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Niklas Luhmann
ОглавлениеDer prominenteste Beitrag der Soziologie für die systemische Therapie und Beratung ist zumindest im deutschen Sprachraum die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die seit der Veröffentlichung seines Buches Soziale Systeme (1984) und der damit einhergehenden »autopoietischen Wende« bis heute intensiv rezipiert wurde und wird. Im Unterschied zur soziologischen System- und Handlungstheorie Talcott Parsons’ geht Luhmann davon aus, dass soziale Systeme nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationsereignissen als Basiselementen bestehen. Soziale Systeme sind autopoietisch, d. h., sie entwickeln sich autonom durch den Anschluss von Kommunikation an Kommunikation (oder enden bei fehlender Anschlussfähigkeit), sind also nicht von außen, etwa durch beteiligte Subjekte, determiniert. Menschen als ganzheitliche Organismen oder psychische Systeme gehören aus dieser Perspektive zur Umwelt sozialer Systeme, mit der sich diese jedoch fortlaufend verkoppeln müssen, um sich selbst zu erhalten.
Auch wenn Luhmann in erster Linie eine Gesellschaftstheorie im Sinn hatte,3 dient sein Werk seit fast 30 Jahren als einer der zentralen Ideengeber zumindest für die deutschsprachige systemische Therapie und Beratung (vgl. beispielhaft Ludewig 1997; Simon 1997; Maier 2000; Klein 1994). Zur Familiensoziologie als spezifischem Anwendungsbereich ist die Distanz der soziologischen Systemtheorie Luhmanns übrigens ähnlich groß wie bei der systemischen Therapie (Retzer u. Simon 1996). Therapierelevante Themen werden bei ihm grundlagentheoretisch gefasst und nicht empirisch. Auch wenn sich vor allem Professionelle mit einem humanistischen Selbstverständnis schwertun mit der Idee, dass Systeme nicht aus Menschen bestehen, liegen die Vorzüge der Analyse sozialer Systeme als Kommunikationssysteme auf der Hand, weil damit sowohl die Konstruktion von Bedeutung und Problemen in sozialen Beziehungen beschrieben werden kann als auch die Operationsweise gesellschaftlicher Funktionssysteme (Erziehung, Psychotherapie, Medizin, Recht etc.), welche Probleme auf der Basis ihrer eigenen spezifischen Codes und Programme bearbeiten. Der Gegenstand von Therapie (Problemkommunikation und -auflösung) und der Prozess der Therapie als soziales System können mit einem einheitlichen Bezugsrahmen beschrieben werden (die inhaltlichen Grundzüge des Luhmann’schen Ansatzes werden in Abschn. 1.3.6 näher erläutert).