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D. Prüfungsreihenfolge bei internationalen Sachverhalten

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Der Aufbau dieses Lehrbuches ist eng an der Prüfungsreihenfolge bei internationalen Sachverhalten orientiert. Bei einem internationalen Steuerfall ist ausgehend vom deutschen Recht wie folgt vorzugehen. Eine bekannte oder unterstellte Beurteilung des Sachverhalts nach ausländischem Recht ist dabei zunächst einmal irrelevant:

I. Nationales deutsches Recht 1. Persönliche Steuerpflicht a) Unbeschränkte Steuerpflicht (und Modifikationen) b) Beschränkte Steuerpflicht (und Modifikationen) 2. Sachliche Steuerpflicht a) Umfang der Besteuerung (Welteinkommen/inländische Einkünfte) b) Einkunftsart und Einkommensermittlung 3. Steuersatz 4. Ergebnis der nationalen Prüfung a) Keine deutsche Steuerpflicht: keine weitere Prüfung notwendig b) Wenn kein DBA: Unilaterale Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
II. Europarecht 1. Ggf. unmittelbare Anwendung von Sekundärrechtsakten 2. Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nationaler steuerlicher Normen
III. Abkommensrecht 1. Sachlicher/persönlicher/räumlicher/zeitlicher Anwendungsbereich des Abkommens 2. Anwendbarer Einkunftsartikel 3. Methode zur Vermeidung der Doppelbesteuerung 4. Ggf. sonstiges Völkerrecht (insbesondere Abkommen)

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In einem ersten Schritt wird die Frage nach der persönlichen Steuerpflicht (Steuersubjekt) gestellt und nach den aus dem nationalen Steuerrecht bekannten Regeln[167] beantwortet[168]. Sodann widmet man sich der Frage nach der sachlichen Steuerpflicht (Umfang der Besteuerung bzw Steuerobjekt), und zwar dies ebenfalls nach den aus dem nationalen Recht bekannten Regeln[169]. Es bietet sich an, stets mit der weitestreichenden Steuerpflicht zu beginnen. In Deutschland ist dies die unbeschränkte Steuerpflicht, sodann folgen (bei natürlichen Personen) die erweitert beschränkte Steuerpflicht nach § 2 AStG und zuletzt die beschränkte Steuerpflicht.

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Ist diese Prüfung abgeschlossen, erhält man ein eindeutiges Ergebnis, ob Deutschland den vorliegenden Sachverhalt dem Grunde und der Höhe nach besteuern darf oder nicht. Bei der Prüfung nach nationalem Recht ist die aus dem Verfassungsrecht bekannte Normenpyramide zu beachten. Es gelten ferner ohne Besonderheiten die allgemeinen Regeln der Gesetzesauslegung und -anwendung (so etwa die Grundsätze „lex posterior derogat legi priori“ und „lex specialis derogat legi generali“).

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Weiter ist darauf hinzuweisen, dass man es bei der Beurteilung von Sachverhalten mit Auslandsberührung nicht nur mit verschiedenen nationalen Steuerrechten, sondern mit den Rechtsordnungen anderer Staaten auch im Übrigen zu tun hat. Das gilt vor allem für das Gesellschaftsrecht als Teilgebiet dieser Rechtsordnungen, aber ebenso für das Erb- oder Familienrecht. Nicht selten ist daher – gewissermaßen als Vorfrage für die Anwendung des Steuerrechts – zu klären, welches nationale Zivilrecht (oder auch öffentliche Recht) auf einen Sachverhalt Anwendung findet. Die Frage ist nicht nur für die Steuerarten, die ohnehin zivilrechtsakzessorisch ausgestaltet sind (wie etwa die Erbschaft- und Schenkungsteuer[170]), sondern ganz allgemein von Bedeutung. § 17 EStG beispielsweise unterscheidet bekanntlich nicht zwischen inländischen und ausländischen Gesellschaften[171]. Wenn die natürliche Person X (Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland) Anteile an einer luxemburgischen Kapitalgesellschaft veräußert, ist zunächst die Frage zu beantworten, nach welchem Recht sich der Anteilsverkauf bzw die Anteilsübertragung richtet. Dies bestimmt sich nach den Regeln des sog. Internationalen Privatrechts. Das deutsche Steuerrecht ist im Grundsatz an die Beurteilung nach dem ausländischen Zivilrecht gebunden[172], es kann aber den Prüfungsmaßstab vorgeben[173].

