Читать книгу Ein gefährliches Alter - Eva Ashinze - Страница 6

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2 «Was hast du heute bei ihrem Anblick empfunden?» James rückte seine Hornbrille zurecht und sah mich aufmerksam an.

«Dasselbe wie immer», sagte ich bockig. Irgendwie hatte ich heute keine Lust auf diese Unterhaltung. Ich hatte mehr Lust auf ein Glas Wein. Obwohl – darauf hatte ich immer Lust.

«Und das wäre?» James liess sich nicht beirren. Er war zu lange als Psychotherapeut tätig, als dass so eine kleine Verstimmung meinerseits ihn aus der Fassung hätte bringen können. Und er war auch schon zu lange mein Therapeut. Wir waren bereits vor einigen Jahren dazu übergegangen, uns zu duzen, so oft hatte ich mich in seinem Therapiezimmer aufgehalten. Eigentlich hatte ich die Sitzungen bei ihm schon längst einstellen wollen, aber jedes Mal, wenn ich mein Leben ohne Stützräder angegangen war, war etwas Folgenschweres passiert: Erinnerungen an meine spurlos verschwundene Schwester suchten mich heim; mein Vater, der meine Mutter, meine Schwester und mich vor einer halben Ewigkeit verlassen hatte und zurück nach Nigeria gegangen war, trat wieder in mein Leben, oder ein einst geliebter Mensch wurde getötet – irgendwas war immer. Im Moment nahm ich James Dienste in Anspruch, weil ich in unregelmässigen Abständen Norah Krüger im Gefängnis besuchte. Besuchen musste.

Norah hatte Jan Krüger, meine erste Liebe, geheiratet – und einige Jahre später hatte sie ihn ermorden lassen. Dafür hockte sie nun für ziemlich lange Zeit in Hindelbank, dem Frauengefängnis.

Norah war aber auch die beste Freundin meiner verschwundenen Schwester Maria gewesen. Maria war auf dem Weg zu Norah verschwunden und nie wieder aufgetaucht – weder tot noch lebendig. Das war nun über 25 Jahre her. Hier lag der Hund begraben. Norah behauptete, sie wüsste mehr über das Verschwinden von Maria. Sie hatte es zur Bedingung gemacht, dass ich sie regelmässig besuchte und so ihre Einsamkeit linderte. Im Gegenzug würde sie mir Stück für Stück Informationen zum Verbleib meiner Schwester liefern. Hindelbank, das bedeutete zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Ein ganzer Tag fiel diesen Besuchen zum Opfer, die bisher ziemlich ergebnislos verlaufen waren. Das Hauptthema von Norah war sie selber, und auf meine Schwester war sie lediglich am Rand zu sprechen gekommen. Bis heute.

«Wut. Ungeheure Wut empfinde ich», beantwortete ich James Frage.

«Nur Wut?», hakte James nach. Erst wollte ich die Frage als überflüssig abtun. Plötzlich hatte ich aber Norah vor Augen, wie sie da sass im Besucherzimmer, die langen, in Jeans gekleideten Beine übereinandergeschlagen, die blonden Haare im Nacken zusammengefasst, ein rosa Angorapullover unterstrich ihre Zartheit, die sich aber nicht in den blauen Augen widerspiegelte. Die waren hart, stählern.

«Wut. Und Hilflosigkeit», ergänzte ich.

«Du bist Norah ausgeliefert.»

Ich nickte und ballte dabei meine Hände unbewusst zu Fäusten.

«Hat sie dir heute etwas erzählt?»

Ich liess mein Gespräch mit Norah vor meinem inneren Auge Revue passieren. Die meiste Zeit redete Norah, beklagte ihre Einsamkeit, weinte.

«Aber jetzt zu dir», sagte Norah plötzlich. «Lenk mich ab, Moira. Erzähl mir etwas von deinem gutaussehenden Bekannten, von diesem Guido Béjart.» Sie zog die Silben genüsslich in die Länge. Ihre Augen waren nicht länger tränenverschleiert, sondern funkelten raubtierartig.

Ein flaues Gefühl beschlich mich. «Geht dich nichts an.» Meine Stimme war nur mehr ein raues Flüstern.

