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§ 11. Abwehr von Mißdeutungen des »wesenhaften Seins«

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Angesichts der beharrlichen Mißdeutungen, wie sie die phänomenologische Wesenslehre von den verschiedensten Seiten – auch von der Scholastik her – erfahren hat, dürfte es gut sein, ausdrücklich festzustellen, was mit dieser Wesenslehre, soweit wir sie hier entwickelt haben, gemeint und was nicht gemeint ist. In dem Gesagten ist ausgesprochen, daß nichts Zeitliches, nichts, dessen Sein von Augenblick zu Augenblick ein Werden und Vergehen ist, möglich ist ohne einen der Zeit enthobenen Grund: ohne eine zeitlose »Gestalt«, die den eigentümlichen Verlauf des jeweiligen zeitlichen Geschehens regelt und damit in der Zeit wirklich wird. Wir gingen dabei von dem zeitlichen Geschehen aus, das wir als unser eigenes Sein vorfinden, und verstanden unter den zeitlosen Gestalten den Sinngehalt unseres Erlebens. Darum ist unsern Feststellungen zu entnehmen – obgleich wir diese Linie hier nicht verfolgen –, daß auch kein zeitliches Erkennen und kein Erkennen von Zeitlich-Wirklichem möglich ist, das nicht zugleich Erkenntnis eines zeitlosen Sinnes und nur dadurch als Erkennen überhaupt möglich wäre. Es ist nicht ausgesprochen, daß wir Menschen zur Erkenntnis eines zeitlosen Sinnes unabhängig von seiner zeitlichen Verwirklichung und von sinnlicher Gegebenheit fähig waren. Um diese Frage in Angriff nehmen zu können, müßten wir untersuchen, was mit sinnlicher Gegebenheit überhaupt gemeint ist und was damit dort gemeint sein könnte, wo es sich nicht um ein Wahrnehmen äußerer Dinge, sondern um das zu unserm Sein selbst gehörige Bewußtsein handelt. Aber die Frage ist in unsern Überlegungen überhaupt nicht angeschnitten worden, und es ist darüber auch noch nichts vorweg entschieden. Wenn wir »Wesenserkenntnis«, als Erfassen eines zeitlosen Sinnes verstanden, als Bedingung der Möglichkeit alles Erkennens überhaupt in Anspruch nehmen müssen, so ist damit nicht gesagt, daß diese Wesenserkenntnis für zeitlich erkennende Geschöpfe, wie wir Menschen es sind (unser Erkennen gehört ja zu unserm zeitlichen Sein), losgelöst von der Erkenntnis von Zeitlichem möglich wäre. Es ist damit also keineswegs dem Menschen ein Erkennen nach der Art des göttlichen zugesprochen.

Es wird auch nicht behauptet, daß wir Menschen natürlicherweise imstande seien, rein geistige Wesen (Gott oder die Engel) unmittelbar zu erkennen, d. h. ohne Zuhilfenahme der Erfahrung von Zeitlich-Wirklichem. Nur soviel ist dem Gesagten zu entnehmen: Wenn wir von »Gott« oder von »Engeln« sprechen und mit diesen Namen einen Sinn verbinden, so ist der Sinn etwas Zeitloses. Wir meinen mit den Namen etwas, sie bedeuten etwas; verschiedene Namen etwas Verschiedenes. Und wenn es »echte« Sinneinheiten sind, keine willkürlichen Erzeugnisse eines spielenden »Denkens«, so sind sie etwas von uns Vorgefundenes, von uns Entdecktes oder uns Geschenktes, was unserer Begriffsbildung und Namengebung Gesetze vorschreibt. Wo und auf welche Weise es »vorgefunden« wird, das sind weitere Fragen. Jedenfalls handelt es sich um etwas, was weder zeitlich-wirklich noch »bloß gedacht« ist. Und dieses ist es, was wir als »wesenhaft Seiendes« bezeichnen.

Wenn wir auch zunächst innerhalb des eigenen Seins den zeitlichen Fluß des Lebens und die ihn gestaltenden Sinneinheiten unterschieden haben, so gilt doch dasselbe von allem zeitlichen Sein, d. h. von der ganzen Welt unserer inneren und äußeren Erfahrung. Was wir meinen, wenn wir von »Dingen« sprechen, ist etwas, was entsteht und vergeht, aber in seinem Entstehen und Vergehen einen zeitlosen Sinn verkörpert. Wenn wir demnach auch in der Welt unserer Erfahrung ein fließendes »Was« und einen diesen Fluß beherrschenden »Wesensbau« unterscheiden, wenn wir unsere »Erfahrung« als von Wesenserkenntnis »bedingt und durchseelt« ansehen, so ist damit nicht gesagt, daß wir die Dinge erkennen, wie sie »an sich« und unabhängig von unserer Erfahrung sind, daß wir ihnen »bis auf den letzten Grund« sehen. Doch wenn wir auch feststellen müßten, daß wir der Dinge nur durch »Erscheinungen« habhaft werden können, die nicht nur durch die Dinge selbst, sondern durch die Gesetze unseres Erkennens bestimmt sind, so wäre doch die »Erscheinungsgegebenheit« und die Zuordnung des erkennenden Geistes und der erkannten Welt (die »Subjekt-Objekt-Beziehung«) wiederum etwas, was Wesensgesetzen untersteht und gar nicht anders zu fassen ist. Die Möglichkeit, Geschöpfen von unserer Geistesverfassung zu »erscheinen«, kann nur aus dem »Wesen« der Dinge und dem Wesen unseres Geistes verstanden werden. Alles, was darüber gesagt wird, beruht auf der Voraussetzung einer Wesenserkenntnis in unserm Sinn. Dadurch ist keineswegs ausgeschlossen, daß wir zum Wesen Gottes und der Engel, zum Wesen der Dinge und vielleicht sogar zu unserm eigenen Wesen keinen unmittelbaren Zugang haben (auch der Sinn von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit wäre noch zu klären) und daß unsere Wesenserkenntnis niemals erschöpfend, sondern immer nur »Stückwerk« sein kann. Aber um all diese Fragen – nach Art und Reichweite unserer Erkenntnis und nach ihrem natürlichen Gegenstand – geht es uns jetzt nicht. Nach dem Sein haben wir gefragt und sind auf den Gegensatz des zeitlich-wirklichen und des wesenhaften Seins gestoßen. Hier aber ergibt sich für uns eine Schwierigkeit.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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