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Skepsis gegenüber der großen Erzählung »Psychopathologie«

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Die Essenz von Jean François Lyotards postmodernem Wissen (1994) liegt in der Skepsis gegenüber den »großen Erzählungen« oder »Metaerzählungen«, d. h. den groß angelegten Theoriegebäuden und Erzähltraditionen, die unsere Auffassung dessen, was das Leben in den unterschiedlichsten Bereichen ausmacht, und dessen, welche Bedeutungen sie für unser Alltagsleben haben sollen, prägen. Auch Psychoanalyse und Systemtheorie lassen sich als universelle Erklärungsmodelle dazurechnen. Solchen allumfassenden Theorien stellt Lyotard die »kleinen Erzählungen« gegenüber, die innerhalb lokal gebundener Gespräche (Diskurse) stattfinden und die der Bewältigung von Alltagsproblemen und der Erschaffung von (neuen) Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten dienen. Es liegt nahe, therapeutische und beraterische Formen der Zusammenarbeit eher in diesem Bereich zu lokalisieren.

Die große Erzählung der »Psychopathologie« folgt dem medizinischen Modell einer objektivierbaren Diagnostik, die jeder Behandlung vorauszugehen hat. Dieses Modell dominiert die etablierten wissenschaftlichen Diskurse und führt zur Konstruktion einer »harten« Wirklichkeit, von deren Akzeptanz die meisten Therapeuten existenziell abhängig sind: Ohne die »Feststellung« eines an ein Individuum gebundenen psychopathologischen Befundes (einer Diagnose) ist eine kassenfinanzierte Psychotherapie nicht möglich (vgl. Kap. 1.6).

In Anlehnung an Lyotard liegt die Legitimationsquelle psychotherapeutischer Zusammenarbeit jedoch insbesondere in qualitativ unterscheidbaren, lokal gebundenen sozialen Diskursen – kleinen Erzählungen also, die Neues hervorbringen und nicht am universellen psychopathologischen Konsens orientiert sein müssen. Lyotard nennt dies »Legitimierung durch Paralogie« (Lyotard 1994, S. 175). Psychotherapeutische Kooperationsformen sind also legitimiert, wenn sie von den Beteiligten gemeinsam als nützlich, ethisch verantwortungsvoll und schöpferisch eingeschätzt werden.

Die Feststellung von Klienten, ihnen habe eine Psychotherapie genützt und ihre Ziele seien erreicht worden, kann als valide anerkannt werden, wenn deutlich wird, wie durch die therapeutische Zusammenarbeit neue Ideen und neuer Sinn hervorgebracht und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet wurden.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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