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§ 2. Wesenheit (eidos) und wesenhaftes Sein
ОглавлениеAn der einfachen Seinstatsache, von der wir ausgingen, schieden wir anfangs die geistige Regung, in der ich meines Seins inne werde, das Ich und das Sein selbst. Bei näherer Betrachtung mußte das Sein des Ich noch von dem seiner geistigen Regung oder der Erlebniseinheit unterschieden werden: das lebendig-wirkliche Sein des Ich, das von Augenblick zu Augenblick aus verborgenen Quellen erneuert wird, und das Sein der in seinem Leben erwachsenden Erlebniseinheit, das ein Werden und Vergehen ist, ein Aufsteigen zur Höhe des Lebendig-Wirklichen, dem sofort das Absteigen folgt.
Damit ist aber die Erlebniseinheit noch nicht genügend gekennzeichnet. Von dem Werden und Vergehen muß das unterschieden werden, was wird und vergeht und, nachdem es geworden ist, trotz seiner Vergangenheit immer noch in gewisser Weise ist. Es wurde festgestellt, daß die Einheit eines Erlebnisses und seine Abgrenzung gegenüber andern (nicht allein, aber doch wesentlich) durch seinen Gehalt bedingt ist: die Freude am Gelingen einer Arbeit ist etwas anderes als das Arbeiten selbst; beides kann zeitlich aufeinanderfolgen, aber auch, wenn ich arbeite und mich gleichzeitig des Gelingens freue, ist beides von einander abgehoben. Meine Freude – diese Freude, die ich eben fühle – entsteht und vergeht: die Freude als solche entsteht nicht und vergeht nicht. Es ist hier noch Verschiedenes zu unterscheiden. Ich kann die Freude genau so nehmen, wie ich sie erlebe, das volle unverkürzte Was meines Erlebnisses: dazu gehört, daß es Freude am Gelingen der Arbeit ist, daß es eine herzliche, eine dankbare Freude ist usw. Oder ich kann die Freude als solche nehmen. Für sie ist es gleichgültig, woran ich mich freue, welcher Art die Freude ist, ob sie lange oder kurz dauert, auch ob es meine oder eines andern Menschen Freude ist. Wir stoßen hier auf eines jener Gebilde, die Plato mit seinen »Ideen« (ἰδέα, εἶδοϚ) im Auge hatte: das »Schöne an sich«, durch das alle schönen Dinge schön sind, das »Gerechte an sich«, durch das alle gerechten Handlungen gerecht sind, usw. Aristoteles hat das selbständige Sein der »Ideen« entschieden geleugnet und es in immer erneuten Bemühungen als unmöglich zu erweisen gesucht, aber mit anderer Deutung ihrer Seinsweise und ihres Verhältnisses zu den Dingen hat er sie doch – unter dem Namen eidos (Urbild) oder morphä (Form) – übernommen. Wir wollen für diese Gebilde nicht den viel umstrittenen und vieldeutigen Namen »Idee« gebrauchen, sondern den phänomenologischen Ausdruck »Wesenheit«. Es gibt viele Erlebnisse der Freude: verschieden durch das Ich, das sie erlebt, durch ihren Gegenstand, durch ihre zeitliche Bestimmtheit und Dauer und noch manches andere. Die Wesenheit Freude ist eine. Sie ist nicht meine oder deine, sie ist nicht jetzt oder später, sie dauert nicht lang oder kurz. Sie hat kein Sein in Raum und Zeit. Aber wo und wann immer Freude erlebt wird, da ist die Wesenheit Freude verwirklicht. Durch sie sind alle Freudenerlebnisse als das, was sie sind, bestimmt, ihr verdanken sie ihren Namen. Was besagt das »verwirklicht«? Wenn nirgends in der Welt Freude erlebt wird, gibt es dann auch die Wesenheit Freude