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§ 6. Wirkliches und wesenhaftes Sein

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Die Rede vom »Wirklich-werden-können« oder von wirklichen und möglichen Einzeldingen bringt uns wieder auf die Frage des wirklichen und möglichen (aktuellen und potenziellen) Seins. Das, was ist, hat nun für uns einen mehrfachen Sinn bekommen. Es kann darunter einmal der Gegenstand mit seinem vollen Was verstanden werden, mit seinem wesentlichen und außerwesentlichen Sosein; sodann das volle Was für sich genommen oder auch das, was der Gegenstand seinem individuellen Wesen oder dem allgemeinen Wesen nach ist. Dabei kommen noch verschiedene Stufen der Allgemeinheit in Betracht: das Wesen der Freude, das Wesen der Gemütsbewegung, das Wesen des Erlebnisses. Wir wollen jetzt die Frage des »Gegenstandes« als solchen ausschalten und nur sein »Was« in den verschiedenen möglichen Bedeutungen auf das Verhältnis zum Sein hin betrachten. Gehen wir von dem Erlebnis »diese meine Freude« aus, so müssen wir, um sein volles Was zu fassen, die ganze Dauer seines Aufstiegs zum Sein nehmen. Dieses Was ist kein Starres und Festes, sondern ein während dieser Dauer ständig Fließendes, sich Veränderndes. Es wird und vergeht, und sein Sein ist nicht ein schlechthin aktuelles und nicht ein schlechthin potenzielles, sondern in jedem Augenblick beides, in jedem Augenblick erreicht etwas davon die Seinshöhe. Das Wesen und Wesenswas dieser meiner Freude ist in jedem Augenblick ihrer Dauer als Ganzes wirklich. (Daran kommt sehr deutlich der Unterschied zwischen dem vollen Was und dem Wesenswas zur Abhebung.) Das gilt uneingeschränkt, wenn das Wesen während der ganzen Dauer unverändert bleibt (in unserem Fall: solange die Freude »dieselbe« bleibt). Zu fragen ist für diesen Fall, welches Sein zum Wesen vor dem Beginn der Freude und nach ihrem Ablauf gehöre. Sicherlich ist das Wesen dieser meiner Freude nur so lange verwirklicht, wie die Freude wirklich ist. Vorher hat es kein Sein in der »wirklichen Welt«, in diesem Fall in der Erlebniswirklichkeit eines Ich. Dennoch können wir nicht sagen, daß es vorher nicht sei. Wir können ja sein Was unabhängig von seiner Verwirklichung in seinem Gegenstand fassen, und so muß dem Was – gemäß unserem Satz, daß alles, was Etwas ist, auch ist – auch eine Art des Seins zukommen. Es ist nicht dieselbe Art des Seins, die es als in seinem Gegenstand wirkliches hat. Weil durch dieses sein Sein, das dem seines Gegenstandes vorausgeht, und das noch nicht verwirklichte WasSein (= Wesen) dieses Gegenstandes das »wirkliche« Sein möglich wird, kann man Was und Wesen selbst als möglich bezeichnen, wie es der hl. Thomas getan hat. Aber das besagt mehr als die logische Möglichkeit, daß es in einem Gegenstand wirklich werden kann, und auch mehr als die niedere Vorstufe zum wirklichen Sein, die wir als Potenz bezeichneten. Wir sprechen von »Wesensmöglichkeit«. Das ist aber nicht eigentlich die Möglichkeit des Wesens, sondern die in ihm begründete Möglichkeit seiner Verwirklichung. Das Wesen schließt in sich ein eigenes Sein, das nicht nur als ein Weg zur Wirklichkeit als zu seinem Ziel zu verstehen ist, sein wesenhaftes Sein. Vorstufe ist es allerdings, weil das wirkliche Sein nur von ihm aus zu erreichen ist; außerdem, weil das Wesen etwas Unselbständiges und Ergänzungsbedürftiges ist und weil zu ihm die Möglichkeit des Eingehens in die Gegenstandswirklichkeit gehört. Es ist aber nicht als niedere Vorstufe zu bezeichnen, weil der Gegenstand – in einem gewissen Sinn – durch das Wesen wirklich wird und nicht umgekehrt; es ist in dem Wirklichen das grundlegend Wirkliche. Von daher wird es uns verständlich werden, daß der Name Akt vom wirklichen Sein auf das, wodurch ein Wirkliches wirklich ist, übertragen wurde.