«Nein?» Norah musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem derart süssen Lächeln, dass ich ihr am liebsten mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätte. «Bist du dir da ganz sicher, Moira?»

Ich hatte keine Wahl. Wollte ich etwas über den Verbleib meiner Schwester erfahren, musste ich spuren. Ich musste tun, was Norah verlangte. Norah genoss dieses Spiel, sie genoss die Macht, die sie über mich hatte.

«Du hasst mich, nicht wahr, Moira?», sagte Norah und zuckte neckisch mit den Schultern. «Kein Problem. Wir können gern hier abbrechen. Du brauchst nicht wiederzukommen.»

Ich lauschte ihren Worten mit gesenkten Augen. Ich brachte es nicht fertig, sie anzuschauen. Norah war eine feingliedrige Schönheit mit grossen blauen Augen. Aber im Innern, da war sie reines Gift. Narzisstisch und gleichzeitig ungemein bedürftig. Ihre Launen konnten von einer Minute zur anderen wechseln, mal schmeichelte sie, dann drohte sie.

«Aber wenn du nicht mehr kommst, dann wirst du dich dein Leben lang fragen, wo deine Schwester geblieben ist. Du wirst nie zur Ruhe kommen. Ist es nicht so, Moira?»

Ich schaute sie mit einem mörderischen Blick an.

Sie bedachte mich mit einem siegessicheren Lächeln. «Moira, Moira», ihre Stimme klang nun ganz sanft, «wir kennen uns wirklich schon eine Ewigkeit.»

James räusperte sich, und ich fand in die Gegenwart zurück. Ich war Norah ausgeliefert, wie James richtig erkannt hatte.

«Sie hat mir erzählt, dass Maria Drogen konsumiert hat. Ich wusste nicht einmal, dass sie gekifft hat. Den ganzen Rest – Speed, Kokain, sogar Heroin soll sie geraucht haben.»

«Glaubst du ihr?»

Ich zuckte mit den Schultern: «Es gibt keinen Grund, weswegen Norah mich deswegen belügen sollte.»

Ich dachte an die Szene zurück. Norah hatte ihr Haar nach hinten geworfen und wie nebenbei erwähnt, dass sie und meine Schwester verschiedene Drogen ausprobiert hatten. «Wir wollten eine andere Realität kennenlernen», hatte sie gesagt. «Fliehen. Unser Scheissleben vergessen. Such dir aus, was dir am besten passt. Alles trifft zu.»

Ich sah James an. «Sie haben zusammen experimentiert.»

«Was hat das in dir ausgelöst?»

Ich dachte an Norah, wie sie mir von den Drogen berichtet hatte. Wie sie mir die Gelegenheiten aufgezählt hatte, bei denen sie und Maria sich zugedröhnt hatten.

«Es hat mich traurig gemacht. Ich war – ich bin – Marias Schwester. Ich habe nichts gemerkt. Ich fühle mich schlecht. Schuldig. Ich bin nicht für sie da gewesen.»

«Trauer und ein schlechtes Gewissen. Und was noch?»

«Was meinst du?»

«Da ist doch noch etwas. Du hältst etwas zurück, Moira. Lass es raus.»

Ich zögerte. «Angst», flüsterte ich schliesslich. «Ich habe fürchterliche Angst.»

«Angst wovor?»

Ich schwieg eine Weile. Ich dachte wieder an Norah in ihrem rosa Pulli. Ich dachte an meine kleine Schwester mit ihrer dunklen Haut, den wilden Haaren und dem kindlichen Schmollmund. Ich dachte daran, dass in Marias Zimmer noch immer ihr zerschlissener Teddy aus Kindertagen auf dem Bett lag und darauf wartete, dass sie zurückkam. Meine Mutter hatte das Zimmer in den ganzen Jahren nicht angerührt.

«Maria war fünfzehn. Sie hatte kein Geld», sagte ich mit gesenktem Blick. «Von Taschengeld kann man sich nicht solche Mengen an Drogen kaufen.» Ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich hob den Blick und sah James direkt an. Er schaute nicht weg. «Was hat Maria wohl als Gegenleistung für die Drogen geboten?»

Ein gefährliches Alter

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