nicht? »Es gibt« sie nicht so, wie es erlebte Freude gibt. Aber es könnte keine erlebte Freude geben, wenn nicht die Wesenheit Freude zuvor schon wäre. Sie ist das, was alle erlebte Freude möglich macht. Das »Zuvor« besagt nicht, daß sie in der Zeit vorausginge. Sie ist ja überhaupt nicht in der Zeit. Darum ist sie auch nicht potenziell in dem Sinn, in dem es die noch nicht vollebendige Freude ist. Das Sein der Wesenheit ist keine niedere Vorstufe des wirklichen Seins. Hering sagt von ihr: »Wir meinen … etwas, was in sich völlig frei ist von einer Beziehung auf Gegenstände, etwas, was, ,ist, was es ist‹, mag es überhaupt reale und ideale Welten von Gegenständen geben oder nicht. Wir können sie denken ohne die Welt. Sie sind nicht … bedürftig eines Trägers, sondern … selbständig und in sich ruhend.« Sie »gehört in eine völlig andere Sphäre als in die der Gegenstände. Gleichwohl tritt sie in Beziehung zu diesen. Wir sagen, es gebe Gegenstände, die an ihr teilhätten, und umgekehrt – nicht ganz korrekt –, sie könne sich an den Gegenständen realisieren.« »Gäbe es keine Wesenheiten, so gäbe es auch keine Gegenstände. Es sind die letzten Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände und ihrer selbst.« »Die Wesenheit oder das eidos … findet nicht wie der Gegenstand ihr Dasein durch Teilhaben (metexis) an etwas außer ihr, welches ihr Wesen verleihen würde, so wie sie selbst dem Gegenstande, sondern sie schreibt sich selbst, wenn man so sagen darf, ihr Wesen vor. Die Bedingungen ihrer Möglichkeit liegen nicht außer ihr, sondern voll und ganz in ihr selbst. Sie ist, und sie allein, eine πρώτη οὐσία.« Manches von dem Gesagten, besonders der letzte Satz, schießt über das Ziel hinaus. Als er niedergeschrieben wurde, war es dem Verfasser wohl nur darum zu tun, das Verhältnis der Wesenheiten zu endlichen Gegenständen festzustellen. Ich glaube nicht, daß er an eine Gegenüberstellung der Wesenheit und des »ersten Seienden« – in dem Sinn, in dem dieser Ausdruck in unserm Zusammenhang gebraucht wurde und in dem er bei Aristoteles und in der Scholastik üblich war – gedacht hat. Das Verhältnis von diesem und jenem »ersten Seienden« klarzustellen, war ja das große Anliegen der christlichen Platoniker, die sich vor die Aufgabe gestellt sahen, die Gottesidee ihres Glaubens mit der platonischen Ideenlehre in Einklang zu bringen. Und nur im Zusammenhang mit dem Verhältnis des »Schöpfers« zu den »Ideen« kann das Verhältnis der »Ideen« zur »Welt« letztlich geklärt werden. Es ist hier nicht der Ort, diese Frage anzuschneiden. Unser Verfahren schreibt uns vor, das Sein zunächst einmal so weit zu klären, wie es innerhalb des uns unmittelbar nahen und von uns untrennbaren Seinsgebiets, des Ichlebens, möglich ist. Wir sind in diesem Gebiet auf ein Seiendes gestoßen, das dem Fluß des Ichlebens entzogen und für ihn vorausgesetzt ist: auf die Erlebnis-Wesenheiten. Im Verhältnis zu den Erlebnis-Einheiten, die werden und vergehen, sind sie in der Tat ein »erstes Seiendes«. Das Ichleben wäre ein unentwirrbares Chaos, in dem nichts unterschieden werden könnte, wenn in ihm nicht Wesenheiten »verwirklicht« würden; durch sie kommt Einheit und Mannigfaltigkeit, Gliederung und Ordnung, Sinn und Verstehbarkeit hinein. Sinn