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Entwicklung der Kybernetik als Wissenschaft
ОглавлениеDie Kybernetik entstand in der Mitte des 20. Jahrhunderts als Projekt einer transdisziplinären und multiprofessionell angelegten Universalwissenschaft, eines Anspruchs, den sie mit der Allgemeinen Systemtheorie von Bertalanffys teilte. Als Gründer der Kybernetik gilt der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener (1894–1964), der mit seiner Veröffentlichung den Namen prägte (1948), welcher sich vom griechischen kybernetes = »Steuermann« herleitet.
Ausgangspunkt für diese Entwicklung waren zunächst kriegswichtige und daher mit großem finanziellen Einsatz der US-Regierung verbundene Forschungen an »intelligenten« Mensch-Maschine-Systemen, z. B. an sich selbst steuernden, zielführenden Flugabwehrgeschützen, die auch die Daten über die Ausweichmanöver feindlicher Flugzeuge (»Feedback«; ein Begriff, der von Wiener erstmals 1943 eingeführt wurde) auswerten konnten (Clerc 2009, S. 24 f.). Freilich war nicht nur die Gruppe um Wiener in dieser vom Weltkrieg bestimmten Epoche mit Fragen der Steuerung von Mensch-Maschine-Systemen beschäftigt. Völlig unabhängig von ihren amerikanischen Kollegen hatten sich schon im nationalsozialistischen Deutschland eine Reihe von Ingenieuren (u. a. Herman Schmidt, Winfried Oppelt, Karl Kupfmüller und Arnold Tustin) mit ähnlichen Fragen beschäftigt (vgl. Bissell 2010).
Die Entwicklung feedbackgestützter Waffensysteme war aber nur ein kleiner, wenngleich eminent wichtiger Teil kybernetischer Forschungen. In einem paradigmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1943 postulierten der Physiologe Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener und der Ingenieur Julian Bigelow eine einheitliche teleologische, aber nichtdeterministische Theorie zielgerichteten Verhaltens von Lebewesen und Maschinen auf der Basis von Rückkoppelungsprozessen. Der Philosoph und Neurophysiologe Warren McCulloch (1898–1969) entwickelte gemeinsam mit dem Logiker Walter Pitts (1923–1969) auf der Basis boolescher Algebra ein informationstheoretisches Modell des Neurons (»McCulloch-Pitts-Zelle«), mit dem das menschliche Gehirn als eine algorithmenlösende Maschine verstanden werden konnte (McCulloch u. Pitts 1943). Der Mathematiker Claude E. Shannon zeigte mit seiner »mathematischen Theorie der Kommunikation« (1948), dass jede Information unabhängig von ihrem physischen Träger in einen binären Code digitalisiert werden kann, und schuf damit eine wichtige Grundlage zur Entwicklung der Computertechnologie. Die alle diese Konzepte verbindende Vorstellung, dass eine Information als »Unterschied, der einen Unterschied macht« (G. Bateson) völlig unabhängig von ihrer materiellen oder energetischen Basis betrachtet werden kann, erlaubte es, die klassischen Grenzen von Mensch und Maschine, Körper und Geist, Subjekt und Objekt, psyche und techne zu dekonstruieren und das verfügbare Wissen auf eine Weise zu reorganisieren, dass technische, psychologische, soziologische, politische, ökonomische, ästhetische und biologische Phänomene gemeinsam auf die fundamentalen Begriffe der Information und des Feedbacks zurückgeführt – und digitalisiert – werden konnten (Pias 2004b). Diese Vorstellung führte zu einer radikalen Abkehr vom linear-kausalen und reduktionistischen Denken der Zeit und zu der Hoffnung, dass die großen gesellschaftlichen Aufgaben, vor denen die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg stand, mithilfe kybernetischer Kontroll- und Steuerungsmodelle gemeistert werden könnten.8