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§ 4. Erlebniseinheiten und ihre Seinsweise; Werden und Sein

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Gegenwärtig-wirklich ist in mir jetzt mein Denken, das Nachsinnen über die Frage des Seins. Das hat aber nicht erst in diesem Augenblick angefangen, es »dauert« schon eine ganze Weile und wird noch eine Weile weiter dauern, bis es durch eine andere geistige Tätigkeit abgelöst oder durch einen plötzlichen »äußeren Eindruck« abgeschnitten wird. Durch die ganze Dauer, während deren es anhält, bildet es ein Ganzes, das sich in der Zeit aufbaut. Die moderne Psychologie und die Phänomenologie nennen dieses Ganze einen Denk-»Akt«, und auch der Scholastik ist der Gebrauch des Wortes in diesem Sinne nicht fremd; weil es aber eine andere Bedeutung ist als die, um deren Klärung es jetzt geht, wollen wir dafür einen anderen Namen setzen. Der Ausdruck »geistige Regung«, der an einer früheren Stelle gebraucht wurde, wäre für das Denken gerade nicht ganz glücklich, weil wir unter »Regung« etwas Unwillkürliches zu verstehen pflegen und nicht ein freies Tun. Es soll also der Name »Erlebnis-Einheit« gewählt werden, und darunter ist ganz allgemein ein solches Ganzes zu verstehen, das sich im bewußten Leben des Ich während einer Dauer aufbaut und diese Dauer »erfüllt«. Ob es sich dabei um ein freies Tun oder ein unwillkürliches Geschehen handelt, um welche Art von Erlebnisgehalt überhaupt, das spielt dabei keine Rolle. Das Denken, in dem ich jetzt lebe, ist eine andere Erlebniseinheit als das vor einigen Stunden über denselben Gegenstand. Die »gegenwärtige« hat erst vor einigen Minuten angefangen, die »vergangene« wurde vorhin abgebrochen, und eine ganze Reihe von anderen Erlebniseinheiten hat sich dazwischen geschoben. Die »gegenwärtige« ist gegenüber den »vergangenen« als »aktuelle« ausgezeichnet. Jedoch bei näherem Zusehen zeigt es sich, daß diese sogenannte »aktuelle« Einheit gar nicht als Ganzes aktuell ist. Streng genommen ist »voll-lebendig« nur das, was im Jetzt sich vollzieht; aber das Jetzt ist ja ein unteilbarer Augenblick, und was ihn erfüllt, »sinkt« unmittelbar danach »in die Vergangenheit zurück«, und jedes neue Jetzt ist von neuem Leben erfüllt. Nun kommt aber eine große Schwierigkeit. Wenn zeitliches Sein immer sofort in Nicht-Sein übergeht, wenn in der Vergangenheit nichts »stehen und bleiben« kann, was hat dann die Rede von Dauereinheiten für einen Sinn? Wie kann eine Einheit erwachsen, die über den Augenblick hinausreicht? Das Ich-Leben erscheint uns als ein stetiges Aus-der-Vergangenheit-in-die-Zukunft-Hineinleben, wobei beständig Potenzielles aktuell wird und Aktuelles in Potenzialität zurücksinkt – deutsch ausgedrückt: noch nicht Voll-Lebendiges die Höhe der Lebendigkeit erreicht und volles Leben zu »gelebtem Leben« wird. Das VollLebendige ist das »Gegenwärtige«, das »Gelebte« ist »vergangen«, das noch nicht Lebendige »zukünftig«. Können wir nun von einer Dauereinheit sprechen, die sich – als ein Seiendes – aus der Vergangenheit durch den gegenwärtigen Augenblick hindurch in die Zukunft hinein erstreckt und so eine »Zeitstrecke« erfüllt? Unmöglich, wenn wir an dem festhalten, was über zeitliches Sein gesagt wurde. Allerdings rechnen wir beständig mit solchen Dauereinheiten und verstehen sogar unter »gegenwärtig« nicht bloß die Augenblickshöhe und unter »vergangen« und »künftig« das, was ihr innerhalb einer dauernden Erlebniseinheit vorausgeht und folgt, sondern nennen ganze Dauereinheiten – eine Überlegung, eine