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Die systemisch-konstruktivistische Sichtweise in der Erziehung und im Unterricht
ОглавлениеWoran erkennen wir als Beobachter eine systemisch-konstruktivistische Haltung? Die wesentlichen Merkmale sind der Umgang miteinander, die Interaktion, die Beziehung. In ihnen drückt sich das wechselseitige Verhältnis zu den Wirklichkeitskonstruktionen aus, die Menschen entwickeln und miteinander austauschen. Auch wenn jedes Subjekt dies in konstruierenden Akten für sich vollziehen muss, so geschieht dies immer zugleich in Interaktion, denn kein Subjekt steht für sich allein. Dies stellt alle Beziehungsfragen sofort vor das Problem, in welcher Art Beziehungen organisiert sind und welche Macht in ihnen eine Rolle spielt, mit welchen Strategien man es zu tun hat.
Konstruktivisten und Systemiker wird man daran erkennen, dass sie den Konstrukten der jeweils anderen Bedeutung zurechnen, dass sie nicht vorschnell alles nur aus ihrer Sicht vereinnahmen und im Sinne vorab entschiedener Bedeutungen richten wollen. Im Bereich der Partizipation wird in der Erziehung und im Unterricht nicht nur eine Lernerorientierung vertreten, sondern es wird versucht, die Lerner tatsächlich an der Auswahl von Zielen, Inhalten, Methoden und Beziehungen in der Erziehung und im Unterricht aktiv zu beteiligen. Grundsätzlich besteht ein Anspruch auf Förderung aller Lerner, der dieser Maxime zu folgen bemüht ist:
»Handle stets so, dass die Lernmöglichkeiten, Lernchancen und Lernanlässe deiner Lerner wachsen, sodass es zu einer Zunahme von Perspektiven, Handlungschancen und vielfältigen Lernergebnissen kommt« (Reich 2008, S. 254).
Aus der genannten Maxime treten drei Handlungsperspektiven besonders hervor, die auch im internationalen Vergleich in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder als Fazit konstruktivistischer Forschung und Praxis genannt werden.
Multiperspektivität: Lernende aller Altersgruppen sind unterschiedlich. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich nicht nur auf die Erziehungsprozesse und das Lernen selbst, sondern auch auf die kulturellen Voraussetzungen. Menschen sind hinsichtlich der Situiertheit ihres Aufwachsens bzw. Aufgewachsenseins und entsprechend der familiären Lebensweise, ihrem Migrationshintergrund, den persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen, ihren Krisen, Benachteiligungen oder Bevorzugungen, Behinderungen, Einschränkungen oder Fähigkeiten immer unterschiedlich. Sie unterliegen zudem den Effekten globalisierter kultureller Vermischung, einer Kultur, die beschleunigt und ambivalent alle Wirklichkeitskonstrukte auf die Probe stellt und notwendig mit einer Vielfalt an Perspektiven einhergeht, die in der Erziehung und im Unterricht eingenommen werden können. Lernende sollen gegenseitig die Unterschiedlichkeit von Perspektiven nicht nur einnehmen können, sondern auch verstehen, worin der Gewinn des Unterschiedlichen und mehrerer Perspektiven für sie und die anderen besteht. Sie sollen konkret erfahren lernen, wo und wie eigene Sichtweisen durch andere bereichert werden (vgl. auch Reich 2012).
Multimodalität: Je unterschiedlicher und individueller Lernende sind, desto unterschiedlicher müssen die Wege sein, auf denen relevante Inhalte vermittelt werden. Hierbei ist nicht nur an Abwechslung gedacht, die auch sinnvoll ist, sondern an ein methodisches Gesamtbild, das nicht in der ewigen Wiederkehr erzieherischer Ermahnungen oder von Frontalphasen mit kleineren Übungen aus dem Schulbuch aufgeht. Konstruktivisten und Systemikerinnen erkennt man daran, dass sie nicht nur vier bis fünf Lieblingsmethoden praktizieren, sondern den Methodenpool in seiner gesamten Breite auszuschöpfen versuchen und stets bereit sind, neue, eigene Methoden zu entwickeln.
Multiproduktivität: Handlungen erzeugen Ergebnisse. Ergebnisse, Produkte in allen Formen, sind wesentlich dafür, Erziehungs- und Lernprozesse zu vervollständigen, Probleme zu lösen und die Lösungen zu zeigen. Es geht nicht darum, Problemlösungen von anderen auswendig zu lernen, sondern Probleme lösen zu lernen. Je stärker ein Erziehungs- oder Lernprozess nicht nur durchgeführt, sondern auch dokumentiert, präsentiert und reflektiert wird, desto nachhaltiger kann das Gelernte über einen längeren Zeitraum hinweg behalten werden. Die zu Erziehenden müssen lernen, ihre Ressourcen eigenständig und verantwortlich einzuschätzen und für sich so zu konstruieren, dass sie die für sie passenden Lösungen finden.
Für die konstruktivistische und systemische Sichtweise ist es sehr wichtig, die eigene Vision so zu entwickeln, dass Außenstehende leicht erkennen können: Hier bemüht sich jemand um eine Erziehungs- und Lernumgebung, die Wachstum für alle und jeden in besonderer Weise ermöglicht, die fördern will, aber die Präsenz dabei nicht vergisst, die weiß, dass zunächst die Beziehungen stimmen müssen, bevor Inhalte gelernt werden können. Dies ist immer eine offene, an dialogischer Kommunikation orientierte Haltung, die in pädagogischen Prozessen insbesondere jegliche Besserwisserei zu vermeiden versucht. Dabei ist es wichtig, dass ein konstruktivistischer Habitus nicht beliebig bleibt, sich nicht auf den Allgemeinplatz »Alles ist irgendwie ja doch nur konstruiert« zurückzieht. Dieser Allgemeinplatz verkennt, dass einmal konstruierte Wirklichkeiten als Vorgaben und Bedingungen zirkulieren und bestimmen, welche Lebenschancen sich eröffnen. Im Miteinander, in der sozialen Kommunikation, sollte daher immer auch ein Anspruch stecken, Partizipation und Demokratie zu wagen und zu entwickeln, ein Anspruch aber auch der Förderung und Solidarität gegenüber Benachteiligten. Gerechtigkeit, insbesondere Bildungsgerechtigkeit (die schon weniger ist als die Illusion der Chancengleichheit, weil es gleiche Chancen nicht gibt), Fairness, zugegebene Unvollständigkeit und Ehrlichkeit in pädagogischen Prozessen setzen die Einsicht voraus, dass wir solidarisch mit allen Menschen und insbesondere Lernenden umgehen müssen, indem wir alle fördern, aber insbesondere auch darauf achten müssen, dass nicht immer stärkere Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten entstehen.