Читать книгу Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze - Страница 14
Оглавление10 Zurück im Büro eröffnete ich eine Akte zu meinem neuesten Fall. Der Fall Luca Tanner. Dann rief ich Koller an. Wir vereinbarten einen Einvernahmetermin für den kommenden Nachmittag. Ich war nicht ganz ehrlich am Telefon und teilte Koller lediglich mit, meine Mandantin wolle eine Aussage zum Tod von Luca machen. Den Inhalt dieser Aussage – dass Nina sich selbst beschuldigte – behielt ich für mich. Das würde Koller noch früh genug erfahren.
Ich erledigte einige Dinge für andere Mandanten, schrieb Rechnungen und Mahnungen. Die schlechte Zahlungsmoral meiner Klienten versetzt mich immer wieder in Staunen. Wenn man schon eine Rechnung nicht bezahlt, dann vielleicht besser nicht die des Anwalts.
Ich hielt einen Schwatz mit meinem neuen Büronachbarn, einem jungen Immobilienmakler, der die Räumlichkeiten von seinem Vorgänger, einem freien Journalisten, übernommen hatte, und rauchte die eine oder andere Zigarette unter dem blühenden Magnolienbaum im kleinen Vorgarten. Draussen war es bereits dunkel, als ich endlich Schluss machte. Ich verliess meine Kanzlei, die an der Ecke Wülflinger-/Schaffhauserstrasse liegt. Der Kies knirschte unter meinen Füssen, als ich den Parkplatz hinter dem Haus überquerte. Ich blieb stehen. Dort, auf der anderen Seite der Bahngleise, steht der unverwechselbare Backsteinbau des Schulhauses St. Georgen. Ich verharrte einen Moment. Anstatt nach rechts in die Brunngasse abzubiegen, wandte ich mich nach links. Ich wollte mir den Ort, an dem Luca getötet worden war, genauer ansehen.
Es war unschwer zu erkennen, wo genau Luca gefunden worden war. Zahlreiche Blumen, kleine Plüschtiere und rote Grabkerzen waren links vom Haupteingang abgelegt worden, da, wo einer der steinernen Tischtennistische steht. Da, wo der Pausenplatz vom Bahnfussweg her wegen der Baustelle und den temporären Containern nicht einsehbar war. Ich näherte mich der Stelle zögerlich.
«Du bist für immer in unseren Herzen Luca» stand auf einem grossen Herz aus Karton. «Luca wir vermissen dich» las ich auf einem Stück Papier, das mit einer Kerze beschwert war. Ein Foto von Luca war an einen Topf mit violetten Primeln gelehnt. Er war ein hübscher Junge gewesen, braune Haare, helle Augen, offenes Gesicht. Er lachte breit, voller Leben. Dieses Leben war ausgelöscht worden, von einer Minute auf die andere. Wider Willen traten mir Tränen in die Augen, und ich musste schlucken. In diesem Moment vernahm ich ein paar Meter weit weg ein Geräusch. Es klang wie unterdrücktes Weinen. Ich wandte den Kopf, spähte in die Dunkelheit.
«Hallo?»
Keine Antwort, aber wieder hörte ich das Schluchzen, lauter diesmal. Ich machte ein paar Schritte und da, an die Rückseite des Baumstammes gelehnt, sass ein Mädchen. Es trug eine dunkle Jacke und umklammerte seine angezogenen Beine, das blasse Oval des Gesichts war gesenkt. Sollte ich es ansprechen? Oder liess man Trauernde nicht besser in Ruhe? Andererseits schien es dem Mädchen nicht gut zu gehen, es war kalt, es war spät und dunkel. Es sollte nicht allein hier sitzen. Wer wusste, was sich hier abends für Gestalten herumtrieben?
«Kann ich dir helfen?», fragte ich.
Ein Schluchzen war die Antwort, der Oberkörper des Mädchens schüttelte sich vor Kummer.
Ich ging noch näher, kauerte mich neben es hin. Eine Weile blieb ich einfach so, ohne mich zu rühren, ohne etwas zu sagen. Das Schluchzen verebbte, das Mädchen schniefte ein paar Mal.
«Hier.» Ich streckte ihm ein Taschentuch hin.
Zuerst reagierte es nicht, dann griff es nach dem Tuch, tupfte sich die Augen, schnäuzte geräuschvoll.
«Weinst du wegen Luca?», fragte ich.
Sie nickte.
«Wart ihr befreundet?»
«Ich … ja … wir …».
Ein erneuter Schluchzer war die Antwort. Vor lauter Schniefen und Weinen brachte das Mädchen keinen ganzen Satz zustande. Irgendwie musste ich es beruhigen. Aber zuerst musste ich meine Position verändern, ich war definitiv zu alt, um noch länger in der Hocke zu verharren. Mühevoll stand ich auf, unterdrückte ein Stöhnen.
