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1.3.1Von Bertalanffys Allgemeine Systemtheorie

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Tom Levold

Die Grundfragen, mit denen sich systemisches Denken beschäftigt, sind keineswegs neu, sondern reichen bis in die Antike (Brunner 1997). Neben Aristoteles werden in einschlägigen Lexika immer wieder Nikolaus von Kues, Leibniz oder auch Goethe als Vorläufer genannt (Drack, Apfalter u. Pouvreau 2007, S. 350). Der moderne Systembegriff ist hingegen eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts, an der der Österreicher Ludwig von Bertalanffy (1901–1972) mit seiner »Allgemeinen Systemtheorie« (General System Theory, 1968) entscheidenden Anteil hatte.

Auch wenn er in der Öffentlichkeit als Biologe bekannt war, stand nicht die experimentelle Biologie als empirische Wissenschaft im Mittelpunkt seiner Laufbahn (Drack, Apfalter u. Pouvreau 2007, S. 361), sondern eher die Beschäftigung mit naturphilosophischen Fragestellungen, über die er auch bei Moritz Schlick promovierte, dem Mitbegründer des legendären Wiener Kreises. Ihn interessierte die theoretische Integration biologischer, psychologischer, philosophischer und soziologischer Gegenstandsbereiche zu einer allgemeinen Theorie lebender Systeme (Drack 2008), für die die Beschäftigung mit Organismen nur den Ausgangspunkt darstellt. Damit nimmt er von Anfang an eine transdisziplinäre Perspektive ein, die ein Kennzeichen des systemischen Ansatzes ist (vgl. Kap. 1.1).

Auf seine theoretische Entwicklung hatte neben der im Wiener Kreis angestrebten Idee einer umfassenden Einheitswissenschaft u. a. die Zusammenarbeit mit dem Biologen Paul Weiss großen Einfluss, ebenso das Werk des Begründers der Gestaltpsychologie, Wolfgang Köhler, der den Begriff der »Systemlehre« prägte und den von Bertalanffy als seinen »Vorläufer« betrachtete (zu von Bertalanffys theoretischer Entwicklung s. Drack, Apfalter u. Pouvreau 2007).

Entscheidender Motor für die Entwicklung der Systemtheorie war von Bertalanffys Kritik am reduktionistischen physikalisch-mechanistischen Weltbild seiner Zeit. Dem setzte er ein Verständnis von Organismen als in Bezug auf Austausch von Energie, Materie und Information offenen Systemen gegenüber, die sich unter den Gesichtspunkten von Ganzheit, (Selbst-)Organisation, Zielorientierung, Hierarchie, Regulation usw. beschreiben lassen (von Bertalanffy 1967, S. 127). Sie verfügen über eine dynamische, d. h. durch die wechselseitige Interaktion ihrer Bestandteile und Prozesse bedingte Ordnung und Organisation (ebd.), die im Kontakt mit der Umgebung aufrechterhalten werden. Damit löst er sich vom klassischen »Paradigma des Ganzen und seiner Teile« und ersetzt diese »traditionelle Differenz […] durch die Differenz von System und Umwelt«, woran später auch Luhmann mit seiner Theorie sozialer Systeme (vgl. Abschn. 1.3.6) anschließt (1984, S. 22).

Die unterschiedlichen Systeme sind für ihn in einer Hierarchie von Integrationsstufen bzw. Systemen zunehmend höherer Ordnung von der Zelle über Individuen bis hin zur Gesellschaft angeordnet. Auf jeder Ebene entstehen durch die Interaktionsdynamik der beteiligten Elemente neue Organisationsformen, die sich nicht auf die Operationen der Elemente reduzieren lassen. Dieses Phänomen wird als »Emergenz« bezeichnet (vgl. von Bertalanffy 1950). Aufgrund ihrer Strukturähnlichkeit (Isomorphie) lassen sich die allgemeinen Gesetze der Systemtheorie auf materielle ebenso wie auf mentale bzw. symbolische (sprachliche) Systeme anwenden. Der Zustand eines Systems ergibt sich jeweils aus den Prozessen des Austauschs mit der Umwelt, den internen Beziehungen der Systemelemente sowie aus der Geschichte des Systems – und ist nicht auf kausale Einflüsse von außen reduzierbar.

Von Bertalanffy entwickelte parallel zum Konzept der Homöostase des Physiologen und Kybernetikers Walter Cannon den Begriff des Fließgleichgewichtes, mit dem die Tendenz lebender Systeme ausgedrückt wird, einen bestimmten Zustand konstant innerhalb bestimmter Grenzen zu halten und zu stabilisieren. Dieser Zustand kann von ganz unterschiedlichen Anfangsbedingungen aus erreicht werden, von Bertalanffy spricht hier von Äquifinalität. Durch Rückkoppelungsprozesse werden Abweichungen vom Systemzustand verstärkt bzw. reduziert (Feedback). Negative Rückkoppelungen gleichen Abweichungen aus, positive Rückkoppelungen verstärken sie.

Der Begriff der Homöostase bekam schon früh in der systemischen Familientherapie einen sehr großen Stellenwert, nicht zuletzt dank seiner Popularisierung durch Watzlawick, Beavin und Jackson (2011, S. 131 ff.), deren Bild des Thermostaten als Metapher für die Regulierung der Familiendynamik Berühmtheit erlangt hat. Damit einher ging die Idee, dass mit dem Einsatz geschickter Interventionen durch die Therapeuten Klientensysteme analog zu einem technischen System neu kalibriert (ebd., S. 135) werden könnten. Diese Vorstellung, die sich dem ursprünglichen Verständnis der Kybernetik als Steuerungswissenschaft zur Regulierung komplexer Systeme verdankt, wurde zu Beginn der 1980er-Jahre heftig kritisiert, da sie in erster Linie auf die konservativen Beharrungskräfte in sozialen Systemen fokussiere und nicht auf die ihnen innewohnenden Veränderungstendenzen (Morphogenese).

