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1.2.7Krankenpflege 6

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Lorraine M. Wright

Immer in der Geschichte der Krankenpflege war die Beteiligung der Familie wichtig, wenn dies auch nicht stets so benannt wurde. Da die Pflege ursprünglich im Haus der Patienten stattfand, waren Familienbeteiligung und Familienorientierung selbstverständlich. Mit dem Übergang zum Krankenhaus, verstärkt in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts, wurden Familien nicht nur von der Pflege der kranken Mitglieder ausgeschlossen, sondern oft auch von den großen Familienereignissen wie Geburt und Tod. Am Ende einer langen Entwicklung kehrt die Krankenpflege nun zum Ausgangspunkt zurück, mit der Verpflichtung, Familien erneut einzuladen, sich an ihrer eigenen Gesundheitsversorgung zu beteiligen. Jedoch gründet diese Einladung auf viel mehr Wissen, Forschung, Respekt und Zusammenarbeit, als dies jemals in der Geschichte der Krankenpflege der Fall war.

Heute haben Pflegekräfte eine ethische und moralische Verpflichtung, Familien in die Gesundheitsversorgung einzubeziehen. Diese klare Feststellung basiert auf Erkenntnissen der Pflegeforschung, dass Familien einen ebenso wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit und die Heilung ihrer Mitglieder haben wie auf Krankheit und Chronifizierung. Dies verpflichtet die Pflege, die Familienorientierung zu einem wesentlichen Bestandteil ihres professionellen Selbstverständnisses zu machen, systemisch und interaktionell zu denken und Wechselwirkungen zwischen Familie und Krankheit zu verstehen. Jedoch ist eine solche Pflege auf kooperative Beziehungen mit der Familie angewiesen, die sich an den Stärken der Familie orientieren müssen (Gottlieb 2012) und weitreichende Kenntnisse der Familiendiagnostik, Familienintervention und Methoden der Stärkung des familiären Heilungsprozesses zur Grundlage haben.

Worte und Sprache können die Anwendung und Verwirklichung systemischen und interaktionellen Denkens fördern und behindern. Nach einer über 35-jährigen Erfahrung als Ausbilderin und Supervisorin von Pflegekräften plädiere ich dafür, Ausdrücke wie »systemische Therapie«, »Familientherapie« oder »Therapeut« durch Ausdrücke zu ersetzen, die für die Pflege besser geeignet sind wie »Familiengespräch«, »Beziehungsarbeit« oder »Pflegegespräch«. Pflegekräfte aus verschiedensten medizinischen Praxisfeldern (z. B. Pädiatrie, Onkologie, Geriatrie, Kardiologie etc.) verstehen sich nicht als »Therapeuten«, sondern als Pflegekräfte, die keine Ausbildung in »Therapie« machen wollen. Als Ausbilderin von Pflegekräften hatte ich den größeren systemischen Rahmen und die historischen, kulturellen und professionellen Grundannahmen nicht erkannt, die das Selbstverständnis der Krankenschwester bzw. des Krankenpflegers bestimmen. Die wichtigsten Grundannahmen systemischen Denkens und systemischer Therapie implizieren nicht, dass Pflegekräfte systemische Therapiemethoden erlernen, sondern verstehen, wie auf kundige Weise die Interaktionen in der Familie bzw. zwischen Familienmitgliedern und Pflegekräften so verbessert werden können, dass sie eher heilungsfördernd statt pathogen sind. Entscheidend ist dabei der Gebrauch einer Sprache, die im Einklang mit den Erwartungen der Familien an die Rolle der Pflegekräfte und den besonderen Familienkompetenzen steht.

Pflegekräfte verfügen genauso wie Angehörige anderer Gesundheitsberufe über Kenntnisse und Erfahrungen, die die Familiengesundheit fördern. Sie öffnen sich umso mehr systemischen Gedanken, je mehr eine Sprache verwendet wird, die mit ihrem professionellen Grundverständnis im Einklang steht. Statt Begriffen wie »Interaktion«, »Wechselseitigkeit«, »systemische Therapie« oder »Familientherapie« bevorzuge ich daher Begriffe wie »Familiengespräch«, »Beratung«, »Lindern von Leiden« und »Förderung von Familiengesundheit« (Wright 2005; Wright u. Bell 2010; Wright u. Leahey 2009). Dies hat sich als sehr nützlich erwiesen, die Pflegeliteratur ist voll von Begriffen wie »Familienpflege«, »Familiengespräch«, »Familiensystempflege«, »familienorientierte Pflege« und »Familiengesundheitsversorgung«. Neue Ausdrücke und eine neue Sprache wurden hervorgebracht durch die Benennung, Beschreibung und Verbreitung von Konzepten der Einbeziehung von Familien in die Pflege, die einem übergeordneten systemischen Verständnis gerecht werden. Auf diese Weise ist eine große Zahl von Texten zur Einbeziehung von Familien in die Pflegearbeit entstanden (Feetham et al. 1993; Gilliss 1989; Kaakinen et al. 2009; Svavarsdottir u. Jonsdottir 2011; Wegner u. Alexander 1993; Wright u. Leahey 2009). Die wahrscheinlich wichtigste Monografie wurde vom International Council of Nurses mit dem Titel The family nurse: Frameworks for practice (Schober u. Affara 2001) herausgebracht und verdeutlicht die Wertschätzung, die der einflussreiche internationale Council der Family Nurse und der familienorientierten Pflege als wichtige und neue Entwicklungen in der Krankenpflege entgegenbringt.

