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1.2.5Systemisch-konstruktivistische Ansätze in der Pädagogik
ОглавлениеKersten Reich
Konstruktivistisches und systemisches Denken und Handeln spielte in den letzten Jahrzehnten in der Pädagogik eine zunehmend wichtige Rolle. Ansätze hierzu sind zahlreich. Aus dem Spektrum der Philosophie ist vor allem die Phänomenologie zu nennen, die indirekt das konstruktivistische Denken vorbereitet und teilweise direkt z. B. durch Berger und Luckmann (2010) beeinflusst hat. Das kybernetische Denken ist ebenfalls wesentlich, das vor allem vom radikalen Konstruktivismus etwa bei Heinz von Foerster (2002) aufgegriffen wurde, aber auch die Systemtheorie, die für eher naturalistisch begründete konstruktivistische Ansätze wie bei Maturana und Varela (vgl. Abschn. 1.3.5) oder bei der speziellen Konzeption Luhmanns (vgl. Abschn. 1.3.6) von Bedeutung waren. Aus einer ganz anderen – kulturkritischen – Richtung kommen aber auch postmoderne Diskurse aus dem Kontext von Poststrukturalismus, den Cultural Studies und insbesondere vom Feminismus zum Tragen, die nicht nur einflussreich für den kulturell orientierten Konstruktivismus waren und sind, sondern in großen Teilen selbst eine eigene Dimension sozialkonstruktivistischer Ansätze begründen. Als psychologische Vorläufer können vor allem Piaget mit seiner konstruktiven Psychologie gelten, der besonders bei Ernst von Glasersfeld (vgl. Abschn. 1.3.5) breit rezipiert wird, aber auch Lev S. Vygotskij (1993), der vor allem von Jerome Bruner (z. B. 1984) für den englischen Sprachraum erschlossen wurde und eine breite Rezeption in konstruktivistisch orientierten Lehr- und Lerntheorien gefunden hat. In Deutschland haben die konstruktivistisch orientierte systemische Familientherapie und mit ihr in Zusammenhang stehende Beratungsansätze eine wesentliche Bedeutung für die Begründung einer konstruktivistischen Pädagogik und Didaktik gewonnen, weil sie das Beziehungsgeschehen thematisieren und in einer Wende hin zu Kommunikation, Interaktion und Beziehungen auch für eine Neuorientierung in der Pädagogik stehen (Reich 2008). Nicht zu vergessen ist als pädagogischer Vorläufer des Konstruktivismus der Ansatz von John Dewey (Hickman, Neubert u. Reich 2004; Hickman 1998), den heutige Pragmatismusforscher stark in die Nähe konstruktivistischen Denkens rücken (vgl. Garrison 1998; 2008). Leider ist die Rezeption der Pädagogik Deweys in der deutschen Diskussion – auch mit bedingt durch schlechte Übersetzungen – bis heute unterentwickelt.
Konstruktivistische und systemische Ansätze schwanken in ihren Begründungen oft zwischen einer eher naturalistischen bzw. realistischen oder einer kulturalistischen bzw. sozialen Herleitung. In der Rezeption des radikalen Konstruktivismus erscheint bisweilen ein Naturalismus, der aus den objektiven Erkenntnissen insbesondere der Biologie und Hirnforschung postuliert wird. Wenngleich nicht abgestritten werden kann, dass auch diese Neuerungen im Kontext von sozialkulturellen Veränderungen stehen, ist hierbei gleichwohl oft eine subjektivistische Sicht vorherrschend, die allenfalls ansatzweise die Interaktionen von Subjekten, die kulturellen Kontexte und auch die Besonderheit der gesellschaftlichen Bedingungen der Lebenswelt als Ort der praktischen Relevanz des Konstruktivismus thematisieren. Für die Pädagogik machte dies den radikalen Konstruktivismus von Anbeginn zu einer zwiespältigen Herausforderung: Einerseits entsprachen die Leitsätze dieses Konstruktivismus mit ihrer Betonung des subjektiven Konstruktcharakters aller Wirklichkeitshervorbringungen vielfachen pädagogischen Erfahrungen, die die Eigenwelt der Lerner, die Selbstorganisiertheit des Lernens und die mangelhaften Resultate der Instruktionspädagogik erklärbar machten, andererseits jedoch blieb der Ansatz für die Erklärung sozialer, kommunikativer und kooperativer Denk- und Handlungsweisen äußerst unbefriedigend, da er zwar über das Prinzip der Viabilität durchaus Formen der Passung zwischen Subjekt und Umwelt thematisierte, ihnen aber kein kulturbezogenes oder soziales Gesicht mehr verleihen konnte oder wollte.
Innerhalb der pädagogischen Diskussion über den Konstruktivismus sind vor allem drei Hauptrichtungen auszumachen, die einerseits bei Horst Siebert (1999, 2005, 2009) oder Rolf Arnold (2007, 2010) stärker von der Erwachsenenbildung ausgehen, andererseits bei Reinhard Voß (2005, 1998, Voß u. von Aufschnaiter 2002) und Kersten Reich (2010, 2008, 2009a, b, 2012) die Pädagogik insgesamt und die Schulpädagogik und Didaktik im Besonderen umfassen.5