auf und einer ruft: „Was gibt es da noch zu klären? Vernichtet die ganze verdammte Brut von Rothäuten doch endlich!“
Der Sheriff mustert den Sprecher kalt, ohne etwas zu erwidern und dreht sich dann zu Carol um, um sie lange und eingehend zu mustern. „Ich habe das Gefühl, als wären wir uns schon mal irgendwo begegnet.“
„Möglich, Sir, ich bin schon viel herum gekommen. Es gibt aber keine Steckbriefe von mir, falls Sie gerade an so was denken.“
Der Sheriff schüttelt den Kopf. „Nein, es war keine unangenehme Begegnung, aber ich kann mich nicht erinnern, wo und wann wir einander über den Weg gelaufen sind.“
Carol zuckt mit den Schultern und brummt: „Ich kann mich auch nicht erinnern, aber das tut eh nichts zur Sache. Es geht im Moment einzig um die Geschehnisse des heutigen Tages und die waren schauderhaft. Schlimmer, als meine schlimmsten Alpträume!“
Sie wagt einen süßen Augenaufschlag. „Was werfen Sie mir vor, Sheriff? Das ist heute das einzige, was relevant ist. Vielleicht fällt Ihnen ein, woher Sie glauben, mich zu kennen, wenn ich ein paar Tage bei Ihnen im Knast geschmort habe.“
„Hm, Sie haben recht, Miss. Ich bin hier, um zu klären, was sich heute hier abgespielt hat. Im Moment werfe ich Ihnen also noch gar nichts vor, aber ...!“
„Die hat Martin umgebracht, sie ist eine kaltblütige Mörderin!“
Mit eisigem Blick schaut Carol den Rufer an. „Nein, Mister!“ Sir bringt sie bei einer solchen Kreatur einfach nicht über die Lippen.
„Ich habe niemanden ermordet. Ich hatte keine so niederen Beweggründe, wie Sie und Ihr Bruder sie gegen die beiden alten, wehrlosen Männer hatten, die sie ermordet haben. Das war reinster, menschenverachtender Hass! Ich könnte höchstens wegen Totschlags belangt werden, aber selbst so eine Anklage wäre wohl schwer haltbar. Ich denke, es war Notwehr oder so was ähnliches, aber dazu müsste ich erst einen Freund, einen hoch angesehenen Richter in Wyoming befragen.“
„Wer glaubt Dir denn schon, Du kleines Stück Vieh! Du bist doch der letzte Dreck und gehörst in Eure ewigen Jagdgründe befördert!“
Der Sheriff, der Carols mit Bedacht gewählten Worten mit hochgezogenen Augenbrauen gelauscht hat, raunzt Hickory zornig an: „Jetzt hältst Du erst mal Dein vorlautes Maul, sonst stopfe ich es Dir!“, und zu Carol gewandt: „Sie haben ziemlich viel Ahnung in Rechtsdingen, wie mir scheint. Sie sind keine Angehörige dieses Stammes, nicht wahr?“
Die junge Frau schiebt die Unterlippe vor, kneift das rechte Auge zu und knurrt: „Und wieso nicht? Ich habe hier eingeheiratet und ich fühle mich bei diesen Menschen ausgesprochen wohl!“
Sie schaut triumphierend in die Runde. „Im übrigen, wenn Sie nichts dagegen haben, setze ich mich, mir geht es nicht so toll, ich bin mitten aus dem Füttern meiner Babys weggeholt worden.“
„Ihrer Babys?“ Der Sheriff schüttelt konsterniert den Kopf. „Wurden Sie vergewaltigt?“
Carol weiß genau, auf was der Mann hinaus will. Vergewaltigt und somit zur Ehe gezwungen.
