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§ 8. Akt und Potenz – wesenhaftes Sein

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Die freie Verwendung platonischer und aristotelischer Ausdrücke in den wiedergegebenen Darlegungen Herings drängt zu einer Gegenüberstellung des hier vorliegenden Versuches der Grundlegung einer Wesenslehre mit früheren Ansätzen in der philosophia perennis. Ehe wir uns aber daran wagen, soll erst noch das, was wir jetzt als wesenhaftes Sein herausgestellt haben, in seinem Verhältnis zu Akt und Potenz in dem bisher festgehaltenen Sinn beleuchtet werden.

Wir haben im Anschluß an den Gebrauch des Wortes, den wir bei Thomas von Aquino fanden, vorläufig einen doppelten Sinn von Akt gefunden: den des vollendeten Seins (der nur beim reinen Sein ganz erfüllt ist) und den des wirklichen Seins, das Abstufungen – nach der größeren Nähe oder Entfernung zum vollendeten Sein – zuläßt. Unter Potenz verstanden wir, wenn wir von der anfangs erwähnten göttlichen Potenz, der Macht über das Sein, absehen, die Vorstufe zum wirklichen Sein, die selbst wieder Abstufungen zeigt. Sie ist nicht losgelöst vom wirklichen Sein, als nur mögliches Sein, denkbar: wir fanden ja beim endlichen Sein, daß es in jedem Augenblick wirkliches und mögliches zugleich sei. So muß auch beim wirklichen Sein von Potenzialität gesprochen werden, weil es einen immer neuen Aufstieg von der Möglichkeit zur Wirklichkeit und eine Steigerung zu höherer Seinsvollendung als möglich einschließt. Wir fanden den Gegensatz im Bereich des Werdens und Vergehens, das selbst als ein ständiger Übergang vom möglichen zum wirklichen Sein und vom Wirklichen zum Möglichen zu fassen ist: auf dem Grunde eines Überganges vom Nichtsein zum Sein, das »Möglichkeit« in einem andern Sinn voraussetzt.

Nun haben wir im wesenhaften Sein – im Sein der Wesenheiten und im Sein der Wesen und Washeiten, wenn man sie abgelöst von ihrer Verwirklichung betrachtet – ein Sein gefunden, das kein Werden und Vergehen ist und das im Gegensatz zum wirklichen Sein steht. Hat dabei Wirklichkeit denselben Sinn wie dort, wo wir das wirkliche Sein als das aktuelle im Gegensatz zum möglichen (potenziellen) faßten? Im Bereich des Ichlebens, von dem wir ausgingen, bedeutete das aktuelle Sein das gegenwärtig-lebendige, das potenzielle das noch nicht oder nicht mehr lebendige. Das hing mit der Eigentümlichkeit jenes Gebietes zusammen. Wenn aber Wirklichkeit nicht auf dieses Gebiet beschränkt sein soll – und im Sprachgebrauch des täglichen Lebens liegt es ja näher, bei der »wirklichen Welt« an die »äußere« als an die »innere« zu denken, und zwar an die äußere als eine »dingliche« Welt –, so wird Wirklichkeit noch einen andern Sinn haben müssen als den der Lebendigkeit. Ob ein innerer Zusammenhang zwischen diesem und jenem besteht und welcher, das wird später zu untersuchen sein.

