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§ 9. Das wesenhafte und das wirkliche Sein der Dinge

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Für die Untersuchung des Verhältnisses von wesenhaftem und dinglichwirklichem Sein ist zu beachten, daß das Seiende, dem das wesenhafte Sein eigen ist, ein mannigfaltiges ist: Wesenheiten, Washeiten und noch manches andere, was wir in unseren Darlegungen nur gestreift, nicht eigentlich erörtert haben. Wenn wir »Wesen« und »wesen« in ihrer nahen Zusammengehörigkeit betrachten und »Wesen« für alles Seiende nehmen, dem wesenhaftes Sein eignet, dann ist »Wesen« nicht in dem engeren Sinn gemeint, in dem es früher gegen »Wesenheit« und »Washeit« abgegrenzt wurde, sondern in erweiterter Bedeutung. Um über das Verhältnis von wesenhaftem und wirklichem Sein Klarheit zu gewinnen, werden wir aber wieder unterscheiden müssen. Das Wesenswas »Freude eines Kindes« war seinem wesenhaften Sein nach vor aller Zeit, ehe es die Welt und Menschenkinder in der Welt und Kinderfreude »gab«. Als zum erstenmal ein Kind in der Welt Freude empfand, da war auch zum erstenmal das Wesen und Was »Freude eines Kindes« wirklich. Wenn das Kind »vor Freude« aufjauchzte und aufhüpfte, so war es die Freude kraft ihres Wesens, die so wirkte und sich offenbarte. Die Freude ist durch ihr Wesen wirklich und wirksam – das Wesen ist in der Freude wirklich und wirksam, in der Freude dieses Kindes, als ein Einmaliges. Das Wesenswas »Freude eines Kindes«, seinem wesenhaften Sein nach betrachtet, ist eins, so oft es auch verwirklicht sein mag. Entsprechende wirkliche Wesen und Washeiten gibt es so viele, wie es sich freuende Kinder gibt. Und das Verhältnis des einen »wesenhaften« Was und der vielen wirklichen Wesen und Washeiten ist angemessen ausgedrückt, wenn wir sagen: Dasselbe ist hier und dort und überall wirklich, wo Kinderfreude lebendig ist. Daß etwas zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten zugleich sein kann, macht nur für den Schwierigkeiten, der nicht davon loskommt, das räumlich und zeitlich gebundene Seiende als das Seiende schlechthin zu betrachten. So gut ich mich jetzt »im Geist« an einen andern Ort versetzen kann und dann meinem geistigen Sein nach hier und dort zugleich bin (obwohl ich mit meinem wirklichen Leib nur hier bin), so gut kann dasselbe »wesenhafte Was« hier und dort zugleich verwirklicht sein. Es gehört dazu allerdings ein Etwas hier und ein anderes Etwas dort, worin es verwirklicht wird.

Wenn das Was und das Wesen in den Einzeldingen wirklich und wirksam wird und das ist, wodurch sie wirklich und wirksam sind – ist ihm dann wohl auch das Wirklichwerden in den Einzeldingen zuzuschreiben, d. h. der Übergang vom wesenhaften zum wirklichen Sein? Damit käme dem wesenhaften Sein eine Wirksamkeit zu, und es wäre in vollem Sinne wirkliches Sein. Denn unter wirklichem (= aktuellem) Sein verstanden wir »vollendetes Sein, das sich in Wirksamkeit auswirkt und offenbart«. Seinsvollendung haben wir den Wesenheiten und Washeiten zugesprochen im Sinn des Ruhens in sich selbst. Würde sich nun ergeben, daß die Washeit von sich aus zum Sein in den Einzeldingen überginge, so hätte das wesenhafte Sein den Vollsinn von »wirklichem Sein« erreicht. Ja, die Wirklichkeit der Washeiten wäre eine höhere als die der Einzeldinge, weil sie ihnen vorausgingen als wahre Ur-Sachen, die die Wirklichkeit der Einzeldinge hervorbrächten: sie wären im Verhältnis zu den Einzeldingen nicht nur πρώται οὐσίαι, sondern wahrhaft »creatrices essentiae«. Wenn wir aber die Washeiten so nehmen, wie wir sie gefunden haben – als das reine Was der wirklichen Wesen –, so können wir eine solche höhere Wirklichkeit und eigenkräftige Wirksamkeit in ihnen nicht finden. Sie erscheinen vielmehr im Vergleich zu den wirklichen Dingen und ihren wirklichen Wesen als eigentümlich blasse und kraftlose Gebilde, sodaß wir eher geneigt sind, sie als un-wirkliche denn als ur-wirkliche Gegenstände zu bezeichnen.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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