Wir haben den Ausdruck wesenhaftes Sein früher für das Sein der Wesenheiten gebraucht. Wenn er sich jetzt auch für das im Wesen inbegriffene Sein aufdrängt, so muß geprüft werden, ob er hier und dort im selben Sinn gebraucht wird. Es scheint mir in der Tat zu dem eigentümlichen Verhältnis der Wesen zu den Wesenheiten zu gehören, daß ihre Seinsweisen nahe zusammengehören. Für die Wesenheiten, soweit wir sie bisher kennen gelernt haben, ist das wesenhafte Sein das einzige Sein. Für die Wesen dagegen ist außerdem das Wirklichsein in ihren Gegenständen möglich, und die Beziehung auf Gegenstände, deren Was sie bestimmen, liegt schon in ihrem vorwirklichen Sein. Dieses doppelte Sein entspricht der vermittelnden Stellung der Wesen zwischen den Wesenheiten und der »wirklichen Welt«. Die Welt des wesenhaften Seins ist als ein Stufenreich zu denken. Das Einfache und »Urbildliche« höchster Stufe sind darin die Wesenheiten. Ihnen sind »nachgebildet« die Wesenszüge der zusammengesetzten Gebilde, die wir »Wesenswas« nennen. (Wir können dafür auch den Ausdruck Washeit [quidditas] einführen, weil wir zu »Was« keine Pluralform bilden können. Ganz treffend ist der Ausdruck nicht, weil das »heit« ja auf das Wassein deutet. Er soll uns darum nur als Notbehelf dienen.) Die Wesen und Washeiten zeigen eine Abstufung nach größerer und geringerer Allgemeinheit. Man wird geneigt sein, als niederste Stufe die individuellen Washeiten anzusehen. Es ist aber auch das volle Was der Dinge in dieses Gebiet einzubeziehen, sofern auch ihm ein doppeltes Sein zukommt: das vorhin geschilderte Sein in den Gegenständen, das ein Werden und Vergehen ist, und ein davon abhebbares Sein als reines Was, das dem Wechsel von Werden und Vergehen enthoben ist. Ihrem wesenhaften Sein nach sind die Gebilde verschiedener Stufe voneinander getrennt und nur in der Weise der Über-, Unter- und Nebenordnung aufeinander bezogen. Ihrem wirklichen Sein nach aber sind die Wesen und Washeiten höherer Stufe in den ihnen untergeordneten weniger allgemeinen, letztlich in den individuellen Wesen und den zugehörigen Gegenständen mit ihrem vollen Was.

Wir sind auf die Scheidung des wesenhaften und des wirklichen Seins bei den individuellen Wesen gestoßen, die während der Dauer ihrer Verwirklichung unverändert beharren. Es gilt nun noch den als möglich aufgewiesenen Fall veränderlicher Wesen zu prüfen. Ein Mensch, den wir im Jünglingsalter gekannt haben, ist nun zum Mann herangereift. Wir finden, daß sein Wesen sich verändert hat. Wie ist das mit der Feststellung zu vereinen, daß das Wesen und Wesenswas – im Gegensatz zum vollen Was – während der ganzen Dauer seiner Verwirklichung wirklich sei? Als einfachste Lösung erscheint es, von zwei Wesen zu sprechen, die eines nach dem andern in dem Menschen wirklich werden. In der Tat werden wir dem wesenhaften Sein nach das, was vor der Veränderung war, von dem, was nachher ist, als ein anderes unterscheiden müssen. Wir müssen aber außerdem ein drittes voraussetzen, das die beiden andern und den Übergang von einem zum andern umfaßt und begründet, denn dieser Übergang ist ein wesensmöglicher. Von dem umfassenden und begründenden Wesen wird man sagen müssen, daß es während der ganzen Lebensdauer in jedem Augenblick wirklich sei, die Teilwesen dagegen nur während der ihnen entsprechenden Dauerabschnitte.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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