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II. Akt und Potenz als Seinsweisen § 1. Darstellung nach »De ente et essentia«

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Die Lehre von Akt und Potenz war wie das Portal eines großen Gebäudes, das sich aus der Ferne in seiner ganzen Höhe zeigte. Schon dieser erste Blick aus der Ferne hat ein vorläufiges Verständnis dafür gegeben, daß mit diesem Begriffspaar der ganze Umfang des Seienden zu umspannen ist. Aber es ist auch schon durch eine kleine sprachliche Prüfung klar geworden, daß die Ausdrücke nicht eindeutig sind, sondern eine Mannigfaltigkeit des Sinnes umschließen. Diese Mannigfaltigkeit auseinanderzulegen und ihre innere Gesetzlichkeit zu ergründen, ist nun die Aufgabe.

Die erste Einführung in die Lehre von Akt und Potenz war dem Werke des Aquinaten entnommen, das sich am ausführlichsten mit diesen Fragen beschäftigt: den Quaestiones disputatae de potentia. Sie sind ein Werk des reifen Meisters, nach den Untersuchungen von Martin Grabmann zwischen 1265 und 1267 entstanden, etwa zur gleichen Zeit, in der er mit der Arbeit am I. Teil der Theologischen Summe, der Gotteslehre, beschäftigt war. Was in der »Summa«, die ein Lehrbuch der gesamten Theologie werden sollte, nur kurz berührt werden durfte, das konnte hier gründlich und ausführlich behandelt werden. So ist es zu verstehen, daß die Fragestellung in den Quaestiones disputatae de potentia eine vorwiegend theologische ist. Dadurch ist nicht ausgeschlossen – wie jeder Thomaskenner weiß –, daß aus ihnen eine Fülle rein philosophischer Belehrung zu gewinnen ist. Aber es ist nicht immer leicht, das philosophisch Belangvolle aus den theologischen Zusammenhängen herauszulösen. Und vor allem wird der Fernstehende, der sich über das Ineinandergreifen theologischer und philosophischer Fragen nicht klar ist, schwer die Besorgnis los, daß er sich auf einem für den Philosophen unerlaubten Boden befinde. Darum dürfte es gut sein, für die sachliche Behandlung jetzt nicht weiter den Gedanken jenes Werkes zu folgen, sondern auf das schon früher erwähnte Jugendwerk zurückzugreifen, in dem der hl. Thomas noch ganz als Schüler »des Philosophen« erscheint: das opusculum »De ente et essentia«. Freilich finden wir hier nur einen ersten Ansatz, der sich zu der ausgeführten Lehre wie ein Samenkorn zu einem großen Baum verhält. Aber gerade das kann uns vielleicht helfen, zu einem ursprünglichen sachlichen Verständnis vorzudringen.

Schon in diesem kleinen Grundriß einer Seinslehre betrachtet Thomas die Gesamtheit des Seienden als ein Stufenreich. Er unterscheidet drei Hauptstufen:

1. Stoffliche oder zusammengesetzte Dinge (aus Stoff und Form zusammengesetzte); das ist die Körperwelt – die »toten« Dinge und alle Lebewesen, der Mensch eingeschlossen.

2. Geistige oder einfache; dabei dachte Aristoteles an die Geister, durch die – nach seiner Auffassung – die Gestirne bewegt werden. Die mittelalterlichen Denker verstanden darunter die Engel. »Einfach« nannte Thomas sie, weil er sie für »reine Formen« ansah. (Die Frage, ob zum Aufbau der »reinen Geister« etwas Stoffliches nötig sei oder nicht, war zu seiner Zeit sehr umstritten.)

3. Das erste Seiende – Gott. Daß das erste Seiende, die Ursache alles anderen, völlig einfach, reines Sein, sei, darüber war man sich einig. Lehnte man nun – wie Thomas – für die geschaffenen Geister eine Zusammensetzung aus Stoff und Form ab, so mußte man ein anderes Mittel suchen, um sie von dem ersten Seienden zu unterscheiden. Thomas kommt in diesem Zusammenhang zu der Trennung von Form und Sein bei den geschaffenen Geistern. (»Form« ist bei ihnen gleichbedeutend mit »Wesen« – »essentia«). »… das Geistwesen (intelligentia) ist Form und Sein und hat sein Sein von dem ersten Seienden, das nur Sein ist, und das ist die erste Ursache, die Gott ist. Alles aber, was etwas von einem anderen empfängt, ist im Verhältnis dazu in Potenz, und das, was in ihm aufgenommen ist, ist sein Akt. Also muß die Washeit oder Form selbst, die das Geistwesen ist, im Verhältnis zu dem Sein, das es von Gott empfängt, in Potenz sein, und jenes empfangene Sein ist in der Weise des Aktes. Und so findet sich Potenz und Akt in den Geistwesen, jedoch nicht Form und Stoff … Und weil die Washeit (quidditas) des Geistwesens das Geistwesen selbst ist, darum ist seine Washeit oder sein Wesen (essentia) eben das, was es selbst ist, und sein Sein, das es von Gott empfangen hat, ist das, wodurch es in der wirklichen Welt ein selbständiges Sein hat (quo substitit in rerum natura) …« »Und da in den Geistwesen Potenz und Akt angenommen wird, kann unschwer eine Vielzahl von Geistwesen gefunden werden; das wäre unmöglich, wenn keine Potenz in ihnen wäre … Es gibt also zwischen ihnen einen Unterschied nach dem Grade von Potenz und Akt, so daß das höhere, dem ersten Sein näherstehende, mehr Aktualität und weniger Potenzialität in sich hat, und entsprechend die anderen.«