Sie schmunzelt in sich hinein und brummt gut hörbar für alle: „Ja, beinahe! Und zwar heute Morgen, von einem seiner Kumpane“, sie nickt in Hickorys Richtung, „nachdem der Kerl ein anderes Mädchen bereits mehrfach vergewaltigt hatte. Aber ich weiß sehr wohl, dass Sie das nicht meinen.“
Sie lächelt wieder ihr gewinnendstes, unschuldiges Kinderlächeln. „Sie wollen wissen, ob ich zur Ehe durch Gewalt gezwungen worden bin. Dem ist garantiert nicht so. Meine Kinder sind das wundervolle Ergebnis der Liebe zu meinem Mann. – Übrigens, ich lebe nicht hier, ich bin Bürgerin von Wyoming, ich komme ...!“
Weiter kommt sie allerdings nicht, denn der Sheriff, dem plötzlich eine Erkenntnis aufleuchtet, unterbricht sie: „Sie waren vor einigen Jahren in Amarillo bei Mr. Lionel Hewitt zu Besuch, stimmt’s?“
Jetzt ist das Erstaunen auf Carols Seite. „Richtig, ich erinnere mich höchst unangenehm an diesen Besuch. Beinahe wäre es mir und meiner Freundin damals auch an den Kragen gegangen.“
„Genau, und das alles nur, weil der Vormann Ihrer Ranch einen Zwist mit einem alten Gauner aus unserer Gegend hatte.“
Er grinst. „Ich erinnere mich noch daran, dass Sie wunderschöne Beine haben.“
Nun ist es mit Carols Fassung vorbei.
Laut lachend sagt sie: „Na, das ist ja mal wieder typisch männlich. Ob eine Frau Ausstrahlung hat, weiß er nicht, aber wenn sie sich in unzüchtiger Aufmachung gezeigt hat, kann er sich noch jahrelang an die Beine erinnern.“
„Und an Ihre roten Haare. Ich war damals Hilfssheriff und so erfreut alle Männer in unserem Suchtrupp von Ihrem reizenden Anblick waren, so entsetzt war der Gesichtsausdruck Ihres Ranchers. Ich sehe den Mann noch deutlich vor mir. Sie hatten sich den Rock zerrissen oder so.“
„Stimmt“, grinst Carol, „oder so!“
Der Sheriff hat sich ihr gegenüber auf den Boden gesetzt und starrt sie an. „Was machen Sie hier? Ich hatte damals den Eindruck, Ihr Boss würde einen Mann nach seinem Geschmack für Sie aussuchen, aber dass seine Wahl auf einen Indianer fallen könnte, hätte ich nie für möglich gehalten.“
Carol schaut ein wenig nachdenklich aus, als sie antwortet: „Sie erinnern sich an den Vormann, der den Zwist mit Halpin hatte?“
„Klar, ich glaube, er nannte sich Indian, wohl weil er so schwarze Haare hatte.“
„Hm“, nickt die junge Frau bestätigend. „Der Mann ist ein Halbblut und genau dieses Halbblut habe ich geheiratet. Übrigens mit dem vollen Einverständnis von unserem Boss!“
„Ach, der Mann hat tatsächlich Indianerblut in seinen Adern? Auf mich wirkte er eher wie ein dunkelhaariger Weißer aus dem Osten.“
Carol lächelt sanft: „Sein Vater war vielleicht aus dem Osten, aber seine Mutter war Angehörige dieses Stammes und wir wollten eigentlich nur einen kleinen Verwandtschaftsbesuch machen, unsere Kinder vorstellen und ihnen zeigen, dass sie außer einem Elternpaar auch noch ein paar andere Angehörige haben.
Wer konnte schon damit rechnen, dass das weiße Lumpengesindel dieser Gegend diese friedlichen Menschen hier einfach so, ganz ohne Grund, überfallen würde. Übrigens, nicht zum ersten Mal!“
Haarklein schildert die junge Frau nun den Verlauf des Überfalls, soweit sie ihn miterlebt hat.
