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§ 3. Das eigene Sein als aktuelles und potenzielles; Zeitlichkeit

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Ob aus dem Abbildungsverhältnis von zeitlichem und ewigem Sein eine Ursprungsbeziehung zwischen beiden zu folgern oder in eins damit gegeben ist, wie sie die Namen »Schöpfer« und »Geschöpf« einschließen, darauf brauchen wir hier nicht einzugehen. Zunächst gilt es, die Ausgangstatsache weiter auszuschöpfen. Mit der Idee des Seins und Nichtseins hat sich uns zugleich die der Aktualität erschlossen. Das Sein, das sich uns zeigte, war gegenwärtig-wirkliches; wir können dafür (weil das Sein, das wir betrachten, Ich-leben ist) auch sagen: voll-lebendiges. Aber damit ist die Tatsache noch nicht fertig beschrieben. Was war, aber nicht mehr ist, und was sein wird, aber noch nicht ist, das ist nicht schlechthin nichts. Vergangenes und künftiges Sein ist nicht schlechthin Nichtsein. Das besagt nicht nur, daß Vergangenes und Künftiges ein erkenntnismäßiges Sein in Erinnerung und Erwartung hat, ein esse in intellectu (sive in memoria). Das gegenwärtig-wirkliche Sein des Augenblicks selbst ist nicht denkbar als für sich allein bestehend – wie der Punkt nicht außerhalb der Linie und der Augenblick selbst nicht ohne eine zeitliche Dauer –, und wenn wir es bewußtseinsmäßig fassen, gibt es sich als etwas, was, aus Dunkelheit aufsteigend, einen Lichtstrahl durchläuft, um wieder in Dunkelheit zu versinken; oder als Gipfelpunkt einer Welle, die selbst einem Strom angehört – alles anscheinend Bilder für ein Sein, das dauernd, aber nicht während der ganzen Dauer aktuell ist. Doch wie ist das zu verstehen? In dem, was ich jetzt bin, steckt etwas, was ich jetzt nicht aktuell bin, aber künftig einmal aktuell sein werde. Und das, was ich jetzt aktuell bin, war ich schon früher, aber nicht aktuell. Mein gegenwärtiges Sein enthält die Möglichkeit zu künftigem aktuellem Sein und setzt eine Möglichkeit in meinem früheren Sein voraus. Mein gegenwärtiges Sein ist aktuelles und potenzielles Sein, wirkliches und mögliches zugleich; und soweit es wirklich ist, ist es Verwirklichung einer Möglichkeit, die früher schon bestand. Aktualität und Potentialität als Seinsweisen sind in der schlichten Seinstatsache enthalten und daraus zu entnehmen.

Die Potenzialität, die in Aktualität übergehen kann, ja deren Sinn es ist, in Aktualität überzugehen, ist nicht Nichtsein. Sie ist etwas zwischen Sein und Nichtsein, oder Sein und Nichtsein zugleich. Die Freude, die mich eben noch erfüllte, jetzt aber »im Abklingen« ist, kann nicht mehr voll-lebendig genannt werden, aber ebensowenig ist sie versunken und vergessen oder gar so, als wäre sie nie dagewesen. Sie ist da, aber in einer – im Vergleich zur vollen Lebendigkeit – abgeschwächten Seinsweise. So ist – in verschiedenen Abstufungen – das, was in der Gegenwart ist, aber nicht voll-lebendig ist; so ist das, was einmal voll-lebendig war, aber es nicht mehr ist, sofern es wieder aus der gegenwärtigen Seinsweise in die des vollen Lebens übergehen kann; so ist das, was in Zukunft voll-lebendig sein wird, sofern es in der vorausgehenden Zeitdauer jene vorbereitende Seinsweise hat.

