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§ 6. Das »reine Ich« und seine Seinsweisen
ОглавлениеIm Gegensatz zu diesem verborgen hinter dem unmittelbar bewußten Erleben stehenden Ich nennt er das im Erleben unmittelbar bewußte das »reine Ich«. Nur von diesem soll vorläufig die Rede sein, solange die Betrachtung sich im Bereich des unmittelbar Bewußten, des uns Nächsten und von uns Unabtrennbaren, hält. Husserl sagt von ihm, es habe keinen Inhalt und sei an sich unbeschreiblich: »reines Ich und nichts weiter«. Das heißt, es sei das Ich, das in jedem »ich nehme wahr«, »ich denke«, »ich ziehe Schlüsse«, »ich freue mich«, »ich wünsche« usw. lebt und in dieser oder jener besondern Weise auf das Wahrgenommene, Gedachte, Gewünschte usw. gerichtet ist. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die »Reinheit« des reinen Ich wirklich so zu verstehen sei, daß es in sich – inhaltlich – kein so oder so geartetes und daß es darum von anderen nur zahlenmäßig unterschieden wäre. Es kommt zunächst nur darauf an, zu sehen, daß es in jedem Erlebnis lebt und daraus nicht zu streichen ist. Es ist vom Erlebnisgehalt unabtrennbar, aber es ist nicht eigentlich als »Teil« dieses Gehalts anzusehen. Vielmehr gehört jedes Erlebnis ihm zu, das Ich ist das, das in einem jeden lebt; der Fluß, in dem sich immer neue Erlebniseinheiten aufbauen, ist sein Leben. Das besagt aber noch etwas mehr als daß ihm alle Erlebnisgehalte zugehören. Das Ich lebt, und das Leben ist sein Sein. Es lebt jetzt in der Freude, ein wenig später in der Sehnsucht, und dann wieder in einem Nachdenken (meist in verschiedenen solchen Erlebniseinheiten zugleich) – die Freude verklingt, die Sehnsucht vergeht, das Denken hört auf: aber das Ich vergeht nicht und hört nicht auf, sondern ist in jedem Jetzt lebendig. Damit soll nicht ausgesprochen sein, daß ihm »ewiges« Leben zukomme. Ob es immer war und immer sein wird, danach brauchen wir hier nicht zu fragen. Es soll nur aufgezeigt werden, daß es nicht entsteht und vergeht wie die Erlebniseinheiten, sondern ein lebendiges ist, dessen Leben sich mit wechselnden Gehalten erfüllt. Dies wiederum heißt nicht, daß sein Leben ein fertiges Gefäß wäre, das sich allmählich mit Gehalten füllte, – es ist selbst ein in jedem Augenblick neu aufquellendes. Es heißt aber, daß sein Sein in jedem Augenblick gegenwärtig-wirklich, aktuell ist. So wird es etwas weniger rätselhaft, daß die Erlebnisgehalte zum wirklichen Sein gelangen, obwohl sie jeweils nur einen Augenblick, mit einem »Punkt« daran rühren. Es ist eigentlich gar nicht ihr Sein, sie sind für sich allein nicht zum wirklichen Sein fähig, sondern erhalten nur durch das Ich, in dessen Leben sie eingehen, an dessen Sein Anteil. Das Ich ist also im Verhältnis zu dem, was ihm das Sein verdankt, was aus ihm und in ihm zum Sein emporsteigt, Seiendes in einem ausgezeichneten Sinn: hier nicht im Sinn der »Seinshöhe« zu ihren »Vorstufen«, sondern im Sinn des Tragenden zu dem von ihm Getragenen. Ehe wir aber diesem höchst bedeutsamen Unterschied von Tragendem und Getragenem weiter nachgehen, soll das Verhältnis des Ich zur Seinshöhe und ihren Vorstufen (zu Akt und Potenz) geklärt werden. Nach dem, was bisher festgestellt wurde, hat es den Anschein, als müßte das Ich immer aktuell, als könnte es gar nicht potenziell sein. Wir haben ja unter Potenzialität nicht die bloße logische Möglichkeit des Übergangs vom Nichtsein zum Sein verstanden, sondern eben eine Vorstufe zum Sein, die selbst schon eine Weise des Seins ist. Die Möglichkeit, aus dem Nichts ins Dasein zu treten, besteht auch für das Ich. Aber sein, ohne lebendig zu sein – wie die vergangene Freude ein »unlebendiges Sein« hat –, das scheint unmöglich. Wenn das Ich nicht lebt, dann ist es auch nicht, und ist auch nicht Ich, sondern ist Nichts. Es ist an sich leer und bekommt alle Fülle durch die Erlebnisgehalte; sie aber bekommen von ihm das