Die Allgemeine Systemtheorie von Bertalanffys wird in der Rezeption einerseits häufig als Wegweiser für die Entwicklung des systemischen Ansatzes genannt, aber gleichzeitig auch mit den kritisierten Steuerungsmodellen in den Topf der zu überwindenden »kybernetischen Altlasten« geworfen (vgl. Speer 1970). So behauptete Elkaïm (1985), dass von Bertalanffy dem Aspekt der Konstanterhaltung eines Systems innerhalb bestimmter Normen weitaus mehr Raum als seiner Veränderung gegeben habe (während er ihn noch fünf Jahre zuvor genau gegenteilig vor diesem Vorwurf in Schutz genommen hatte; vgl. Elkaïm 1980, S. 150). Zu solch kritischen Einschätzungen dürfte die positive Rezeption der Ideen von Bertalanffys in Kreisen konservativer militärischer und industrieller Planungsdiskurse eine Rolle gespielt haben (Ramage u. Shipp 2009, S. 60), die er selbst allerdings nicht gefördert hat.

Von Bertalanffy war aber alles andere als ein Bewahrer und hat sich selbst sehr kritisch gegenüber der Kybernetik als Steuerungswissenschaft geäußert (die im Übrigen auch nur einen bestimmten Aspekt kybernetischen Denkens ausgemacht hat; vgl. Abschn. 1.3.2). Er schreibt:

»Das Homöostase-Konzept – häufig angewandt in der Psychologie – erstreckt sich auf tierisches Verhalten nur zum Teil und auf einen Großteil des menschlichen Verhaltens überhaupt nicht« (1967, S. 129), und fordert »eine komplette Revision des originären Homöostase-Prinzips« (ebd., Übers.: T. L.).

Im Hinblick auf psychische und soziale Systeme betrachtet er Homöostase nicht als eine Art natürlichen Gleichgewichtszustand, sondern als Ausdruck einer Pathologie, die sich aus der »Abnahme nichthomöostatischer Funktionen« z. B. bei psychiatrischen Patienten erklären lässt (ebd., S. 130). Lebende, psychische und soziale Systeme tendieren dagegen zu zunehmender Differenzierung und Organisation (ebd., S. 133). Dies entspricht der klinischen Beobachtung, dass repetitive Verhaltens-, Fühl- oder Denkmuster vor allem in Problem- und Krisensituationen zu beobachten sind, wenn in Systemen die Zahl der zur Verfügung stehenden Verhaltensoptionen abnimmt.

In dieser Abgrenzung zur Kybernetik seiner Zeit ist nicht nur seine humanistische Orientierung deutlich erkennbar, die ja auch schon in seiner Verbindung mit der Gestalttheorie zum Ausdruck kommt. Er erteilt damit auch allen Vorstellungen einer Regulierung von Systemen durch äußere Interventionen eine Absage und nimmt damit früh das Anfang der 1980er-Jahre verbreitete Autopoiese-Konzept Maturanas (vgl. Abschn. 1.3.5) vorweg:

»Ein Stimulus (z. B. Änderungen externer Bedingungen) verursacht keine Prozesse in einem ansonsten untätigen System; er modifiziert nur Prozesse in einem autonom aktiven System« (von Bertalanffy 1967, S. 129; Übers.: T. L.).

Diese Prozesse gehen für ihn weit über die Reduzierung von Spannungen oder die Bedürfnisbefriedigung hinaus, sie sind intrinsisch motiviert und werden durch ihre erfolgreiche Umsetzung (»Funktionslust« im Sinne Karl Bühlers) autonom verstärkt.

Auch wenn Menschen als Organismen auf die Befriedigung biologischer Bedürfnisse angewiesen sind, leben sie in erster Linie in einer symbolischen (Um-) Welt, die menschliche und tierische Gesellschaften voneinander unterscheidet (vgl. hierzu bes. Rapoport 1974). Die Ausrichtung menschlichen Handelns auf Ziele und die Realisierung von Werten zeigt für von Bertalanffy, wie symbolische Entitäten sich von ihren Schöpfern abgelöst und eine eigene Bedeutung für Kommunikationssysteme erlangt haben (von Bertalanffy 1967, S. 132). Aus diesem Grund weist er auch triebtheoretische Konzepte bzw. Modelle frühkindlicher Determination menschlicher Entwicklung, die zum damaligen Zeitpunkt die Psychotherapielandschaft dominierten, als reduktionistisch zurück (ebd.).

Mit der konstruktivistischen Wende, die die Geburtsstunde der systemischen Therapie und Beratung markierte, ist der philosophische Beitrag von Bertalanffys für die Entwicklung des systemischen Ansatzes zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten bzw. in die Fußnoten der einschlägigen Einführungswerke gerutscht. Denn von Bertalanffy war sich schon in seinen frühen Arbeiten – in Anlehnung an die Philosophie Nikolaus’ von Kues – stets der Relativität von Beobachterkategorien bewusst (Weckowicz 1988, S. 4 f.). Noch kurz vor seinem Tode schrieb er einige Passagen zur systemischen Epistemologie, die sich sehr aktuell lesen. Dort plädiert er gegen eine »Kameratheorie« des Wissens über die Wirklichkeit und für eine »Perspektivenphilosophie«, welche die Interaktion von Wissen und Wissenden ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, ohne einen Monopolanspruch auf Wissen zu erheben (von Bertalanffy 1972, S. 423). Auch Wissenschaft wäre dann nur eine von vielen Perspektiven, die sich Menschen geschaffen haben.

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