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1.3.6Die Systemtheorie Niklas Luhmanns

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Tom Levold

Die Arbeiten des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998) sind seit der Veröffentlichung von Soziale Systeme (1984), welche die »autopoietische Wende« in Luhmanns Werk markiert, zu einer Referenztheorie des systemischen Ansatzes geworden – vor allem durch die Arbeiten von Ludwig Reiter und Egbert Steiner (z. B. 1986, 1996; Steiner u. Reiter 1986), Kurt Ludewig (z. B. 1997, 2009), Fritz B. Simon (z. B. 1993, 2011) u. a. m. Die Systemtheorie Luhmanns wird dabei als umfassende Theorie sozialer und psychischer Systeme, als Supratheorie, rezipiert, die in ausreichender Abstraktion Gesichtspunkte zur Beschreibung relevanter Phänomene einer klinischen bzw. beraterischen Praxis zur Verfügung stellt.

Entscheidendes Bestimmungsmerkmal für die Konstitution von Systemen ist bei Luhmann in Anschluss an von Bertalanffy (vgl. Abschn. 1.3.1; Luhmann 1984, S. 22) die Differenz zwischen System und Umwelt und die Festlegung von spezifischen »Systemoperationen« als Elementen, aus denen das System besteht.

Ziel ist eine umfassende Theorie der Gesellschaft als Gesamtheit aller sozialen Phänomene, die dabei trennscharf von biologischen und psychologischen Phänomenen abgegrenzt werden sollen, damit körperliche Prozesse oder individuelle Bewusstseine nicht als Bestandteile sozialer Systeme in Rechnung gestellt werden müssen. Aus diesem Grund ist der Mensch für Luhmann keine soziologisch brauchbare Kategorie (1995), soziale Systeme sind autonom gegenüber menschlichem Willen und Bewusstsein (zur Kritik dieser Auftrennung vgl. Dziewas 1992). Biologische, psychische und soziale Systeme werden als operational geschlossene Systeme konzipiert, d. h., sie existieren nur dann und so lange, als ihre Einheit durch ihre systemspezifischen Operationen (biochemische Prozesse, Vorstellungen, Kommunikationen) hergestellt wird, die in einem kontinuierlichen Ereignisstrom aneinander anschließen. In Anlehnung an H. Maturana (vgl. Abschn. 1.3.5), der die Ausdehnung des Autopoiese-Konzeptes durch Luhmann übrigens entschieden ablehnt, bezeichnet Luhmann nicht nur biologische (Zellen bzw. Organismen), sondern auch psychische und soziale Systeme als autopoietisch, da sie sich vermittels ihrer eigenen Operationen reproduzierten.

Sinn ist die Form, in der psychische und soziale Systeme dies vollziehen. Sinn wird also nicht inhaltlich bestimmt (etwa über den Unterschied von »Sinn« und »Unsinn«). Sinnsysteme reduzieren Komplexität, d. h., sie wählen jederzeit aus einer Vielzahl von möglichen Anschlussoperationen eine spezifische aus, wobei diese Unterscheidungen kontingent sind, d. h., sie könnten auch jeweils anders ausfallen. Insofern wird im Prozess der Selektion von Systemelementen jederzeit Nichtbeabsichtigtes, Ausgeschlossenes oder Abweichendes mit hervorgebracht. Systeme erzeugen also ihre eigene »Störung« fortwährend selbst (Blom u. van Dijk 1999, S. 201).

Bewusstsein und Kommunikation nehmen auf Sinn Bezug und sind daher über das Medium Sinn strukturell miteinander verkoppelt, sie »interpenetrieren«. Jedes kommunikative Ereignis ist gleichzeitig auch ein Bewusstseinsereignis, ohne Bewusstsein ist Kommunikation unmöglich. Die Koppelung vollzieht sich aber nicht auf der Ebene von Systemstrukturen, sondern in der Synchronisierung von Systemereignissen (ebd., S. 205). Dabei spielt bei Luhmann für beide Systeme Sprache eine ausschlaggebende Rolle. Während Kommunikationen beobachtet werden können, entziehen sich aber psychische Systeme grundsätzlich einer empirischen Untersuchung – sie haben in der Systemtheorie den Status einer Blackbox.

Mit diesem Ansatz verzeichnet die Systemtheorie Luhmanns erhebliche Abstraktionsgewinne und kann damit sehr unterschiedliche soziale Phänomene auf der Mikrowie auf der Makroebene beschreiben. Im Kontext von Psychotherapie irritiert die Aufgabe von »alteuropäischen Begriffen« wie »Mensch«, »Subjekt« und »Akteur« zunächst, geht es doch in therapeutischen Diskursen klassischerweise um die (Selbst-)Veränderung von Menschen. Das trifft auch für solche systemtherapeutischen Ansätze zu, die davon ausgehen, dass soziale Systeme, z. B. Familien, aus Menschen und ihren Beziehungen zueinander bestehen. Der theoretische Verzicht auf Akteure führt im Kontext unserer subjektorientierten Sprache auf jeden Fall zu begrifflichen Problemen: Postuliert man nämlich: »[N]iemand kann kommunizieren, nur Kommunikation kommuniziert« (Fuchs 2011, S. 15), dann tritt die Kommunikation selbst semantisch in die Akteursposition ein. Die Fokussierung auf Kommunikation anstatt auf Menschen erlaubt allerdings, nicht Probleme und menschliches Leid für den Gegenstand von Psychotherapie und Beratung zu halten, sondern präziser: die Kommunikation über Probleme und menschliches Leid. Zudem kommt der therapeutische Prozess selbst als Kommunikationssystem in den Blick, in dem stabile psychische und soziale Operationsmuster des Klientensystems durch kommunikative Angebote seitens der Therapeutinnen verstört und zu Veränderungen angeregt werden – oder eben nicht. Drittens wird Psychotherapie aus dieser Perspektive als eigenes Funktionssystem der Gesellschaft beobachtbar, das über einen eigenen Code und die entsprechenden Handlungsprogramme verfügt – und im Unterschied etwa zur Medizin eher mit der »Verwaltung der vagen Dinge« beschäftigt ist (vgl. ebd.).