«Wie heisst du?», fragte ich.
«Julia.» Sie schniefte.
«Komm», sagte ich. «Du kannst hier nicht allein bleiben. Ausserdem wirst du dich erkälten.» Ich hielt ihr die Hand hin. Julia ignorierte sie, doch nach einigem Zögern stand sie von allein auf. Sie war eher klein und sehr schlank, was durch die engen Jeans noch betont wurde. Lange braune Haare umrahmten ihr Gesicht. Normalerweise war sie sicherlich sehr hübsch, puppenhaft, mit grossen Augen und kleiner Nase. Im Moment allerdings waren diese Augen verschwollen und gerötet, schwarze Mascarastreifen zogen sich über die Wangen.
«Soll ich dich nach Hause bringen, Julia?»
Julia schüttelte den Kopf. «Ich bin kein kleines Kind mehr.» Sie klang abweisend. «Wer sind Sie überhaupt? Von unserer Schule sind Sie nicht, ich habe Sie noch nie hier gesehen.» Sie musterte mich misstrauisch. «Sind Sie verwandt mit Luca?» Sie sah mich zweifelnd an.
Mit meiner hellbraunen Haut und den krausen Haaren hatte ich so nichts mit Luca gemein. Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe beruflich mit Lucas Tod zu tun. Ich bin Moira. Moira van der Meer.»
Wieder musterte sie mich. «Beruflich? Heisst das, Sie sind von der Polizei oder so? Ich hab mich schon gefragt, wann wir endlich befragt werden.»
Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte und fing langsam an, über den Pausenhof zu gehen. Julia ging automatisch neben mir her. Dass ich Ninas Anwältin war, konnte und durfte ich ihr im Moment nicht verraten. Nina stand offiziell noch in keinem Zusammenhang mit Lucas Tod. «Nicht ganz», antwortete ich ausweichend und wechselte schnell das Thema. «Gibt es denn Vermutungen, was mit Luca passiert ist?»
«Alle mochten Luca. Alle wollten mit ihm befreundet sein. Er war der Letzte, von dem man gedacht hätte, dass er umgebracht wird.» Wieder flossen die Tränen.
«Wie war er denn?»
«Er war …» Julia schniefte. «Er war der bestaussehende Typ des ganzen Schulhauses.» Sie deutete auf das St. Georgen. «Er war cool, ich meine, er stand über den ganzen Dingen, die für andere Jungs so wichtig sind. Blöde Sprüche und so, das hatte er nicht nötig. Er war … Er gab einem das Gefühl, einzigartig zu sein.»
«Dir auch?»
Julia gab keine Antwort, sah mich lediglich durch einen Tränenschleier an. «Er hat es einfach nicht verdient zu sterben, verstehen Sie? Er hat es nicht verdient!» Sie trat halbherzig gegen einen Betonpfeiler. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Julia eine Show abzog. Sie mochte tatsächlich um Luca trauern. Aber gleichzeitig genoss sie es, Aufmerksamkeit zu erhalten.
Mittlerweile waren wir bei der Theaterstrasse angelangt.
«Es gibt keine Gerüchte?»
Sie sah mich ausdruckslos an.
«Was glaubst du denn? Was ist deiner Meinung nach passiert?»
Julia stierte vor sich hin. «Keine Ahnung», sagte sie. «Irgendein Ausländer wahrscheinlich. Einer von diesen jungen Asylheinis; die sind doch alle nicht ganz sauber. Von uns war es auf jeden Fall keiner.»
«Von uns?»
Sie deutete mit dem Kinn zum Schulhaus. «Vom St. Georgen. Alle haben Luca gemocht, hab ich doch gesagt. Die Mädchen sind total auf ihn abgefahren, und die Jungs haben ihn bewundert.» Sie sah sich unruhig um. «Ich muss jetzt gehen. Meine Eltern warten sicher schon.» Auf einmal schien ihr die Uhrzeit bewusst zu werden.
«Nur eine Frage noch. Hatte Luca Feinde?»
«Feinde?» Julia zuckte mit den Schultern. «Nicht, dass ich wüsste.»
Ich wollte nachhaken, aber sie hatte sich bereits umgedreht.
«Ich muss jetzt wirklich gehen.»
«Pass auf dich auf, Julia», sagte ich.
Sie zeigte keine Reaktion.
Ich blieb einen Moment stehen. Das war eine merkwürdige Begegnung gewesen. Lucas Tod schien Julia mitzunehmen, sie trauerte. Aber da war noch etwas anderes an Julia, etwas Hartes, Selbstbezogenes, das ab und zu durchgeschimmert war. Ich dachte darüber nach, was Julia mir erzählt hatte. Er hatte keine Feinde gehabt. Alle hatten Luca gemocht. Das passte nicht zu dem, was Nina erzählt hatte. Es passte ganz und gar nicht.