und Verstehbarkeit – ja wir stehen hier geradezu an der Urquelle des Sinnes und der Verstehbarkeit. »Sinn« – λόγοϚ – was besagt das Wort? Wir können es nicht sagen und nicht erklären, weil es alles Sagens und Erklärens letzter Grund ist. Daß Worte einen Sinn haben, liegt allem Sprechen zu Grunde. Daß man mit allem Fragen und Begründen auf einen letzten in sich verstehbaren Grund kommt, ist Voraussetzung alles Erklärens und Begründens. Der letzte Grund ist der in sich und aus sich verstehbare Sinn. Sinn und Verstehen gehören zueinander. Sinn ist das, was verstanden werden kann, und Verstehen ist Sinn-erfassen. Das Verstehbare (intelligibile) zu verstehen (intelligere) ist das eigentlichste Sein des Geistes, der von daher den Namen Verstand (intellectus) bekommen hat. Als »logisch« oder »rational« verfahrender geht er den »Sinnzusammenhängen« nach. »Ratio« (logisches Verfahren) ist Ableitung von Sinn aus Sinn oder Rückführung von Sinn auf Sinn. In dem Letzten, das nicht mehr ableitbar und nicht mehr rückführbar ist, kommt der Verstand zur Ruhe. Hering sagt von den echten Wesenheiten, sie seien das einzige, »was einer restlosen Verständlichmachung aus sich selbst heraus fähig ist« und dessen »Kenntnis uns allein in den Stand setzt, alles, was es gibt, nicht nur festzustellen, sondern auch zu verstehen«. Sie stellen eine sachhaltige Mannigfaltigkeit dar. Es gibt abgeleitete Wesenheiten, die auf einfachere zurückweisen und aus diesen verständlich zu machen sind (z. B. »Bittersüß«). Aber die letzten einfachen Wesenheiten sind nicht mehr auseinander ableitbar. Im Bereich des Bewußtseins bezeichnen die Namen der unterschiedenen Erlebnisgehalte solche einfachen Wesenheiten: z. B. Trauer, Freude, Schmerz, Lust, aber auch Bewußtsein, Erlebnis, Ich. Die Wesenheiten dürfen natürlich nicht mit dem nach ihnen genannten Wirklichen verwechselt werden. Die Wesenheit Ich ist kein lebendiges Ich und die Wesenheit Freude keine erlebte Freude. Größer vielleicht ist die Gefahr, daß man Wesenheit als »Begriff« zu deuten sucht. Das wäre ein großes Mißverständnis. Begriffe »bilden« wir, indem wir an einem Gegenstand »Merkmale« zur Abhebung bringen. Wir haben darin eine gewisse Freiheit: Wesenheiten bilden wir nicht, sondern finden sie vor. Wir haben darin keinerlei Freiheit: es steht wohl in unserer Hand zu suchen, aber nicht zu finden. Und an den letzten Wesenheiten können wir, weil sie einfach sind, auch nichts zur Abhebung bringen. Sie können darum auch nicht »definiert« werden, wie Begriffe definiert werden. Die Worte, die man verwendet, um zu ihnen hinzuführen, haben – wie Max Scheler zu sagen pflegte – nur die Bedeutung eines Zeigestabes: Sieh selbst hin, dann wirst du verstehen, was ich meine. »Ich«, »Leben«, »Freude« – wer könnte verstehen, was die Worte bedeuten, wenn er es nicht in sich selbst erfahren hätte? Aber wenn er es in sich erfahren hat, dann kennt er nicht nur sein Ich, sein Leben und seine Freude, sondern er versteht auch, was Ich, Leben, Freude überhaupt sind; und nur weil er das versteht, kann er sein Ich, sein Leben, seine Freude als Ich, Leben Freude erkennen und begreifen. Es sind viele neue Fragen damit aufgerührt. Doch wir müssen bemüht sein, dem Faden zu folgen, der uns bisher geleitet hat.