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Sodann ist zu differenzieren: Das Europarecht entfaltet im Steuerrecht keine andere Wirkung als in anderen Rechtsgebieten. Insofern ist zwingend der Anwendungsvorrang des Europarechts[174] zu beachten. Verstoßen Regeln des deutschen Steuerrechts gegen Europäisches Primärrecht und insbesondere gegen Grundfreiheiten, dürfen sie nicht angewendet werden. Soweit zB Richtlinien in nationales Recht umgesetzt worden sind (§ 43b EStG etwa ist in Umsetzung der Mutter/Tochter-Richtlinie ergangen), ist die jeweilige Vorschrift des nationalen Rechts ohne Besonderheiten heranzuziehen und der Richtlinie bedarf es im Regelfall nicht[175].

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Was hingegen die Anwendung von Doppelbesteuerungsabkommen anbelangt, ist zwar einerseits deren auf dem allgemeinen lex-specialis-Gedanken basierende Vorrangigkeit[176], jedoch auch andererseits zu beachten, dass diese kein materielles Recht in dem Sinne darstellen, dass sie Besteuerungsansprüche von Staaten begründen würden. Doppelbesteuerungsabkommen verteilen lediglich bereits nach dem nationalen Steuerrecht bestehende Besteuerungsansprüche zwischen Staaten, begründen aber keine solchen Besteuerungsansprüche[177].

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Daraus folgt für einen internationalen Sachverhalt unter deutscher Beteiligung zweierlei: Nur wenn man nach der Anwendung des nationalen deutschen Steuerrechts zu der Schlussfolgerung gelangt, dass dem Grunde und der Höhe nach[178] ein Sachverhalt mit Auslandsberührung der deutschen Besteuerung unterliegt, ist in einem zweiten Schritt das einschlägige DBA daraufhin zu befragen, ob Deutschland im Verhältnis zu dem oder den anderen Staaten auch zur Ausübung dieses Besteuerungsrechts befugt ist. Diese Prüfung nach dem Abkommensrecht ist aber nur vorzunehmen, wenn neben Deutschland noch wenigstens ein weiterer Staat nach seinem nationalen Recht den zugrundeliegenden Sachverhalt besteuern möchte.

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Systematisch verfehlt wäre es, die Prüfung eines internationalen Sachverhalts mit einem Blick in das einschlägige DBA zu beginnen, weil DBA nur Besteuerungsrechte verteilen, nicht aber begründen (s.o.). Auch hinsichtlich des materiellen Ergebnisses kann eine solche Vorgehensweise fatal sein: Nehmen wir an, die natürliche Person X mit Wohnsitz in Italien gewährt der natürlichen Person Y mit Wohnsitz in Deutschland ein privates, unbesichertes Darlehen. Gefragt ist nach der Besteuerung von X und unterstellt wird, dass X in Italien aufgrund des Wohnsitzes der unbeschränkten italienischen Einkommensteuerpflicht unterliegt. Italien besteuert daher nach dem nationalen italienischen Recht die von X erzielten Darlehenszinsen. Aus deutscher Sicht führen diese Darlehenszinsen zugleich zu Einkünften aus Kapitalvermögen gemäß § 20 Abs. 1 Nr 7 EStG. Wer jetzt aus Art. 11 Abs. 2 DBA Italien ableitet, Deutschland dürfe auf die Darlehenszinsen eine Quellensteuer von 10% erheben, übersieht, dass X in Deutschland nach nationalem Recht weder der unbeschränkten noch der beschränkten Steuerpflicht unterliegt. Die unbeschränkte Steuerpflicht scheitert mangels eines inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, die beschränkte Steuerpflicht daran, dass das Darlehen im Inland nicht dinglich besichert war (§ 49 Abs. 1 Nr 5 Buchstabe c Doppelbuchstabe aa EStG).

