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C.Subjektiver Bieterschutz (§ 97 Abs. 6 GWB)

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85Nach § 97 Abs. 6 GWB haben Unternehmen Anspruch darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhält. Die Vorschrift ist inhaltsgleich mit § 97 Abs. 5 GWB a. F.

I.Allgemeines

86Die Vorschrift vermittelt Unternehmen bei Oberschwellenvergaben einen Anspruch auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren.93 Sie enthält das Kernstück der durch das Vergaberechtsänderungsgesetz im Jahr 1999 durchgeführten Reform des deutschen Vergaberechts.94 Der EuGH95 hat festgestellt, dass der Schutz der Bieter vor Willkür des öffentlichen Auftraggebers nur wirksam werden kann, wenn der Bieter sich gegenüber dem Auftraggeber auf diese Vorschriften berufen und ggf. deren Verletzung vor den nationalen Gerichten geltend machen kann. Die Einführung eines Anspruchs der Unternehmen auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren und die damit verbundene Einführung eines wirksamen Primärrechtsschutzes im Oberschwellenbereich hat sich als Katalysator für die Entwicklung des Vergaberechts erwiesen und belegt, dass nur durchsetzbares Recht effektives Recht ist.

87Die Vorschrift hat auch das Bewusstsein für die Verpflichtung zur Anwendung des Vergaberechts bei Unterschwellenvergaben gefördert, wenngleich es dort – von landesvergaberechtlichen Regelungen abgesehen – noch immer keinen Zugang zum Nachprüfungsverfahren gibt. Immerhin sind die ordentlichen Gerichte mittlerweile bereit, Primärrechtsschutz zu gewähren, wenngleich Voraussetzungen und Umfang dieses Rechtsschutzes umstritten sind.96

II.Anspruchsberechtigter

88Anspruchsberechtigt sind die „Unternehmen“. Erfasst ist jeder wirtschaftlich tätige Rechtsträger, der an einem Vergabeverfahren teilnehmen kann oder will, also auch öffentlich-rechtliche Rechtsträger wie Gebietskörperschaften oder Universitäten.97 Auf die Kommentierung zu §§ 160 ff. GWB wird Bezug genommen.

III.Anspruchsinhalt

89§ 97 Abs. 6 GWB gewährt Unternehmen einen Anspruch darauf, dass „die Bestimmungen über das Vergabeverfahren“ eingehalten werden. Andere Bestimmungen unterfallen daher grundsätzlich nicht dem Anwendungsbereich der Vorschrift.

90Im Hinblick auf den von der Rechtsprechung geforderten effektiven Rechtsschutz ist der Begriff „Bestimmungen über das Vergabeverfahren“ umfassend zu verstehen und dementsprechend weit auszulegen.98 Zu den Bestimmungen zählen grundsätzlich alle materiellen Vergabevorschriften. Ausgeschlossen sind lediglich solche Regelungen, die nicht das Verhältnis des Auftraggebers zum Bewerber oder Bieter betreffen, sondern entweder überhaupt keine Rechtspflichten oder nur solche dem Staat gegenüber begründen.99

91Der Anspruch umfasst damit jedenfalls die vergaberechtlichen Vorschriften, die dem Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt sind, d. h. gerade den potentiellen Auftragnehmer schützen und diesen Schutz (zumindest auch) bezwecken.100 Erforderlich – aber auch ausreichend – ist eine hinreichend bestimmte Verhaltenspflicht des öffentlichen Auftraggebers gegenüber dem einzelnen Mitbewerber um den Zuschlag. Normen, die beispielsweise die Durchführung öffentlicher Aufträge, nicht aber das Vergabeverfahren betreffen, gehören nicht zu den Bestimmungen, deren Einhaltung gem. § 97 Abs. 6 GWB verlangt werden kann.101 Auch auf bloße Ordnungsvorschriften kann sich der Bieter bzw. Bewerber nicht berufen.102 Dies steht im Einklang mit dem Wettbewerbsprinzip als Kernprinzip des Vergaberechts und dem Vorrang transparenter Vergabeverfahren (§ 97 Abs. 1 GWB).103

