Читать книгу Ein naheliegendes Opfer - Elisa Scheer - Страница 24
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ОглавлениеKira hatte gegen sechs ihre Arbeit beendet, leicht abgelenkt, weil sie immer über den Tod ihres Vaters – nein, ihres Erzeugers, einen Vater hatte sie schließlich nie gehabt und auch nie vermisst – nachdenken musste: Wen hatte er wohl so sehr auf die Palme gebracht, dass der ausgerastet war? Sie stellte sich eine Tat in höchster Wut vor, denn bei Mamas Erzählungen – die ja bestimmt ohnehin noch geschönt waren – hatte sie nicht nur einmal den Wunsch verspürt, ihm so richtig mit Schmackes in seine blöde Machofresse zu hauen. Warum sollte es anderen Leuten anders gegangen sein?
Mama und die beiden Frauen von Creutzer waren einfach eine andere Generation – keine demütigen Hascherl, aber auch nicht wirklich kämpferisch. Obwohl, diese Carina?
Die musste doch eigentlich jetzt ganz hübsch etwas erben? Kira hatte es sich stets angelegen sein lassen, über Creutzers Angelegenheiten Bescheid zu wissen, entweder, indem sie selbst die Augen offen hielt oder – manchmal – indem sie einen Privatdetektiv zu Rate zog. Also wusste sie auch, dass Carina einen Liebhaber hatte und dass dieser Liebhaber keinen richtigen Job hatte. Rico van den Berg war Kommunikationswissenschaftler und jobbte als Barpianist. Sie hatte ihn einmal gesehen – in dieser Bar, die sie zu Studienzwecken besucht hatte – und er war wirklich niedlich, das musste sie zugeben. Nicht ihr Geschmack, aber schmal, groß, dunkel – und so richtig sensibel wirkend. Ein hübsches Weichei, hatte sie gedacht. Mit langfingrigen Pianistenhänden und allen anderen Klischees. Das ideale Kontrastprogramm zu Creutzer, dem arroganten Macho.
Eigentlich hatte sie vorgehabt, diesem van den Berg einen anständigen Job zu besorgen. Sie hatte es sich so nett ausgemalt, wie Carina den alten Drecksack verlassen würde, um mit Klein-Rico ein stilles, bürgerliches Glück zu leben, richtig idyllisch-kitschig. Und dann zuzusehen, wie es Creutzer wie Rumpelstilzchen zerriss…
Direkt schade, dass sie sich das jetzt sparen konnte!
Sie winkte in der Tiefgarage einigen Kollegen zu, betätigte die Fernbedienung und stieg in ihren Wagen; dann fuhr sie, immer noch in Gedanken, nach Hause und parkte im Dürerweg hinter dem Haus.
Da sie in einer hochherrschaftlichen Villa wohnte, die man nach dem Verkauf durch eine heillos zerstrittene Erbengemeinschaft in zehn sehr originelle, wenn auch nicht allzu große Eigentumswohnungen aufgeteilt hatte, gab es keine Tiefgarage, aber man hatte einen diskret verborgenen Teil des großen Gartens in eine Art Carport verwandelt. Kira stieg aus, nickte der alten Frau Wallner zu, die auf ihrem Balkon im ersten Stock die frisch gepflanzten Geranien goss, und steuerte die Haustür an.
Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, halb auf die Straße, halb nach Süden hinaus, und besaß sogar einen der alten Balkone mit originaler Steinbalustrade und im Wohnzimmer mitten im Raum eine etwas unmotiviert platzierte korinthische Säule, die Kira sehr lustig fand.
Die massiven Türen, die alten Holzböden und die sehr authentisch erneuerten Fenster in den dicken Wänden gefielen ihr täglich aufs Neue, und die sparsam eingesetzten dunklen Möbel, teils alt, teils neu, unterstrichen den etwas altmodischen Charme. Nur die Arbeitsecke im Wohnzimmer wirkte neuzeitlicher.
Sie warf ihre Tasche auf eins der beiden blauen Samtsofas und sich selbst auf das andere. Was nun? Sie fühlte sich direkt, als habe man ihr ihren Lebensinhalt geraubt, so etwas Blödes aber auch!