Ein weiteres Beispiel: Ein deutsches Unternehmen unterhält eine aktive Betriebsstätte in Tschechien. Betriebsprüfer P möchte wissen, wie es um die Aufteilung des Besteuerungsrechts bestellt ist. Wer jetzt bei der Prüfung unmittelbar auf Art. 23 Abs. 1 Buchstabe a DBA Tschechoslowakei springt, droht zu übersehen, dass § 32b Abs. 1 Satz 2 Nr 2 EStG gilt. Es erfolgt mithin eine Freistellung, jedoch nicht unter Beachtung des Progressionsvorbehalts. Das DBA gewährt hier ein „überschießendes“ Besteuerungsrecht, das nach nationalem Recht indes nicht ausgeübt wird.

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Dem Rechtsanwender ist dringend anzuraten, sich bei Vorliegen des geringsten Bezugs eines Sachverhalts zum Ausland kundig zu machen, ob neben Deutschland noch ein weiterer Staat einen Besteuerungsanspruch erhebt. Erforderlichenfalls ist nach Europarecht, Abkommensrecht und sonstigem Völkerrecht eingehend zu prüfen, welcher der beteiligten Staaten abschließend und definitiv von seinem nationalen Besteuerungsrecht Gebrauch machen darf[179]. Wer hier unsystematisch arbeitet, läuft Gefahr, einem Staat ein nicht bestehendes Besteuerungsrecht zuzusprechen bzw dem jeweils anderen Staat ein bestehendes Besteuerungsrecht abzusprechen.

Ferner kann nicht oft genug betont werden, dass insbesondere die Regelungsebenen „nationales Steuerrecht“ und „Abkommensrecht“ nicht nur systematisch, sondern auch terminologisch auseinandergehalten werden müssen. Das Abkommensrecht verfolgt eine gänzlich eigenständige Terminologie, die mit der Terminologie des nationalen Rechts kaum etwas gemein hat. Wer dies bei der Lösung von internationalen Steuerfällen nicht strikt beachtet, kann zu grundlegend falschen Schlussfolgerungen gelangen. § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG aF beispielsweise ordnete eine liquidationsähnliche Schlussbesteuerung für den Fall an, dass eine unbeschränkt steuerpflichtige Körperschaft ihren Sitz oder ihre Geschäftsleitung in das Ausland verlegte und dadurch aus der unbeschränkten Steuerpflicht ausschied. Das „Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht“ ist terminologisch und systematisch etwas ganz anderes als der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Steueranspruchs[180] aufgrund eines DBA. Nehmen wir an, die X-GmbH mit Sitz und Geschäftsleitung in Hamburg verlegte im Jahr 2006 ihren Ort der Geschäftsleitung in den DBA-Staat A. Wer jetzt wegen einer Regelung entsprechend Art. 4 Abs. 3 iVm Art. 7 OECD-MA (sog. tie-breaker-rule[181]) zu dem an sich zutreffenden Schluss kam, in Zukunft habe nur der Staat A die Gewinne der X-GmbH besteuern dürfen, dann aber § 12 Abs. 1 Satz 1 KStG aF anwendete, übersah, dass Deutschland zwar sein Besteuerungsrecht nach DBA nicht mehr ausüben durfte, die X-GmbH jedoch wegen der alternativen Anknüpfung in § 1 Abs. 1 Nr 1 KStG an den Sitz oder den Ort der Geschäftsleitung eindeutig nicht aus der unbeschränkten Steuerpflicht ausgeschieden war[182]. Dies hat jetzt auch der Gesetzgeber erkannt und in § 12 Abs. 3 Satz 2 KStG nF den Fall des Ausschlusses des deutschen Besteuerungsrechts aufgrund einer Ansässigkeitsfiktion nach DBA dem Ausscheiden aus der unbeschränkten Steuerpflicht ausdrücklich gleichgestellt[183]. Ein enges Arbeiten am Wortlaut der Norm ist gerade im Internationalen Steuerrecht unerlässlich.

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