In der Tat sind wir einem solchen Sinn von Wirklichkeit bereits begegnet: In der einleitenden Betrachtung fanden wir als erste Bedeutung von Akt den des Wirkens; damit ist Aktualität oder Wirklichkeit als Wirksamkeit aufgefaßt. Ein Zusammenhang zwischen diesem Sinn und dem des Voll-Lebendigen wird sogleich sichtbar: Die noch nicht lebendige Freude wird mich weder zu Taten antreiben noch sich in lautem Frohlocken nach außen »Luft machen«. Entsprechend auf andern Gebieten: Das noch nicht entzündete Licht wird nicht leuchten, die nicht schwingende Saite nicht tönen. In all diesen Fällen zeigt sich: Wirksamkeit deckt sich nicht ohne weiteres mit Wirklichkeit; sie scheint dazu zu gehören, aber sie gründet in etwas Tieferliegendem als dessen Auswirkung. Dieses Tieferliegende ist das, was wir auch als das vollendete Sein bezeichnet haben. Schlechthin vollendet – so mußten wir sagen – ist allerdings nur das reine, das ewige Sein. Aber auch beim endlichen Sein hat es einen Sinn, von Vollendung zu sprechen: es ist das dem jeweiligen Seienden entsprechende Höchstmaß des Seins. Auf dieser Höhe bricht das Sein gleichsam in Wirksamkeit aus, es geht aus sich heraus, und das ist zugleich seine »Offenbarung«. Ehe diese Höhe erreicht ist, schließt die entsprechende Vorstufe des Seins, die Potenz, nur die Möglichkeit des Wirkens ein, die als Fähigkeit bezeichnet wird. Die gegenwärtige Lebendigkeit ist die Seinshöhe der Erlebniseinheit. Das in ihr eigentlich Lebendige und eigentlich Seiende ist das Ich. Das, was in der dinglichen Welt den Erlebniseinheiten entspricht, sind dingliche Zustände oder Vorgänge, z. B. die möglichen oder wirklichen Töne einer Saite. Der Ton erreicht die Seinshöhe, die der gegenwärtigen Lebendigkeit, etwa der Freude, entspricht, wenn er »laut wird«. Aber das, was – in ihm – eigentlich »laut wird« und darin eine Höhe seines Seins offenbart, ist die Saite oder – noch genauer – die Geige, deren Teil die Saite ist, eine Höhe seines Seins, denn das Tönendsein ist nicht das Sein der Saite schlechthin. Das Sein der Saite erschöpft sich nicht im Tönen. Darum kann sie als tönende potenziell und in anderer Hinsicht »auf der Höhe« sein, also doch als »wirklich« angesprochen werden.

Nehmen wir nun Aktualität als Wirklichkeit und Wirklichkeit als Seinsvollendung, die sich in Wirksamkeit »auswirkt« und offenbart, so ist weiter zu fragen, ob mit dem wirklichen Sein und seinen Vorstufen (dem aktuellen und potenziellen Sein) alles Sein überhaupt getroffen ist oder ob noch in anderm Sinn von Sein gesprochen werden könne und müsse; ferner, worin dann die Gemeinsamkeit des Seine als solchen hier und dort bestehe.