Furcht oder Freude – gegenwärtig, vergangen oder zukünftig. Dabei wird als vergangen eine Erlebniseinheit bezeichnet, die als Ganzes »in die Vergangenheit gerückt« ist und sich nicht mehr lebendig weiter aufbaut, als künftig eine, die noch gar nicht die Gegenwartshöhe erreicht hat, als gegenwärtig aber eine, die zwar nicht ihrer ganzen Erstreckung nach vollebendig, aber im lebendigen Werden begriffen ist und in jedem Augenblick an die Höhe der Lebendigkeit rührt. Aber wir wissen doch nun schon, daß weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft etwas »sein« kann. In ihnen »ist« nichts als Leerstellen, die einmal durchlaufen wurden oder durchlaufen werden. Alle »Fülle« ist nur im gegenwärtigen Augenblick. Dennoch haben jene irreführenden Redewendungen eine sachliche Grundlage. Es gibt doch so etwas wie Freude, Furcht u. dgl., und zwar als Einheiten, die in einer Bewegung aufgebaut werden müssen und dazu Zeit brauchen. Diese Bewegung ist mein Leben oder lebendiges Sein. Was sich darin »aufbaut«, das umspanne ich jeweils von dem gegenwärtigen Augenblick her, in dem ich lebendig bin; nichts davon »steht« in der Vergangenheit. Alles, was von dem, was ich war, jetzt noch ist, das ist in mir und mit mir im gegenwärtigen Augenblick. Wo stehen aber jene Einheiten, wenn nicht in der Zeit? Als was haben wir sie überhaupt zu denken? Davon wird bald zu sprechen sein. Vorläufig halten wir fest: mein Sein ist ständige Bewegung, ein flüchtiges, im strengsten Sinn vergängliches Sein und der äußerste Gegensatz zum ewigen, wandellos-gegenwärtigen. Man versteht, daß dieser Gegensatz die alten griechischen Denker ganz erfüllte und daß sie es nicht über sich vermochten, das Entgegengesetzte mit demselben Namen zu bezeichnen, daß Heraklit den beständigen Fluß als das wahre Sein oder vielmehr nur ein Werden als wirklich anerkannte, während Parmenides nur das Ewig-Wandellose als wahres Sein gelten ließ und die Welt des Werdens als Welt des Scheins betrachtete. Werden und Sein – bricht nicht auch für uns mit der Anerkennung dieses Gegensatzes die Einheit des Seienden auseinander? Und doch dürfen wir uns durch den klaffenden Abgrund den Blick für die umfassende Gemeinsamkeit nicht trüben lassen, die wir unter dem Namen analogia entis (Übereinstimmung des Seins in allem Seienden – aber eine Übereinstimmung, der größere Nicht-Übereinstimmung entspricht) erkannt haben. Das Werden ist vom Sein nicht zu lösen, d. h. von dem eigentlichen, wahren Sein, dem Sein im vollen Sinn des Wortes. Es kann nicht selbst das eigentliche und wahre Sein sein, weil es seinem Sinne nach ein Übergang zum Sein ist. Als solches ist es aber durch nichts anderes als durch das Sein zu bestimmen. Wollte man die Möglichkeit eines vom Werden verschiedenen Seins leugnen, dann müßte man auch die Möglichkeit des Werdens leugnen und würde beim Nichts landen. So weist das stete Werden und Vergehen, wie wir es in uns erfahren, selbst beständig über sich selbst hinaus. Es strebt zum Sein hin (das ist natürlich nur eine bildhafte Beschreibung), rührt aber nur von Augenblick zu Augenblick daran. So enthüllt uns unser »Sein«, das ein stetes Werden und Vergehen und immer nur auf dem Wege zum wahren Sein ist, die Idee des wahren Seins, des vollendeten, ewig wandellosen – des reinen Aktes. Wir wollen vorläufig noch nicht die Frage stellen, ob wir zugleich das wahre Sein als Wirklichkeit berühren und unserer wirklichen Beziehung zu ihm inne werden.

Edith Stein: Endliches und ewiges Sein

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