Sie trauerte doch nicht etwa?
Quatsch, warum denn!
Sie rappelte sich wieder hoch, trabte in ihre kleine, aber funktionelle Küche und schaute in den Kühlschrank.
Hm… okay, ein Käsebrot? Kürbiskernbrot war noch da, Leerdamer auch. Und einige Oliven mit Mandeln. Das reichte, auch wenn sie kein Mittagessen gehabt hatte. So viel Hunger hatte sie jetzt auch nicht.
Vielleicht sollte sie ins Fitness gehen, um sich ihren Frust abzutrainieren? Oder ein paar Leute anrufen? Oder nur ein paarmal um den Block laufen? Sie belegte die Brotscheibe mit dem Käse, arrangierte einige der Oliven dazu, trug den Teller ins Wohnzimmer und machte es sich damit auf dem Sofa gemütlich.
Eigentlich hätte sie sich jetzt ein, zwei Folgen ihrer Lieblingsserie verdient, fand sie, aber sie hatte irgendwie doch nicht den Nerv dafür. Der Gedanke, wer wohl den alten Creutzer umgelegt hatte, beschäftigte sie – über Gebühr?
Nein, das fand sie nicht. Ein realer Mord durfte einen schon beschäftigen, vor allem, wenn man – eher indirekt – mit dem Opfer in Beziehung gestanden hatte. Wusste sie wohl noch etwas über Creutzer, was sie der Polizei noch nicht mitgeteilt hatte?
Hm. Dass sein Geschäftsgebaren etwas selbstmörderisch wirkte, hatte sie gesagt. Dass sie ihn nicht mochte, obwohl sie ihn nicht persönlich kannte, auch. Dass er ihr missratener Vater war, ebenfalls. Dass es ihr ein Festessen gewesen war, ihm diskret geschäftlich zu schaden, sowieso. Mehr fiel ihr im Moment nicht ein. Ob ihre Halbgeschwister um den Vater trauerten?
Sie glaubte es eher nicht. Vielleicht hatte er ja zwischen „richtigen“ Kindern und dem Bastard unterschieden, aber nach dem, was Mama von Marie Louise wusste, konnte Creutzer mit Kindern generell nicht viel anfangen. Ihre einzige Funktion für ihn war „Firmenerbe“ (also rechtloser Juniorchef) gewesen, und damit fielen die Mädchen schon mal weg und ein Sohn, der lieber malte, sowieso.
Sie sollte wirklich nicht länger über den Kerl nachdenken – eher darüber, womit sie sich jetzt amüsieren konnte, nachdem ihr Spielzeug kaputt war.
Ihr Job war spannend, herausfordernd, abwechslungsreich, keine Frage, aber sonst? Ein bisschen Sport, ab und zu weggehen mit den Mädels, die sie zumeist noch aus der Schule kannte. Toni, ihr Kumpel seit dem Studium… Mama glaubte wohl immer noch, er könnte eines Tages ihr Schwiegersohn werden, aber da führte wirklich kein Weg hin. Sie stand nicht auf Toni und Toni stand nicht so sehr auf Frauen – was Kira sehr praktisch fand, denn so war die alte Harry-und-Sally-Debatte schon mal erledigt: In dieser Konstellation konnten Männer und Frauen sehr wohl „nur“ befreundet sein!
Ihr Liebesleben war natürlich eine Schande, aber sie hatte in letzter Zeit wirklich zu viel um die Ohren gehabt, um auch noch etwas Hübsches für Freizeit & Bett zu suchen. Und an Begeisterung dafür hatte es ihr auch gefehlt.
Und jetzt?
Die Männer aus der Firma kannte sie schon, vielen Dank. Nett, kollegial, mehr nicht.
Das Kerlchen heute von der Kripo? Noch nicht trocken hinter den Ohren.
Die Jungs im Fitness? Selbstverliebt und zumeist mit sehr begrenzten Interessen. Manche wirkten, als wüssten sie nicht einmal, wie man ein Buch aufschlug.