Die Erlebnis-Wesenheiten sind keine Erlebnisse, sie sind für die Erlebniseinheiten vorausgesetzt. Welcher Art ist ihr Sein? Es ist kein Werden und Vergehen wie das der Erlebnisse, auch keine von Augenblick zu Augenblick neu empfangene Lebendigkeit wie das des Ich. Es ist ein wandelloses und zeitloses Sein. Also das ewige Sein des ersten Seienden? In der Tat beschreibt Plato das Sein seiner »Ideen« mit denselben Ausdrücken, die später von den christlichen Philosophen für die Schilderung des göttlichen Seins verwendet wurden, und auch Aristoteles ist zu keiner klaren Scheidung zwischen dem göttlichen Sein und dem der unveränderlichen Wesen (dabei dachte er allerdings nicht an die Ideen, sondern an Geistwesen) gelangt. Erst die christlichen Denker haben sich darum bemüht, beides zu trennen und das wechselseitige Verhältnis zu ergründen. Tatsächlich ist ein großer Unterschied zwischen dem ersten Sein, in dem wir den Urheber alles andern Seins sehen, und dem Sein der Wesenheiten. Das erste Sein ist das vollendete, und das heißt nicht nur: das wandellose, das nicht wird und vergeht, sondern das unendliche und alle Fülle und Lebendigkeit in sich schließende. In dieser Weise vollendet ist das Sein der Wesenheiten nicht. Sein Vorzug vor dem der wirklichen Erlebniseinheiten ist, daß es, der Zeit enthoben, auf gleicher Höhe wandellos beharrend und ruhend ist. Aber es ist kein »lebendiges«, sondern erscheint als ein totes und starres, wenn man die einzelne Sinneseinheit als begrenzte und für sich bestehende nimmt. Das ist der Einwand, der schon gegen die platonische Ideenlehre erhoben wurde. Wie kommt es zu ihrer »Verwirklichung« und zur »Teilnahme« an ihnen – was »bringt sie in Bewegung«? Daß in mir eine wirkliche Freude auflebt, das ist nicht der Wesenheit Freude zuzuschreiben, und daß ich lebe, nicht der Wesenheit Ich. Wir rühren hier an den Zusammenhang von Wirklichkeit und Wirksamkeit, der uns – sobald wir ihm nachgehen – einen neuen Sinn des Wortes »Akt« erschließen wird. Das Sein der begrenzten und gesonderten Wesenheiten ist unwirksames und darum auch unwirkliches Sein. Das erste Seiende aber ist daß ur-wirksame und ur-wirkliche. Das Sein der Wesenheit ist aber auch kein potenzielles, wenn wir darunter eine Vorstufe des wirklichen Seins verstehen. Wenn es auch nicht schlechthin vollendet, weil nicht alle Fülle des Seins in sich bergend, ist, so ist es doch auf seine Weise vollendet, weil es keine Steigerung über sich hinaus (ebensowenig eine Minderung) erfahren kann. Es ist Bedingung der Möglichkeit des wirklichen Seins und seiner Vorstufen, des aktuellen und des potenziellen. Die »Verwirklichung« der Wesenheit besagt nicht, daß sie wirklich wird, sondern daß etwas wirklich wird, was ihr entspricht. Die Möglichkeit des wirklichen Seins ist in ihrem Sein begründet. Darum ist es nicht etwa möglich, ihr unwirkliches Sein Nichtsein zu nennen. Was für ein anderes Bedingung des Seins ist, das muß selbst ein Sein haben. Ja, schon weil es etwas ist, muß es auch sein. Nur, was nichts ist, ist nicht. Aber welcher Art ist dieses Sein? Wir wollen es – im Gegensatz zum wirklichen – wesenhaftes nennen und uns vorläufig damit begnügen, es durch diesen Gegensatz zu kennzeichnen. Um es in seiner Eigenart zu fassen, wird es gut sein, zuvor die Wesenheiten noch gegen anderes abzugrenzen, was mit ihnen zusammenhängt, aber keineswegs mit ihnen gleichbedeutend ist.