Ein anderer wichtiger Entwicklungsschritt, der die wachsende Bedeutung der Familienpflege belegt, war die Gründung des Journal of Family Nursing im Jahre 1995. Damit hat die Pflege einen Ort, an dem Theorien, Forschungsergebnisse und internationale Praxiserfahrungen aus der Unterstützung von Familien geteilt werden können, die Krankheiten, Behinderungen oder Verluste zu meistern haben.

Zehn internationale Pflegekongresse haben seit 1988 in Kanada, Chile, Island, Thailand, Japan und den USA stattgefunden, auch dies eine weitere Anerkennung der Bedeutung und Verpflichtung, die Pflege von Familien systemisch anzugehen.

In dem Maße, in dem Pflegekräfte sich in Theorie, Forschung und Praxis mit der stärkeren Beteiligung von Familien in der Gesundheitsversorgung auseinandersetzen, ändert sich ihre herkömmliche klinische Arbeit. Sie werden in ihren Einschätzungen und Interventionen kompetenter, vor allem durch eine Optimierung der Zusammenarbeit von Pflege und Familien. Je mehr die Pflegenden verstanden haben, dass eine Krankheit eine Familienangelegenheit ist, desto leichter fällt es ihnen, Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben, die zur Führung eines Familiengespräches notwendig sind (Wright u. Bell 2010), und interaktionell und in Wechselwirkungen zu denken. Die Einsicht in die Wechselwirkung von Gesundheit, Krankheit und Familie ist dabei von besonderer Bedeutung.

In jedem klinischen Setting profitieren Pflegekräfte von einem klaren konzeptuellen Rahmen bzw. einer Landkarte für die Familie. Mithilfe dieses Rahmens können Daten über die Stärken und Probleme von Familien identifiziert und ein nützlicher Behandlungsplan ausgearbeitet werden. Ohne einen solchen konzeptuellen Rahmen ist es extrem schwierig für Pflegekräfte, disparate Daten zu einem konzisen Bild zusammenzufassen oder die Beziehungen zwischen den verschiedenen Variablen, die die Familie beeinflussen, zu verstehen.

Ein solcher konzeptueller Rahmen ist das »Calgary Family Assessment Model (CFAM)« (Wright u. Leahey 2009). Dabei handelt es sich um ein mehrdimensionales Instrument, welches Familien mit den Kategorien Struktur (Familienstruktur, erweiterte Familie und größere Systeme), Entwicklung (Entwicklungsphasen einschließlich der damit verbundenen Entwicklungsaufgaben) und Funktion (Kommunikation, Rollenwahrnehmung etc.) erfasst. Theoretisch fußt es auf Systemtheorie, Kybernetik, Kommunikationstheorie und Veränderungstheorie und nimmt Bezug auf Theorien der Postmoderne, des Feminismus und der Biologie der Kognition, zudem ist es kultursensitiv.

Das CFAM ist erfolgreich und wird heute in zahlreichen Ausbildungsprogrammen zur Familienpflege gelehrt.

Für die fortgeschrittene Familienpflege hat die Autorin das »Illness Beliefs Model (IBM)« mit entwickelt (Wright u. Bell 2010), das durch das »Trinity Model« (Wright 2005) ergänzt wird. Das IBM fokussiert auf die Wechselwirkung von Krankheitskonzepten bei Pflegekräften, Patienten und Familienmitgliedern. Das Trinity-Modell erweitert den Begriff von Krankheit und berücksichtigt die Interaktion von Krankheitskonzepten mit der Erfahrung von Leiden und Spiritualität.

Systemisches Denken und Handeln können als eigene Praxis im Vordergrund stehen oder aber in herkömmliches Handeln, etwa die Pflege, eingebettet sein. Am wichtigsten ist, dass alle im Gesundheitssystem Tätigen, insbesondere die Pflegekräfte, in der Lage sind, ihr Handeln so zu gestalten, dass das Leiden der Familien gelindert wird, wenn sie mit schwerwiegenden Krankheiten konfrontiert sind (Bell u. Wright 2011). Dies kann die Pflege zum systemischen Ansatz beisteuern.

Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch

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