Kommunikation liegt als Basisoperation für Luhmann dann vor, wenn es zur Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen kommt. Die Kontingenz jeder Kommunikation erzeugt notwendigerweise bei den beteiligten psychischen Systemen (Kommunikationspartnern), die füreinander ja Blackboxes sind, Ungewissheiten über den Fortgang der Kommunikation bzw. über die Bedeutung, die den Kommunikationen gegeben wird. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von doppelter Kontingenz, die zu paradoxen und selbstrückbezüglichen Schleifen führen kann (»Ich erwarte, dass du weißt, dass ich weiß, dass du mich liebst« etc.). Das Problem der doppelten Kontingenz ist durch Authentizitätsprüfungen (»Sag mir, was du wirklich denkst«, »Ich will jetzt mal ganz ehrlich sein« etc.) nicht aufhebbar, da auch sie den Bedingungen doppelter Kontingenz unterliegen.

Jede Kommunikation lässt sich anhand sachlicher (Inhalt), sozialer (Teilnehmer) und zeitlicher (Anschluss an frühere oder zukünftige Kommunikationen) Sinndimensionen beschreiben. Je nach Systemtyp ergeben sich daraus unterschiedliche Strukturen, die spezifische Anforderungen an therapeutische oder beraterische Prozesse stellen (Familientherapie, Supervision, Organisationsberatung etc.). Während in Organisationen bestimmte Themen und Inhalte durch deren Ziele und Zwecke vorgegeben sind und die Mitgliedschaft in einer Organisation an die zeitlich begrenzte Übernahme einer spezifischen Rolle gebunden ist, stellen Interaktionssysteme als »Kommunikation unter Anwesenden« (Kieserling 1999) eher temporäre Systeme dar, deren Dauer von der Interaktion der Teilnehmer im Kontext einer Face-to-Face-Begegnung bestimmt wird (Party, Begegnung in der Straßenbahn, Teamsitzung etc.).

Die Familie ist ein eigener Systemtyp insofern, als hier die Teilnahme nicht über eine Mitgliedsrolle definiert wird, Nichtteilnahme führt also nicht zu Ausschluss. Thematisch ist hier die Person – im Unterschied zur Organisation – als »Vollperson« von größter Relevanz, entsprechende Kommunikationserwartungen können daher nicht mit dem Hinweis auf Privatheit zurückgewiesen werden. Das gilt in erster Linie für die Paarkommunikation, die mit höheren Intimitätserwartungen einhergeht als die eher asymmetrisch angelegten Eltern-Kind-Beziehungen (Blom u. van Dijk 1999, S. 207). Entlang den Entwicklungslinien der Familie (Geburt, Reifung, Auszug, Trennung, Scheidung, Neuverheiratung usw.) müssen die familiären Kommunikationsmuster hinreichend stabil sein, um die Identität der Familie und der beteiligten Personen zu gewährleisten, aber auch flexibel genug, damit Veränderungen oder Krisen bewältigt werden können.

Konflikte und problematische Kommunikationsmuster (rigide Subsystembildung, Tabuisierungen, stereotype Zuschreibungen, Rückgriff auf Traditionen und Gewohnheiten, Streitmuster etc.) können aus dieser Perspektive als Stabilisierungsmechanismen in Situationen verstanden werden, in denen Bestand oder Struktur der Paarbeziehung bzw. Familie bedroht erscheinen. Das Problem von Konflikten liegt für Luhmann eher in ihrer Tendenz in Richtung einer exzessiven Stabilität als in ihren destabilisierenden Effekten (ebd., S. 212). Im therapeutischen System geht es aus dieser Perspektive darum, durch gezielte Interventionen das Kommunikationssystem der Klienten anzuregen, die Erwartungen aneinander (und die daraus resultierenden »Erwartungserwartungen«; Luhmann 1984, S. 414) zu klären und gegebenenfalls zu einer neuen Balance von Stabilität und Flexibilität in seinen Kommunikationsmustern zu gelangen.

Die Theorie sozialer und psychischer Systeme Luhmanns ist in hohem Maße an das Medium der Sprache gebunden. In der Psychotherapie und Beratung spielen körperliche und affektive Prozesse eine wesentliche Rolle, die aus der Perspektive der luhmannschen Theorie so gut wie nicht erfasst werden. Sie tauchen bei ihm allenfalls als »Adressen« bzw. als Anlässe für Kommunikation auf. Die Nützlichkeit der luhmannschen Systemtheorie für eine klinische Epistemologie könnte erheblich gesteigert werden, wenn der Kommunikationsbegriff von seiner Engführung auf Sprache gelöst und um affektiv-körperliche Komponenten erweitert werden würde. Ob dies im Rahmen der vorgegeben Theoriearchitektur machbar ist, muss sich erweisen.

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