Der kleine Ausschnitt zeigt deutlich, wie eng in der Seinslehre des hl. Thomas die Begriffe »Akt« und »Potenz« mit einer Reihe von anderen aristotelischen Grundbegriffen – Form, Stoff, Substanz (= das, was »subsistiert«) usw. – zusammenhängen. Es wird daher in der Folge notwendig sein, auch auf sie einzugehen. Aber sich hier auf sie zu stützen, hieße eine Unbekannte durch andere erklären wollen. Es soll also aus der angeführten Stelle vorläufig nur das herausgelöst werden, was sich ohne Erörterung jener Begriffe zum Verständnis der Ausdrücke »Akt« und »Potenz« daraus entnehmen läßt.

Es ist bei den reinen Geistern das, was sie sind, von ihrem Sein unterschieden worden, und das Sein ist als ihr Akt bezeichnet worden. Das stimmt zusammen mit der Auffassung des ersten Seienden, das sowohl reines Sein als reiner Akt genannt wurde. Andererseits wurde gesagt, das, was das Sein empfange, sei »in Potenz« im Verhältnis zu dem Sein, das es empfange. Folgen wir dem Wortsinn von »potentia« (oder δύναμιϚ), das »Können« oder »Vermögen« besagt, so ist das »in potentia esse« ein »im Vermögen« oder »in der Möglichkeit sein« oder ein »Sein-Können«. Das, was »sein kann«, hat – wie es hier dargestellt wurde – nicht von sich aus die »Macht«, zum Sein überzugehen. Andererseits besagt sein »Sein-Können« mehr als: es sei nichts darin, was das Hinzutreten des Seins ausschließe. Vielmehr steckt in dem »in der Möglichkeit sein« schon ein Sein in doppeltem Sinne darin: einmal eine Hinordnung oder ein Hingerichtetsein auf das Sein, das als Akt angesprochen wurde. Sodann aber schon eine gewisse Art des Seins. Denn »möglich sein« heißt ja nicht einfach »nicht sein«. Wäre es nicht so, daß schon das mögliche Sein selbst eine Art des Seins wäre, so hätte es keinen Sinn, von »Graden« der »Potenzialität« zu sprechen. Wenn man nur einen, überall gleichen Sinn von »Sein« annehmen dürfte und wenn Akt und Sein schlechthin zusammenfielen, dann wäre es auch unmöglich, zu sagen, daß es etwas gebe, was mehr oder minder Akt wäre und dem ersten Sein entsprechend näher oder ferner stünde. So kommen wir dazu, Abstufungen des Seins zu unterscheiden und Akt und Potenz als Weisen des Seins zu verstehen. Der Übergang von der Potenz zum Akt oder – wie wir jetzt sagen können – vom möglichen zum wirklichen Sein ist ein Übergang von einer Seinsweise zur anderen, und zwar von einer niederen zu einer höheren. Aber auch innerhalb des möglichen und des wirklichen Seins gibt es noch Abstufungen. So wird erst die Rede von einem »reinen Akt« verständlich, und es wird klar, daß der reine Akt das höchste Sein bezeichnen muß. Aus den früheren Erwägungen ging schon hervor, daß damit der Sinn der Ausdrücke »Akt« und »Potenz« nicht erschöpft ist. Aber vorläufig wollen wir bei der gewonnenen Bedeutung stehen bleiben.

Was wir bisher erreicht haben, ist ein gewisses Verständnis der Worte. Wir verbinden jetzt mit ihnen einen bestimmt umrissenen Sinn. Haben wir aber auch schon ein ausreichendes sachliches Verständnis? Wenn der Blinde von Rot und Blau und Grün reden hört, so sind das für ihn keine sinnlosen Worte, er weiß, daß damit verschiedene Farben gemeint sind, aber er kennt die Farben nicht. Wissen wir von Akt und Potenz jetzt mehr als der Blinde von den Farben? Ein wenig wohl. Der Unterschied von Möglichkeit und Wirklichkeit ist ziemlich deutlich. Die feineren Abstufungen allerdings bereiten vielleicht schon Schwierigkeiten; und alles in allem befinden wir uns doch noch in einer großen Entfernung von dem, was mit Akt und Potenz als Stufen oder Weisen des Seins gemeint ist. Gibt es einen Weg zu größerer Sachnähe?

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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