„Alles Lüge, alles Lüge! Glauben Sie dem verlogenen Miststück bloß kein Wort, sie ist nur ein kleines, stinkendes Stück Scheiße, wie alle Indianer und ihre weißen Huren!“ Hickorys Stimme überschlägt sich fast vor Wut und Hass.
Dem Sheriff wird es nun aber doch zu bunt. Er springt auf und landet seine Faust mitten in dem Gesicht des aufgebrachten Mannes, der gurgelnd zu Boden geht.
Carol beobachtet ohne Mitgefühl diese Szene, hört wie der Ordnungshüter drohend fragt, ob noch einer ähnliche Töne spucken möchte, wendet den Blick von dem am Boden liegenden Mann ab und erzählt, nun wieder den Sheriff anschauend, schonungslos weiter. Sie lässt auch nicht aus, dass sie einen zweiten Angreifer im Wald erschlagen hat, worauf sich wieder zorniges Gemurmel auf Seiten der weißen Männer erhebt.
Die junge Frau schluckt. „Ich habe also nicht nur ein, sondern zwei Menschenleben auf mein Gewissen geladen und ich kann Ihnen versichern, beide drücken sehr!“, endet sie leise.
„Und in beiden Fällen war es Notwehr!“, hört das Girl Davids Stimme hinter sich, dann fühlt sie seine Hände auf ihren Schultern und legt dankbar ihre rechte Wange gegen seinen Arm.
Der Mann bemerkt den sanften Druck und hofft, dass Weiße Feder seine Geliebte hat ein wenig beruhigen können.
Der Sheriff blickt auf und erkennt den Mann wieder, dessen Auftauchen in Amarillo vor einigen Jahren für so viel Aufregung gesorgt hatte. Er nickt ihm zu und brummt heiser: „Hallo, Sir, immer wenn sie auftauchen, wird es scheinbar haarig. So einen komplizierten Fall hatte ich noch nie!“
David zieht die Augenbrauen hoch. „Ach, ich dachte eigentlich, die Sachlage wäre ganz klar. Der Überfall wurde seitens der feigen weißen Banditen dort verübt, während die Krieger zur Jagd waren und sich nur ein paar hilflose Alte, Kinder und Frauen im Dorf befanden.
Von den Indianern hat niemand eine Aggression gegen die Weißen ausgeübt, obwohl sie wahrlich seit Jahren allen Grund dafür hätten, sie haben sich nur verteidigt. – Was glauben Sie, wie die Weißen reagiert hätten, wenn solch ein Überfall durch die Indianer erfolgt wäre? Keiner der Indianer hätte es überlebt. Was glauben Sie, was sich in einer Kinderseele abspielt, wenn vor ihren Augen ihre Großeltern, Mütter oder Freunde getötet werden? Wenn sie mit anhören oder sehen müssen, wie ihre Mütter, Schwestern oder Tanten vergewaltigt werden? Wenn sie die Schreie der misshandelten Kreaturen bis in ihre Träume mitnehmen müssen?
Glauben Sie etwa, das würde freundschaftliche Gefühle für die Weißen aufkommen lassen? Im Gegenteil, ich fürchte, wenn das so weitergeht, ist der Langmut dieser Menschen bald erschöpft und ich fürchte auch, dass es dann wieder Krieg geben wird, einen fürchterlichen, blutigen Krieg, mit sehr, sehr vielen Opfern auf beiden Seiten!“
Der Sheriff schluckt. „Sie haben recht, Sir. Ich wusste bisher nichts von diesen Übergriffen. Ich dachte immer, es wären so etwas wie nachbarschaftliche Fehden, wie sie auch unter weißen Nachbarn immer wieder vorkommen. Aber das es so schlimm ist, das hätte ich nicht gedacht.“
David nickt grimmig, dann packt er den Sheriff am Arm und knurrt: „Kommen Sie mit, Sir, ich will Ihnen etwas zeigen!“