In dem wesenhaften Sein glaubten wir ein Sein zu entdecken, das nicht Vorstufe zum wirklichen Sein, andererseits aber kein wirksames Sein ist. Für die Wesenheit gibt es keine Vorstufe, von der sie zum Sein emporsteigt. Aber sie ist nicht wirksam: die Wesenheit »Freude« belebt nicht, die Wesenheit »Licht« leuchtet nicht, die Wesenheit »Ton« tönt nicht. Was bleibt dann noch von dem Sinn von Sein übrig? Das »auf der Höhe sein«, in seinem Wesen »vollendet sein«; der so schwer zu übersetzende griechische Ausdruck τὸ τί ἦν εἶναι (das, was war, sein) scheint mir hier eine reine Erfüllung zu finden. Was wesenhaft ist, das ist in Unwandelbarkeit das, was es war. Genauer gesagt: der Unterschied von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ist hier aufgehoben. Was wesenhaft ist, tritt nicht ins Dasein, es »ist«, nicht als von Augenblick zu Augenblick dem Nichts Entrissenes, nicht zeitlich. Aber weil es unabhängig von der Zeit ist, ist es auch in jedem Augenblick. Das Sein der Wesenheit und Washeit ist Ruhen in sich selbst. Darum wäre es im Deutschen am kürzesten und treffendsten mit »wesen« bezeichnet. Darin ist noch eindrucksvoller als in dem lateinischen »essentia« – »esse« die enge Zusammengehörigkeit von Sein und Wesen ausgedrückt. Werden und Vergehen einerseits, »wesen« anderseits stehen einander gegenüber als bewegtes und ruhendes Sein. Beides ist Sein. Wenn aber eins sachlich dem andern vorausgeht, so ist es das »wesen«. Denn wie Bewegung auf Ruhe zielt, so hat alles Werden ein »wesen« zum Ziel. Damit etwas sein und etwas sein könne, ist Wesen und »wesen« erforderlich. Aus dem nahen Zusammenhang von Wesen und Sein wird es verständlich, daß es so große Schwierigkeiten gemacht hat und daß man so spät dazu kam, das Seiende und das Sein oder innerhalb des Seienden, sofern dies kein Wirkliches war, Wesen und Sein voneinander zu trennen. Ebenso wird verständlich, daß man – scheinbar widerspruchsvoll – bald das Sein selbst, bald das Wesen als Akt bezeichnet hat. Wenn der hl. Thomas – geleitet von dem Bestreben, das erste Seiende (Gott) von allem andern Seienden in aller Klarheit und Schärfe abzugrenzen – bei den »reinen« Formen essentia und esse voneinander trennte, das Sein als Akt bezeichnete und das Wesen oder Was, im Verhältnis zu dem Sein, das es empfängt, potenziell nannte, dann müssen wir jetzt fragen, in welchem Sinn dies Sein, das zum Wesenswas hinzukommt, zu verstehen ist. Unsere Kennzeichnung des »wesens« als Ruhen der Wesenheit oder Washeit in sich selbst, als Gegensatz zum Werden und Vergehen scheint einen Übergang der Wesenheit oder Washeit vom Nichtsein zum Sein – wie er in dem Ausdruck »Empfangen des Seins« liegt – auszuschließen. Wir können wohl von einem Empfangen des Seins sprechen, wenn wir an die »Verwirklichung des Wesens« denken, aber das wesenhafte Sein scheint keinen Anfang, das Wesenswas keine Trennung von diesem seinem wesenhaften Sein zuzulassen. Steht es dazu im Widerspruch, wenn der hl. Thomas sagt: »Von der Washeit heißt es, daß sie geschaffen werde; denn ehe sie ein Sein hat, ist sie nichts außer im Geist des Schöpfers, und dort ist sie nicht als Geschöpf, sondern als schöpferische Wesenheit«? (Quidditas creari dicitur: quia antequam esse habeat, nihil est nisi forte in intellectu creantis, ubi non est creatura, sed creatrix essentia.) Wenn wir uns den Sinn dieses Satzes klar zu machen suchen und dabei bedenken, was Thomas unter »Washeit« versteht, dann ergibt er wohl eher eine Bestätigung der hier entwickelten Auffassung. Die Washeit ist das, wozu ein Ding geformt wird, das, was es ist, »ein Teil des zusammengesetzten Ganzen«. Sie wird auch »Form« genannt. Davon unterscheidet Thomas die »Idee« im Sinne dessen, was er an der eben angeführten Stelle »schöpferische Wesenheit« nannte; »denn dieser Name Idee scheint eine von dem, dessen Form sie ist, getrennte Form zu bedeuten«. »Sie ist das, wonach es geformt wird; und dies ist die exemplarische Form, zu deren Abbild etwas gestaltet wird«. Diese exemplarischen Formen haben nach der augustinischen Deutung der platonischen Ideenlehre, der Thomas hier folgt, ihr Sein im göttlichen Geist. Von ihnen unterschieden sind die »geschaffenen Formen«, die ihr Sein in den Dingen haben. Unter den geschaffenen Formen haben wir offenbar die in den Dingen »verwirklichten« Wesen zu verstehen. Das Sein, das sie empfangen, ist das wirkliche Sein, das sie in den Dingen haben. Das »Geschaffenwerden« ist eine nähere Deutung dessen, was wir unter »Empfangen des Seins« zu verstehen haben. Aber wenn die Rede vom Empfangen des Seins einen Sinn haben soll, so muß das, was das Sein empfängt, schon vor dem Empfangen des wirklichen Seins eine Art des Seins haben. Thomas könnte das wohl nur in dem Sinn zugeben, in dem er den urbildlichen Ideen ein Sein zugesteht: als Sein im göttlichen Geist. In dem Sinn aber müßte er es zugeben. Denn selbst wenn man annimmt, daß das Abbild hinter dem Urbild zurückbleibt, daß das Was des Dinges mit der schöpferischen Idee inhaltlich nicht in Deckung ist, so ist es doch undenkbar, daß der Schöpfer das Abbild, so wie es ist, mit seinem Zurückbleiben hinter dem Urbild nicht schon voraus erkannt hätte.

So ist es jedenfalls klar, daß das wesenhafte Sein vom wirklichen Sein der Dinge unterschieden und unabhängig ist. Die weiteren Fragen sind, in welchem Verhältnis es zu dem wirklichen Sein der Dinge steht und in welchem Verhältnis zu dem ewigen Sein des ersten Seienden. Dafür wird die Frage zu prüfen sein, was das »im göttlichen Geist sein« bedeutet, ob es den Sinn des wesenhaften Seins trifft und ob es ihn erschöpft.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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