Читать книгу Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze - Страница 17

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13 Ich musste nicht lange im Internet suchen, bis ich Informationen über Luca fand. Der Tod des Fünfzehnjährigen hatte Aufsehen erregt und war von den Medien entsprechend ausgeschlachtet worden. Da gab es Hintergrundberichte, Analysen, mögliche Tatszenarien. Und nicht zuletzt kamen die Nachbarn, die «besten» Freunde, Angehörige und viele weitere zu Wort, vermittelten ihre Sicht auf die Dinge. Ich überflog Aussagen wie «Jetzt sind schon Schulhäuser Gefahrenzonen», «Das waren keine von hier, ganz sicher nicht» und «Gottlose Jugend – wohin uns die Abkehr von der Religion führt».

Ich verspürte Abscheu und trank schnell noch etwas Wein. Heutzutage steuerte jeder seinen Senf zu allem und jedem bei. Vor allem die, die nichts zu sagen hatten, sagten etwas. Und ich überflog nur die Berichte in den Tagesmedien. Keine Ahnung, was bei facebook oder in privaten Chats noch über Lucas Tod geschrieben wurde. Wobei – vielleicht wären da die interessanten Dinge zu lesen.

Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, blieben meine Augen an einer Überschrift hängen: «Mitschüler können Tat nicht nachvollziehen: Luca war bei allen beliebt.» Das deckte sich mit Julias Aussage. Ich vertiefte mich in den Artikel.

Nach einer guten halbe Stunden Recherche musste ich Julia Recht geben: Es schien, als hätten alle Luca gemocht. Er war ein guter Schüler gewesen, ein begabter Handballer mit viel Teamgeist, beliebt bei den Mädchen, angesehen bei den Jungs. Er hatte nicht geraucht, keinen Alkohol konsumiert, nichts geklaut. Ein Vorzeigejunge.

Ich wollte mir Wein nachschenken, aber die Flasche war leer. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es kurz vor 23 Uhr war. Ich spürte, wie müde ich war. Zeit, zu Bett zu gehen.

Mein Telefon läutete, als ich mir im Bad die Zähne putzte. Mit der Zahnbürste in der Hand ging ich ins Wohnzimmer, schaute aufs Display. Celina, meine Mutter. Um diese Uhrzeit? Normalerweise konnte sie nach zehn Uhr abends keinen verständlichen Satz mehr von sich geben.

Meine Mutter ist Alkoholikerin. Seit ich denken kann, ist ein gut gefülltes Glas ihr ständiger Begleiter. Nicht, dass ich mit Alkohol ein Problem hätte, im Gegenteil. Ich bin ein paar Gläschen auch nicht abgeneigt, und es gibt Stimmen, die von James zum Beispiel, die sagen, auch ich würde zu viel trinken. Es gibt aber einen Unterschied zwischen Celina und mir: Ich trinke, um mich vom Elend der Welt abzulenken. Alkohol stimmt mich milder, gelassener. Celina trinkt, um keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen zu müssen. Alkohol lässt sie entweder aggressiv oder überschwänglich werden. Die Launen meiner Mutter waren der Grund gewesen, weswegen mein Vater abgehauen war, als ich fünfzehn war und meine kleine Schwester Maria dreizehn. Er war zurück nach Nigeria gegangen und hatte uns bei Celina zurückgelassen. Es war die Hölle gewesen. Das hatte ich ihm bis heute nicht wirklich verziehen. Und mein Verhältnis zu meiner Mutter ist, milde ausgedrückt, angespannt.

Mittlerweile war das Telefon verstummt. Auch gut. Ich war nicht in der Stimmung, mich auf eine sinnlose Diskussion über meine vernachlässigten töchterlichen Pflichten einzulassen. Ich ging zurück ins Badezimmer und spuckte den Schaum aus. Das Telefon läutete erneut. Ich seufzte. Beharrlich war Celina, das musste man ihr lassen.

«Celina?»

«Hast du schon geschlafen?»

«Nein. Ich …»

Sie liess mich nicht ausreden. «Moira, du glaubst nicht, wer mich heute angerufen hat.» Ihre Aussprache war leicht verschliffen, aber ansonsten klang sie klar. Sie war definitiv noch nicht völlig betrunken. Aber sie war aufgeregt.