Leben. Dennoch scheint es, als ob von verschiedenen Graden der Lebendigkeit beim Ich gesprochen werden könnte und müßte. Um das einzusehen, muß man das eigentümliche Leben des Ich noch etwas näher betrachten. Weil alles Leben der Gehalte dem Ich entspringt und weil es in allen Erlebnissen lebt, darum ist es verständlich, daß die Erlebniseinheiten – obgleich durch ihre verschiedenen Gehalte in sich geschlossen und von anderen abgegrenzt – sich nicht wie die Glieder einer Kette aneinander- und nebeneinanderreihen, sondern daß es berechtigt ist, wenn Husserl von einem Erlebnisstrom spricht. Das immer lebendige Ich geht von einem Gehalt zum anderen, aus einem Erlebnis ins andere, und so ist sein Leben ein fließendes Leben. Vom Ich her ist es aber auch zu verstehen, daß das »nicht mehr Lebendige«, das »Vergangene« nicht einfach ins Nichts versinkt, sondern in abgewandelter Weise fortbesteht, und daß das »noch nicht Lebendige«, das »Zukünftige«, schon in gewisser Weise ist, ehe es lebendig wird. Das Ich läßt das, was es erlebt hat, nicht sogleich los, sondern behält es noch eine Weile im Griff, und ebenso streckt es sich schon dem Kommenden entgegen und greift danach. Und auch das, was es gegenwärtig nicht festhält, bleibt in gewisser Weise erreichbar. Es braucht hier nicht die Frage erörtert werden, ob überhaupt etwas völlig vergessen werden könne – so vergessen, daß es nicht wieder »auftauchen« oder »ins Gedächtnis zurückgerufen« werden könnte. Sicher ist, daß weit Zurückliegendes, woran ich sehr lange gar nicht mehr gedacht habe, erinnernd »vergegenwärtigt« werden kann: z. B. die Freude, die wir als Kinder hatten, wenn unsere Mutter von einer Reise zurückkam. Die Vergegenwärtigung kann auf sehr verschiedene Weise geschehen. Entweder weiß ich bloß um die Tatsache, daß und wie ich mich damals gefreut habe. Dann ist das Wissen das, worin ich gegenwärtig lebe, und die Tatsache, daß ich mich damals gefreut habe, ist der Gegenstand meines Wissens. Die Freude, um die ich nur weiß, ist keine lebendige Freude, auch keine »lebendig vergegenwärtigte«; das Ich lebt nicht darin. Es ist sodann möglich, daß ich mich in jene Zeit »zurückversetze«, »gleichsam« in der Erwartung des Wiedersehens lebe und dann Zug um Zug das Wiedersehen und die Wiedersehensfreude noch einmal nacherlebe. Was ist nun »lebendig«, gegenwärtig-wirklich? Jetzt vollziehe ich das nach, was damals ursprünglich sich vollzog. Es ist etwas Ähnliches wie das verstehende Miterleben dessen, was ein Anderer gegenwärtig neben mir erlebt. Solange die Freude des anderen oder die Freude von damals nur nachvollzogen ist, ist nur dieser Nachvollzug mein gegenwärtiges Leben, die Freude ist aber nicht vollebendige, sondern »meine frühere« oder die fremde in der Weise der Vergegenwärtigung, die hinter der vollen Lebendigkeit meiner gegenwärtigen Freude zurückbleibt. Wie steht es in diesem Fall mit dem Ich? Lebe ich, wenn ich mich in die Vergangenheit zurückversetze, im Jetzt oder im vergangenen Augenblick? Lebe ich, das gegenwärtige Ich, in der vergangenen Freude? Oder gehört zu der vergangenen Freude ein anderes, ein vergangenes Ich, das dann doch wohl ein nichtaktuelles wäre? Was zunächst den Zeitpunkt anlangt: das Ich lebt – so scheint es – zugleich »jetzt« und »damals«. Jetzt – denn ich versetze mich aus dem gegenwärtigen Augenblick in den vergangenen und gebe den gegenwärtigen nicht preis. Damals – denn ich »versetze mich« in den vergangenen Augenblick und lebe darin. Was kann das aber heißen, wenn wir bedenken, daß in der Vergangenheit nichts wirklich sein kann? Ich bin nur jetzt wirklich und kann an eine Stelle, an der ich früher wirklich war, nicht wieder zurückkehren. Aber ich habe die Stelle mit dem, was einmal »dort« wirklich war, und mit ihrem (nicht streng abgegrenzten und gemessenen) Abstand vom Jetzt geistig im Griff und habe die Freiheit, das, was damals war, jetzt zu wiederholen – freilich nur, soweit es noch in der abgewandelten Weise, die wir »potenziell« nennen – in mir ist. In Wahrheit ist es also nicht möglich, zugleich jetzt und damals zu leben, das Vergangene bleibt vergangen; ich kann nur, was damals wirklich war, jetzt wiederholen mit dem Bewußtsein, daß es Wiederholung von Vergangenem ist. Das Damals – d. h. das einstige Jetzt – wird dadurch nicht zum gegenwärtigen Jetzt. Es bleibt bewußtseinsmäßig davon getrennt durch das erlebte »Sichzurückversetzen« oder Herbeiholen, durch den erlebten Gegensatz der gegenwärtigen und der vergangenen Gesamtlage und durch die von meinem vergangenen Leben »erfüllte« Zeitstrecke zwischen dem Damals und Jetzt. Ich lebe in der vergangenen Freude nicht wie in einer gegenwärtigen, solange ich sie nur nachlebe. Dabei kann es sein, daß ich, das gegenwärtige Ich, an der Stelle des vergangenen Ich stehe und an seiner Stelle sein Leben nachlebe. Ich weiß wohl, daß ich »damals« anders in der Freude lebte als »jetzt«, wo ich sie nur nachlebe, aber es ist kein doppeltes Ich da. Es kann aber auch sein, daß mir in der Vergegenwärtigung mein Ich von damals wie ein fremdes begegnet und daß ich seine Freude wie eine fremde mitvollziehe. Ich, das lebendige Ich von jetzt, stehe dann neben dem Ich von damals, das jetzt nicht lebendig ist. Ich weiß nur, daß es – oder vielmehr ich – damals lebendig war. Haben wir in diesem Fall ein potenzielles Ich vor uns und müssen wir sagen, daß das Ich doppelt vorhanden sei, einmal als aktuelles und einmal als potenzielles? Das würde nicht der Sachlage entsprechen. Das »vergangene Ich« ist nur ein »Bild« meiner selbst, wie ich einst lebendig war, und das Bild des Ich ist kein Ich.
Es besteht schließlich noch die Möglichkeit, daß die vergangene Freude in mir »wiederauflebt«, zu wirklicher Freude wird, wie ja auch der verstehende Mitvollzug einer fremden Freude in wirkliche eigene Freude übergehen kann. Gerade weil in der »Vergegenwärtigung« diese Möglichkeit des Übergangs zu Lebendig-Gegenwärtigem liegt, ist das Vergangene in mir »potenziell« im echten Sinn, sein Sein Vorstufe zu erneutem, lebendig-gegenwärtigem, in das es immer wieder übergehen kann.
Das Ich ist also immer aktuell, immer lebendig-gegenwärtig-wirklich. Andererseits gehört ihm der ganze Erlebnisstrom zu, alles was »hinter ihm« und »vor ihm« liegt, worin es einmal lebendig war oder lebendig sein wird. Wir nennen dieses Ganze geradezu »sein Leben«. Und dieses Ganze ist ja als Ganzes nicht aktuell. Nur was jeweils »jetzt« lebendig ist, ist gegenwärtige Wirklichkeit. Die Lebendigkeit des Ich umspannt also nicht alles, was sein ist; es ist immer lebendig, solange es ist, aber seine Lebendigkeit ist nicht die sein ganzes Sein umspannende des reinen Aktes, sie ist eine zeitliche, von Augenblick zu Augenblick fortschreitende. Und dazu kommt die Einschränkung: solange es ist. Wir haben gesehen: Das Ich kann gleichsam »rückwärts gehen«, es kann den Strom des vergangenen Lebens überschauen und dieses oder jenes wiederaufleben lassen. Es ist dann immer sein früheres Leben, das es wiederaufnimmt. Aber es ist dabei nicht unbegrenzt frei. Es stößt auf Lücken im Strom, die es nicht ausfüllen kann. Es findet hier nichts, was es vergegenwärtigen könnte, es findet auch »sich« in solchen leeren Zeitstrecken nicht. Manchmal handelt es sich um »Erinnerungslücken«, andere können ihm möglicherweise aushelfen und ihm etwas über sein Leben in dieser Zeit bezeugen, vielleicht ruft ihm das auch manches »Vergessene« in die Erinnerung zurück. Aber es kommt noch anderes in Betracht: traumloser Schlaf, Ohnmacht – war das Ich in dieser Zeit oder hat es eine Unterbrechung seines Seins erfahren? Ferner: der Erlebnisstrom ist für das erlebende Ich weder als begrenzt noch als unbegrenzt gegeben. Wenn es in seine Vergangenheit blickt und immer weiter rückwärts geht, so vermag es schließlich nichts Bestimmtes mehr zu unterscheiden, alles »verschwimmt« – ging es in dieser »Verschwommenheit« immer weiter? Es selbst kommt an keinen Anfang. Andere können ihm den Anfang seines leiblichen Seins bezeugen. Hat auch das Ich einen Anfang seines Seins gehabt? Seine unmittelbare Erfahrung gibt ihm darauf ebensowenig Antwort wie auf die Frage nach dem möglichen Ende. An verschiedenen Punkten seines Seins klafft eine Leere: Kam es aus dem Nichts? Geht es in das Nichts? Kann sich in jedem Augenblick unter ihm der Abgrund des Nichts öffnen? Wie hinfällig erscheint auf einmal das Sein des Ich, von dem früher gesagt wurde, daß es Seiendes in einem ausgezeichneten Sinn sei, und sogar in doppeltem Sinn ausgezeichnet: als immer Lebendiges gegenüber dem nicht mehr oder noch nicht Lebendigen und als Tragendes gegenüber dem Getragenen, das ihm die Seinshöhe des Lebens verdankt. An dieser doppelten Auszeichnung ist nicht zu rütteln, und doch wird auch an ihr die Ohnmacht und Hinfälligkeit des »ausgezeichneten Seienden« sichtbar. Es ist selbst immer lebendig, aber es kann das, was es zum Leben nötig hat, nicht dauernd lebendig erhalten: sein Leben bedarf der Gehalte, ohne Gehalte ist es leer und nichts. Die Gehalte erhalten von ihm das Leben, aber jeweils nur für einen Augenblick, um dann wieder zurückzusinken. Sie bleiben – in der abgewandelten Seinsweise des nicht mehr Lebendigen – »sein«, aber nicht als ein unumschränkter Herrschaftsbereich. Und ferner: woher kommen ihm die Gehalte, ohne die es nichts ist? Ein Geräusch »dringt auf mich ein« – das ist etwas, was »von außen« kommt, es entspringt nicht dem Ich, Sache des Ich ist nur das »Betroffenwerden« oder »Vernehmen«. Eine Freude »steigt in mir auf« – das kommt »von innen«, wenn es auch in der Regel die Antwort auf etwas von außen Kommendes ist. Was heißt aber dieses »von innen«? Kommt die Freude aus dem »reinen« Ich? Wenn wir darunter mit Husserl nur das Ich verstehen, das in jedem »ich denke«, »ich weiß«, »ich will« usw. lebt und dabei seiner selbst als des denkenden, wissenden, wollenden bewußt ist, so müssen wir sagen, die Freude kommt aus einer jenseitigen Tiefe, die sich im bewußten Erlebnis der Freude öffnet, ohne durchsichtig zu werden. So ist das bewußte Ichleben durch seine Gehalte von einem doppelten »Jenseits« abhängig, von einer »äußeren« und einer »inneren Welt«, die sich in dem bewußten Leben des Ich, in dem von ihm unabtrennbaren Seinsbereich bekunden. Wie steht es aber mit dem Leben selbst, von dem gesagt wurde, daß es den Gehalten durch das Ich zuteil werde? Ist das Ich eine Quelle des Lebens? Da das Leben das Sein des Ich ist, würde das zugleich heißen, daß es sein Sein aus sich selbst hätte. Das stimmt aber offenbar nicht zu den festgestellten merkwürdigen Eigentümlichkeiten dieses Seins: zu der Rätselhaftigkeit seines Woher und Wohin, den unausfüllbaren Lücken in der ihm zugehörigen Vergangenheit, der Unmöglichkeit, das, was zu diesem Sein gehört (die Gehalte), aus eigener Macht ins Sein zu rufen und darin zu erhalten, vor allem aber damit, wie das Ich selbst ist und wie es sein eigenes Sein erlebt. Es findet sich als lebendiges, als gegenwärtig seiendes und zugleich als aus einer Vergangenheit kommendes und in eine Zukunft hineinlebendes vor – es selbst und sein Sein sind unentrinnbar da, es ist ein »ins Dasein geworfenes«. Das ist aber der äußerste Gegensatz zur Selbstherrlichkeit und Selbstverständlichkeit eines Seins aus sich selbst. Und sein Sein ist ein von Augenblick zu Augenblick auflebendes. Es kann nicht »halten«, weil es »unaufhaltsam« entflieht. So gelangt es niemals wahrhaft in seinen Besitz. Darum sind wir genötigt, das Sein des Ich, diese beständig wechselnde lebendige Gegenwart, als ein empfangenes zu bezeichnen. Es ist ins Dasein gesetzt und wird von Augenblick zu Augenblick darin erhalten. Eben damit ist die Möglichkeit eines Anfangs und Endes und auch einer Unterbrechung seines Seins gegeben.