Andererseits hatte sie in letzter Zeit auch nicht gerade viel in puncto Kultur unternommen, das musste anders werden: aktuelle Literatur, Theater – naja, Kino ging wohl auch – und Ausstellungen. Nicht heute. Erstmal Mama anrufen, was sie wohl von dieser ganzen Sache hielt.
Ihre Mutter war zu Hause und offenbar begierig, die Ereignisse zu besprechen.
„Ich war ja doch schockiert, als ich das gehört habe“, fing sie sofort an. „Kira, was denkst du, wer könnte das gewesen sein?“
„Ich weiß es auch nicht, Mama. Du? Seine beiden Frauen? Eventuelle weitere Verhältnisse? Eins seiner Kinder? Entnervte Angestellte?“
Ihre Mutter lachte auf. „Du hast natürlich Recht – zu fragen, wer nicht sein Feind war, ginge bedeutend schneller.“
„Stimmt schon, aber ich habe mich auch schon gefragt, wer von all diesen gereizten Leuten wirklich so wütend sein konnte, dass er ihm eins übergebraten hat. Schau, ihr drei, sein Harem sozusagen, habt euch über ihn das Maul zerrissen und euch so abreagiert. Na, und ich -“
„Und du? Was war dein Ventil?“
Kira lachte verlegen, denn alles hatte sie ihrer Mutter nie erzählt. „Naja, schließlich arbeite ich bei der Konkurrenz, nicht? Und das in einer durchaus einflussreichen Position. Mein Traum wäre es gewesen, CE richtig in die Enge zu treiben und dann eine feindliche Übernahme durch DE zu inszenieren.“
„Schön…“, fand ihre Mutter. „Ich sehe es regelrecht vor mir. Hans Peter hängt vernichtet in seinem Sessel, jemand überreicht ihm die Urkunde, die alles in euren Besitz übergehen lässt, und dann kommst – nein, du schreitest herein, siehst dich kühl um, nennst deinen Namen und sagst: Das wird dann mein Büro – aber diese schäbige Ausstattung muss natürlich sofort raus. Und wer sind Sie? Der frühere Eigentümer? Ich darf Sie bitten, das Gebäude sofort zu verlassen.“
Kira gackerte ins Telefon. „Klasse Bild. Ganz so läuft eine feindliche Übernahme nicht ab, aber so ähnlich hatte ich mir das auch vorgestellt. Schade, dass ich es nicht mehr zu Ende bringen kann, er hätte so wunderbar blöd geschaut.“
„Aber angefangen hast du?“
„Naja, wo es ging. Wir haben ihm lukrative Verträge weggeschnappt – ich glaube, Dr. Söltl, mein Chef, hatte mit ihm auch noch eine Rechnung offen – und ihm mit Hingabe gute Leute abgeworben. Kannst du dich noch an meine Schulfreundin Britta erinnern? Die ist Headhunterin in London und immer für einen Streich zu haben, sie hat bis jetzt schon etliche Leute aus CE rausgelockt. Ich wollte noch Carinas Lover einen anständigen Job verschaffen, damit sie ihren Alten mit großer Geste verlassen kann, aber das dürfte sich jetzt ja wohl erledigt haben.“
„Kommt auf das Testament an“, gab ihre Mutter zu bedenken.
„Ach komm, noch war er nicht ruiniert. Auch der Pflichtteil müsste da doch recht nett ausfallen. Und alle Leute kann er ja auch nicht mit einem Pflichtteil abspeisen, was geschieht denn dann mit dem Rest?“
„Er könnte irgendeine Stiftung gegründet haben“, schlug ihre Mutter vor.