«Willy?»

«Was Willy. Weshalb Willy? Willy sehe ich jede Woche.»

Mein Vermieter und meine Mutter kannten sich aus Kindheitstagen; Willy war zwar gut zehn Jahre älter als Celina, aber sie hatten dennoch gute Erinnerungen aneinander. Beide waren an der Seidenstrasse gross geworden, und vor ein paar Jahren hatten sie sich durch mich wiedergetroffen. Ich stand dieser Freundschaft zwiespältig gegenüber. Willy sollte in erster Linie für mich da sein.

«Ich habe keine Ahnung, Celina», sagte ich. Ausser Willy hatten Celina und ich keine gemeinsamen Bekannten. Ich versuchte, meine Ungeduld im Zaum zu halten. Ich wollte meine Ruhe. Ich wollte schlafen.

«Chinedu hat angerufen. Stell dir das vor. Chinedu. Nach so vielen Jahren.»

Meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Chinedu. Mein Vater. Ich hatte seit ein paar Jahren wieder Kontakt mit ihm, aber meine Mutter und er hatten seit über zwanzig Jahren kein Wort miteinander gesprochen.

«Was wollte er?», fragte ich vorsichtig.

«Es war … Ich habe das Telefon abgenommen und er hat Hallo gesagt. Ich habe ihn sofort erkannt. Seine Stimme hat sich kein bisschen verändert.»

Meine Mutter hatte meine Frage überhört.

«Ich war dermassen überrascht, im ersten Moment hätte ich beinahe wieder aufgelegt. Stell dir vor, nach so vielen Jahren, da ruft er einfach so an.»

Ich hörte Erstaunen in der Stimme meiner Mutter und eine Art unterschwellige Freude. Das wunderte mich. So, wie sie immer über meinen Vater hergezogen war, hatte ich etwas Anderes erwartet. Ich hatte erwartet, dass sie ihn eiskalt abservierte. Einen ihrer berüchtigten Wutanfälle bekam.

«Was wollte er?», wiederholte ich meine Frage.

«Ach, das war wirklich merkwürdig.» Celina machte eine Pause, und ich hörte, wie sie einen Schluck trank.

Ich lechzte ebenfalls nach einem weiteren Glas Wein.

«Wir haben nur kurz miteinander gesprochen. Er hat nicht viel gesagt. Aber er hat gemeint, ich solle ein Auge auf dich haben. Er hat gesagt, du wirst es in nächster Zeit schwer haben.»

Wieder hörte ich sie trinken.

«Stimmt das? Geht es dir nicht gut?»

Ihre Besorgnis irritierte mich noch mehr als die Weissagungen meines Vaters. Es mochte ja angehen, dass er sich als nigerianisches Orakel ausgab – manchmal lag er mit seinen Vorhersagen gar nicht mal so falsch. Aber dass Celina nun die bekümmerte Mutter gab, das ging mir gegen den Strich. Ich hatte mich die letzten Jahrzehnte ohne ihre Unterstützung durchgeschlagen. Das wollte ich ganz gern so beibehalten.

«Mir geht es gut, Celina», sagte ich. «Ich bin nur müde.»

Diesen Wink mit dem Zaunpfahl verstand meine Mutter nicht. «Sag mir, wenn ich was tun kann, ja?»

Das würde ich ganz bestimmt nicht. Meine Mutter war die Letzte, bei der ich Hilfe suchen würde.

Sie schien meine Gedanken zu lesen. «Menschen können sich ändern, Moira», sagte sie.

Ja, klar, und ich würde demnächst im Lotto Millionen gewinnen.

Obwohl ich mir bereits die Zähne geputzt hatte, setzte ich mich auf meine geliebte Fensterbank, öffnete das Fenster einen Spalt und zündete mir eine Zigarette an. Meine Mutter schwadronierte derweil über meinen Vater und erzählte, was er sonst noch gesagt hatte, und was sie gesagt hatte, und wie er wohl lebte, da unten, in Afrika, und wie lange doch alles her sei. Ich starrte in die Dunkelheit, rauchte, hörte mit einem Ohr meiner Mutter zu. Irgendwann legte ich einfach auf. Sie war mittlerweile so betrunken, dass sie es wahrscheinlich nicht einmal merkte.

Ein gefährliches Alter

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