Es ist wohl zu bemerken, daß die abgewandelten Seinsweisen, in denen ich »noch« bin, was ich einst war, und »schon« bin, was ich künftig sein werde, beide zu meinem gegenwärtigen Sein gehören: mein vergangenes und mein künftiges Sein als solches ist völlig nichtig; ich bin jetzt, nicht damals und nicht dann. Nur dadurch, daß ich in Erinnerung und Erwartung mein vergangenes und mein künftiges Sein geistig innerhalb einer gewissen, nicht scharf abgegrenzten Reichweite festhalte, erwächst mir das Bild einer von dauerndem Sein erfüllten Vergangenheit und Zukunft, einer Daseinsbreite, während in der Tat mein Sein auf Messers Schneide steht. Hedwig Conrad-Martius hat den Gegensatz der phänomenalen Daseinsbreite und der faktisch punktuellen Aktualität in aller Schärfe herausgestellt. Es gibt (in der Zeit!) keine Dimension, in der Existierendes versinken kann, so daß sie es »gewissermaßen noch enthält«, und ebenso »keine Dimension, die das aus sich selbst herausgibt oder entläßt, es schon vorher enthaltend, was zur Existenz werden soll und wird. Vergangenheit und Zukunft bieten das in Wahrheit nicht, was sie anschaulich-phänomenal zu sein und zu bieten scheinen.« Die ganze Rätselhaftigkeit der Zeit und des zeitlichen Seins als solchen tut sich hier auf. Der gegenwärtige Augenblick ist nicht möglich ohne Vergangenheit und Zukunft, aber Vergangenheit und Zukunft stehen nicht fest, sie sind keine Behälter, in denen etwas bewahrt werden oder aus denen etwas kommen kann: es läßt sich in ihnen kein dauerndes Sein bergen. Die Eigentümlichkeit des dauernden Seins ist nicht von der Zeit her zu verstehen, sondern umgekehrt die Zeit von der punktuellen Aktualität her. Die »ontische Geburtsstätte der Zeit« liegt »in der vollaktuellen Gegenwärtigkeit«; darin, daß »aktuelle Existenz … eine bloße Berührung mit dem Sein … in einem Punkt« ist, ein Gegebenes und zugleich »als Gegebenes ein Genommenes«, ein »Hangen zwischen Nichtsein und Sein«. Was uns als dauerndes Sein erscheinen will, ist ein kontinuierliches Passieren der Berührungsstelle. Das ist die »existentielle Urbewegung«, die sich die Zeit – als ihren »Raum« – schafft. Im »Existenzberührungspunkte ›ist‹ Zeit. Und zwar als ›Gegenwart‹«. »Zeit ist die den Existenzberührungspunkt passierende Gegenwart schlechthin.« Vergangenheit und Zukunft sind von der Gegenwart nicht vorausgesetzt, aber »mit und an der Gegenwart« konstituiert vermöge des Entsteigens aus dem Nichts und Versinkens ins Nichts, das zur Urbewegung gehört, als »formale Leerdimensionen«. Die Urbewegung ist eine »Bewegung in das Sein hinein, dem Nichts entgegen; oder in sich selbst hinein (in dasjenige, was eben zur Setzung kommt), aus dem Nichts heraus.« Sein ist in diesem Sinn ein »Werden und bleibt es immer, es wird niemals zu einem (ruhenden) Sein«. Dieses Sein bedarf der Zeit. Die immer zu erneuernde »Position« setzt notwendig eine formale Dimension, in der sie immer neu Platz findet; setzt Aktualität oder Gegenwart im prägnanten Sinn: als den Ort oder die Stelle des Positionsaktes, der gerade vollzogen wird. »Gegenwart ist ›dort‹, wo dieser ontische Urakt sich vollzieht. Das kann nur ein ›Punkt‹, nie eine Breite sein … Gegenwart bricht kontinuierlich ins Nichts hinein … Aktualität ist … vorgerückt, wie sie es konstitutiv muß. Das heißt aber, daß jetzt eine neue Stelle erreicht ist und die alte nicht mehr gilt. Die Dimension der Zeit ist ja nichts außer diesem Vorrücken der Aktualität.« Ihr fester Angelpunkt ist die passierende Gegenwart. Die Zeit vermag keinen Existenzbesitz, keine Gegenwartsbreite zu schaffen, »weil zeitliche Setzung die Existenzform desjenigen Existierenden ist, das nicht wesenhaft, sondern nur faktisch existiert; weil dieses nur faktisch Existierende selbst prinzipiell nicht … zu einer endgültigen Seinssetzung in sich, zu einem wahren Existenzbesitze zu gelangen vermag«.

Diese grundsätzlichen Feststellungen führen weit über das hinaus, worum es uns gegenwärtig geht: um den Gegensatz von Aktualität und Potenzialität in unserem Ichleben. Dieses hat sich uns als zeitliches enthüllt, d. h. als kontinuierlich immer neu aufleuchtende punktuelle Aktualität. Aber diese Aktualität selbst ist keine reine: in meiner punktuellen Gegenwart ist aktuelles und potenzielles Sein zugleich; ich bin nicht alles, was ich gegenwärtig bin, in gleicher Weise. Um klarzumachen, was unter »reiner Aktualität« zu verstehen ist, müssen wir ein Seiendes, in dem in der angegebenen Weise Potenzialität und Aktualität vereint sind, einem anderen entgegenstellen, in dem diese Gegensätze aufgehoben sind, auch damit wieder dem vorgreifend, was erst spätere Untersuchungen herausstellen können.