„Aus purer Schikane? Ja gut, kann sein… obwohl, ich glaube, sowas planen die Leute immer, halten sich aber für unsterblich – und er war ja auch erst Anfang sechzig, oder? – und machen es dann nicht rechtzeitig. Dann beißen sie ins Gras und die gesetzliche Erbfolge tritt ein.“
„Auch wieder wahr… ich wüsste ja gerne, wie man ihn so einfach umbringen konnte, er war doch für sein Alter recht gut in Form, oder?“, sinnierte ihre Mutter. „Früher wenigstens war er einigermaßen sportlich. Und ziemlich groß… na, das war er jetzt bestimmt immer noch… ich meine, ohne Waffe hätte man ihn sicher nicht so einfach – äh. Darüber mag man dann doch nicht so genau nachdenken.“
„Stimmt. Und ich weiß auch nur, dass es in einer Hütte oder einem Jagdhaus passiert ist.“
„Stimmt, Marie Louise hat mir mal erzählt, dass er da gerne die Wochenenden verbracht hat, und nicht immer alleine. Anfangs wohl auch mit Carina, aber er brauchte ja immer schnell Abwechslung. Kennst du eigentlich Tatjana?“
„Das ist die, die so alt ist wie ich, oder?“
„Fast auf den Tag genau. Muss man sich mal vorstellen, da war er gerade mal zwei Jahre verheiratet, hat einen einjährigen Sohn, schläft auch durchaus noch mit seiner Frau – daher ja Tatjana und die anderen beiden – und geht schon fremd! Eigentlich unglaublich, oder?“
Kira schnaubte ins Telefon. „Die Gnade der späten Geburt – stell dir mal vor, der wäre heute um die dreißig, Marie Louise hätte ihn doch hochkant rausgeschmissen und ihm vor Gericht noch sein halbes Vermögen abgenommen, und womit? Mit Recht.“
Ihre Mutter gab zweifelnde Geräusche von sich. „Kira, du schließt von dir auf andere. Es gibt heute auch noch jede Menge Frauen, die wider besseres Wissen an einer Ehe festhalten. Weil sie kein Geld haben, weil sie wegen kleiner Kinder nicht genug arbeiten können, weil der Ehemann die besseren Anwälte hat, weil sie nicht zugeben wollen, dass es nicht geklappt hat, weil sie glauben, so ein Vater ist immer noch besser als gar keiner, weil… es gibt tausend Gründe.“
„Keine guten.“
„Das hab ich auch nicht gesagt. Schau, warum bleibt denn Carina bei ihm? Die ist Anfang vierzig, also fast deine Generation.“
„Na danke! Aber die Karte sticht… wieso hat sie ihm den Kram nicht hingeschmissen und ist zurück in ihr altes Leben? Alles ist doch besser als mit dem alten Sack verheiratet zu sein!“
„Naja, ich glaube, Carina war vorher in irgendeinem Büro. Vielleicht zieht es sie dahin nicht so arg zurück?“
„Wieso, Büroarbeit ist doch recht angenehm, so viel anders arbeiten wir schließlich auch nicht?“, wunderte sich Kira.
„Kindchen, du hast eine Führungsposition und ich arbeite wissenschaftlich. Stell dir vor, du müsstest tagaus, tagein Routinekram arbeiten, kopieren, ablegen, Kaffee kochen – wie früher während des Studiums. Das wird doch irgendwann langweilig!“
„Schon, aber man kommt abends heim und hat himmlische Ruhe. Kein Drecksack Creutzer, das wäre es doch wert, oder?“
Ihre Mutter kicherte. „Du bist wirklich noch ein Kindskopf – aber so Unrecht hast du auch wieder nicht.“
„Was glaubst du, wie es weitergeht, Mama?“
„Kira, ich kenne Krimis auch nur aus Büchern. Und aus dem Fernsehen. Müssten sie nicht unsere Alibis erfragen? Und nach Motiven suchen? Wahrscheinlich tauchen sie bei uns allen am Arbeitsplatz und zu Hause auf und vielleicht fragen sie auch, ob sie sich umsehen dürfen.“
„Oder kommen mit Durchsuchungsbeschluss“, prophezeite Kira düster. „Ich wüsste ehrlich gerne, wer das war.“
„Um ihm die Hand zu schütteln?“
„Naja, ein bisschen. Und damit die ganze Aktion wieder vorbei ist.“
„Für dein jugendliches Alter hast du ziemlich wenig Interesse an spannenden Ereignissen“, neckte ihre Mutter sie.