92Welche Vorschriften bloße Ordnungsvorschriften darstellen und welche bieterschützend sind, ist durch Auslegung der jeweiligen Bestimmung zu ermitteln. Bei der Frage, welche Vergabevorschriften als subjektive Rechte i. S. d. § 97 Abs. 6 GWB zugunsten der Unternehmen anzusehen sind, ist infolge der grundlegenden Bedeutung der Prinzipien der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung und des Wettbewerbs für das gesamte Vergaberecht eine weite Betrachtungsweise geboten.104 Es ist daher eher als Ausnahme anzusehen, dass auf die Einhaltung einer „Bestimmung über das Vergabeverfahren“ von Seiten der Bieter kein Anspruch besteht.105 Eine Vorschrift hat danach regelmäßig dann Schutznormcharakter, wenn sie zumindest auch den Zweck besitzt, den Betroffenen zu begünstigen, und es ihm dementsprechend ermöglichen soll, sich auf diese Begünstigung zu berufen, um so einen ihm drohenden Schaden oder sonstige Nachteile zu verhindern.106 Der Gesetzgeber hat auch bewusst darauf verzichtet, § 97 Abs. 6 GWB auf Verstöße gegen Bestimmungen zu begrenzen, die auf europarechtlichen Vorgaben beruhen, d. h. insbesondere auf die Vergaberichtlinien zurückzuführen sind.107

93Insgesamt ist damit der ganz überwiegende Teil der Vorschriften des Vergaberechts bieterschützend.108

94Umstritten war zuletzt lediglich noch, ob sich konkurrierende Bieter auf einen Anspruch auf Einhaltung der Vorschriften zur Prüfung ungewöhnlich niedriger bzw. unangemessener Angebote gem. § 60 VgV, § 33 VSVgV, § 16d EU Abs. 1 Nr. 2 VOB/A, § 16d Abs. 1 Nr. 2 VOB/A und § 19 Abs. 6 VOL/A berufen können. Nach bisheriger Auffassung sollten diese Vorschriften in erster Linie den Auftraggeber vor der Eingehung eines wirtschaftlichen Risikos schützen.109 Drittschutz sollte nach überwiegender Auffassung nur dann gegeben sein, wenn der Angebotspreis so niedrig ist, dass die vertragsgerechte Ausführung des Auftrags in Gefahr ist oder die Gefahr besteht, dass ein Unterkostenangebot in Marktverdrängungsabsicht abgegeben wird.110

Die insoweit bestehende Rechtsunsicherheit hat der BGH mittlerweile beendet und entschieden, dass auch die Vorschriften über die Preisprüfung drittschützend sind, wenn ein Angebotspreis aufgrund des signifikanten Abstands zum nächstgünstigen Gebot oder ähnlicher Anhaltspunkte, wie etwa der auffälligen Abweichung von preislichen Erfahrungswerten aus anderen Beschaffungsvorgängen, ungewöhnlich niedrig ist.111 Mitbewerber können dann verlangen, dass der Auftraggeber in eine nähere Prüfung der Preisbildung eintritt.

95Darüber hinaus hat die Rechtsprechung einzelnen Vorschriften über die wirtschaftliche Betätigung von Gemeinden bieterschützenden Charakter zugesprochen:

– § 107 GemO NRW.112

– § 71 Abs. 4 ThürKO.113

– § 108 NGO.114

– § 121 Abs. 1 und 8 HGO.115

In jüngerer Zeit wird eine Einstufung dieser Vorschriften als Bestimmungen über das Vergabeverfahren überwiegend abgelehnt.116 In Betracht kommt allenfalls eine inzidente Prüfung, sofern vergabefremde Bestimmungen über sogenannte Anknüpfungsnormen in das vergaberechtliche Entscheidungs- und Nachprüfungsprogramm integriert werden oder Rechtsfragen außerhalb des Vergaberechts für die Entscheidung über vergaberechtliche Ansprüche eine zwingende Vorfragenrelevanz besitzen.117

