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1.3Systemische Epistemologie

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Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die für die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung wesentlichen ideengeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Strömungen.7 Dabei steht die Vermittlung der erkenntnistheoretischen Grundkonzepte im Vordergrund, eine wissenschaftshistorische oder personenbezogen-biografische Einordnung der dargestellten Theorieentwicklungen würde dieses Kapitel sprengen.

Erkennbar wird, dass sich die hier vorgestellten epistemologischen Konzepte, auf die im Rahmen systemischer Therapie und Beratung immer wieder Bezug genommen wird, nicht auf eine einheitliche theoretische Grundlage zurückführen lassen. Einige sind in Hinsicht auf ihre philosophische Orientierung, ihre konzeptuellen Wurzeln und ihre begrifflichen Traditionen so unterschiedlich, dass man allenfalls von einer Familienähnlichkeit sensu Wittgenstein reden kann. Betrachtet man diese Unterschiede genauer, treten dabei auch handfeste Widersprüche, gelegentlich auch theoretische Unvereinbarkeiten zutage. Schon die Frage, was denn eigentlich die Bestandteile eines Systems sind, wird kontrovers beantwortet.

Das Lehrbuch löst diese Widersprüche nicht auf, sondern zeigt die Vielfalt systemischer Theoriebildung, indem die unterschiedlichen Konzepte nebeneinandergestellt werden. Die Reihenfolge zeigt weder eine strikt zeitliche Abfolge noch eine Hierarchie an. Auch ein kritischer Vergleich systemischen Denkens ist im Rahmen eines Lehrbuches kaum zu leisten, zumal der systemische Diskurs der vergangenen Jahrzehnte eine kritische Auseinandersetzung der unterschiedlichen systemisch-konstruktivistischen Perspektiven nicht gerade gepflegt hat. Man könnte auch sagen, dass in der systemischen Bewegung die Einnahme einer »systemischen Haltung«, die auch in theoretischen Fragen die Wertschätzung von Unterschieden betont und insofern mit einer toleranten, eher großzügigen Rezeptionskultur verbunden ist, deutlichen Vorrang vor begrifflicher Präzision und theoretischer Schärfung hatte und hat. Der Vorteil ist dabei die Vermeidung von Schulstreitigkeiten und Ausgrenzungen, die etwa das Feld der Psychoanalyse lange Jahrzehnte geprägt haben. Die Gefahr fehlender theoretischer Auseinandersetzungen einerseits und einer eher lockeren und beliebigen Theorierezeption durch Praktiker andererseits ist aber, dass das Konzept der systemischen Therapie und Beratung an inhaltlicher Stringenz verliert. Dass der Begriff »systemisch« mit seiner Ausdehnung und Popularisierung (im Unterschied z. B. zur Systemtheorie) immer mehr an inhaltlicher Bedeutung verliert, ist ein deutlicher Hinweis darauf.

Gregory Bateson hat die Maxime ausgegeben, dass wissenschaftlicher Fortschritt am ehesten aus einer Kombination von lockerem und strengem Denken zu erwarten ist. Ersteres ermöglicht die Bildung von Hypothesen aufgrund von Spekulationen und der Einbeziehung von Fantasie und Intuition, Letzteres ist für theoretische Anstrengungen und formale Analysen unabdingbar. Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass eine systemische Haltung alleine noch keine Begründung des systemischen Ansatzes darstellt. Eine gründliche theoretische Fundierung ist vor allem im Hinblick auf den zukünftigen Stellenwert systemischer Theorie und Praxis mehr denn je vonnöten. Dieses Kapitel lädt daher zur Auseinandersetzung mit den Bausteinen einer solchen Fundierung ein. (Tom Levold)

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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