Was ein Mensch tut, das ist die Verwirklichung dessen, was er kann; und was er kann, ist Ausdruck dessen, was er ist; indem sich seine Fähigkeiten in seinem Tun verwirklichen, kommt sein Wesen zur höchsten Seinsentfaltung. Was uns hier getrennt entgegentritt, ist in Gott eins. Wie all sein Können in der Tat verwirklicht ist, so ist sein ganzes Wesen ewig – unwandelbar in höchster Seinsentfaltung, ja sein Sein ist sein Wesen: Gott ist »Der ist«; das ist der Name, mit dem er selbst sich genannt hat, und in diesem Namen ist – nach Augustinus – am besten ausgesprochen, was Er ist. Der vollkommenen Einheit des göttlichen Seins steht die Gebrochenheit und Gespaltenheit des geschöpflichen Seins gegenüber. Aber trotz des Abgrundes zwischen beiden ist doch eine Gemeinsamkeit, die es erlaubt, hier und dort von Sein zu sprechen. Alles, was ist, ist, sofern es ist, etwas nach der Art des göttlichen Seins. Aber allem Sein, abgesehen vom göttlichen Sein, ist etwas von Nichtsein beigemischt. Und das hat seine Folgen in allem, was es ist. Gott ist actus purus. Uneingeschränktes Sein ist rein aktuelles Sein. Je größer der »Seinsanteil« eines Geschöpfes ist, desto stärker ist auch seine Aktualität. Solange es ist, ist etwas von dem, was es ist, aktuell – aber nie alles. Es kann mehr oder weniger von dem, was es ist, aktuell sein, und das, was aktuell ist, kann mehr oder minder aktuell sein. Es gibt also Unterschiede der Aktualität dem Umfang und dem Grad nach. Was ist, ohne aktuell zu sein, ist potenziell; und die Potenzialität hat die entsprechenden Unterschiede nach Umfang und Grad. Das ist geschöpfliche Potenzialität. So wie Aktualität und Potenzialität hier gefaßt sind, sind es Seinsweisen: reine Aktualität das göttliche Sein, die geschöpflichen Seinsweisen verschieden abgestufte Mischungen von Aktualität und Potenzialität (das besagt zugleich von Sein und Nichtsein); reine Potenzialität wird als Seinsweise der bloßen Materie bezeichnet, kommt daher wie diese selbst tatsächlich nicht vor. Potenzialität in diesem Sinn gibt es bei Gott nicht. In potentia esse – in actu esse, das sind die Seinsweisen endlicher Dinge. Gott kann nicht anders als in actu esse.

Es wurde in den letzten Ausführungen von aktuellem und potenziellem Sein (gegenwärtig-wirklichem und möglichem, voll-lebendigem und abgeschwächtem) gesprochen; daneben von Aktualität und Potenzialität (Wirklichkeit und Möglichkeit). Auch bei Thomas von Aquino war von »in actu esse«, »in potentia esse«, von »actualitas« und »potentialitas« die Rede. Sind diese Begriffspaare untereinander und mit »Akt« und »Potenz« einfach gleichbedeutend? Thomas hat von dem, was das Sein empfängt, gesagt, es sei »in Potenz« im Verhältnis zu dem Sein, das es empfängt, das Sein selbst aber hat er als Akt bezeichnet (dabei war jedoch »Sein« in dem ausgezeichneten Sinn des wirklichen oder vollendeten Seins genommen). Dagegen ist »Potenz«, streng genommen, nicht »mögliches Sein«, sondern »Möglichkeit zu sein« oder Hinordnung auf wirkliches Sein. Das, was wirklich ist oder werden kann, ist »in actu« oder »in potentia«, aktuell oder potenziell. Aktuelles und potenzielles Sein, wirkliches und mögliches Sein drücken also die Seinsweisen von etwas aus, das in sie eingehen kann. Akt und Potenz sind Namen für die Seinsweisen an sich genommen und unabhängig von dem, was in sie eingeht. Wir wollen dafür deutsch sagen: Sein in Vollendung oder wirkliches Sein und Vorstufe zum Sein. »Potenzialität« und »Aktualität« (Möglichkeit und Wirklichkeit) bezeichnen die Seinsweisen von etwas in Allgemeinheit, d. h. ohne sie einem bestimmten Seienden zuzusprechen.

Der Unterschied der Seinsweisen dürfte einigermaßen klar sein. Aber was Seinsweise besagt, das verlangt noch nach weiterer Klärung durch Betrachtung dessen, was in die verschiedenen Seinsweisen eingehen kann.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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