IV.Schranken des subjektiven Bieterschutzes

96Der grundsätzliche Anspruch der Unternehmen auf ein ordnungsgemäßes Verfahren führt wegen des dem Auftraggeber zustehenden Gestaltungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielraums allerdings nicht dazu, dass diese dem Auftraggeber das aus ihrer Sicht optimale Verfahren diktieren dürfen. Der Anspruch geht nur dahin, dass die Grenzen dieser Spielräume nicht überschritten werden dürfen. Die Ausübung der Spielräume lässt innerhalb einer bestimmten Bandbreite mehrere vertretbare und daher hinzunehmende Entscheidungsergebnisse zu. Vor diesem Hintergrund sind die Vergabe-Nachprüfungsinstanzen lediglich befugt, die Einhaltung der Grenzen der Spielräume zu überprüfen. Sie dürfen ihre Auffassung über die Organisation des Beschaffungsvorgangs jedoch nicht an die Stelle des Auftraggebers setzen.118

97Primärrechtsschutz des Bieters kommt nur so lange in Betracht, als das Ziel des Antragstellers darin liegt, dem Auftraggeber ein bestimmtes Verhalten in einem noch laufenden förmlichen Vergabeverfahren aufzugeben oder zu untersagen.119

98Auch wenn ein öffentlicher Auftraggeber die Ausschreibung für einen öffentlichen Auftrag bereits aufgehoben hat, kann ein Unternehmen noch die Vergabekammer anrufen und geltend machen, durch Nichtbeachtung der die Aufhebung der Ausschreibung betreffenden Vergabevorschrift in seinen Rechten nach § 97 Abs. 6 GWB verletzt zu sein.120 Erledigt sich der Nachprüfungsantrag während eines laufenden Nachprüfungsverfahrens, kommt die Umstellung in einen Fortsetzungsfeststellungsantrag gem. § 168 Abs. 2 Satz 2 GWB in Betracht.

99Ist das Angebot eines Bieters auszuschließen, so kann der weitere Fortgang des Vergabeverfahrens grundsätzlich weder seine Interessen berühren noch kann der Bieter durch eine etwaige Nichtbeachtung vergaberechtlicher Bestimmungen in seinen Rechten nach § 97 Abs. 7 GWB verletzt sein.121 Derjenige, der selbst mit Abgabe eines unrichtigen Angebots ein zwingendes Erfordernis für die Teilnahme an einem ordnungsgemäßen und fairen Vergabeverfahren nicht eingehalten hat, besitzt, da er in keinem Fall den Zuschlag erhalten kann, im weiteren Verfahren grundsätzlich keine schützenswerten Interessen mehr.122

100Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der öffentliche Auftraggeber bei gebührender Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht nur das Angebot des Antragstellers, sondern auch das in der Wertung verbliebene Angebot eines anderen Bieters oder alle anderen in die Wertung gelangten Angebote hätte ausschließen und etwa daher bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ein neues Vergabeverfahren hätte durchführen müssen. Der BGH hat insoweit entschieden, dass ein Bieter, dessen Angebot an einem Ausschlussgrund leidet, verlangen kann, dass auch alle anderen Angebote, die einen Ausschlussgrund enthalten, von der Wertung auszuschließen sind. Die Auftragsvergabe in dem eingeleiteten Vergabeverfahren muss sodann unterbleiben. Das Vergabeverfahren ist bei fortbestehender Beschaffungsabsicht (mindestens) in das Stadium vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen („zweite Chance“).123

V.Prozessuale Geltendmachung

101Die Geltendmachung des Rechts nach § 97 Abs. 6 GWB in einem laufenden Vergabeverfahren begründet nach § 160 Abs. 2 Satz 1 GWB die Antragsbefugnis124 für die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens (siehe hierzu die Kommentierung zu §§ 160 ff. GWB).

102Nach Abschluss des Vergabeverfahrens ermöglicht § 97 Abs. 6 GWB Unternehmen im Rahmen des sog. Sekundärrechtsschutzes, vom Auftraggeber den Ersatz von Schäden zu verlangen, die ihnen aufgrund von Vergaberechtsverstößen des Auftraggebers entstanden sind.

§ 98 GWBAuftraggeber

Auftraggeber im Sinne dieses Teils sind öffentliche Auftraggeber im Sinne des § 99, Sektorenauftraggeber im Sinne des § 100 und Konzessionsgeber im Sinne des § 101.

Übersicht Rn.
A. Vergaberechtsreform 2016 1
B. Vorbemerkungen zu §§ 98 ff. GWB 2–8
Vergaberecht

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