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Technischer Wandel und technisches Wissen

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Wie bereits einleitend betont, beruhten technische Leistungen der vorindustriellen Zeit in allen Hochkulturen auf Erfahrungswissen. Dieses war höchstens ansatzweise schriftlich niedergelegt, wurde nicht in Ausbildungsinstitutionen mit einem festen Lehrplan gelehrt, sondern durch Anschauung vermittelt, und war nicht durch wissenschaftliche Theoriebildung nach modernem Verständnis abgesichert. Gewisse Ausnahmen stellen die technische Literatur der islamischen Hochkultur zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert, vergleichbare Bestände aus China und insbesondere die umfangreiche technische Literatur Europas seit dem Spätmittelalter dar.

Europäischer Vorsprung durch „Wissenschaft“?

Dennoch lässt sich die klassische These eines europäischen Vorsprungs der Technikentwicklung durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften für die Zeit bis ca. 1800 kaum halten. Zwar bestand in der Tat seit dem 16. Jahrhundert in Europa eine intensive Verschränkung von technischer Praxis und „wissenschaftlicher“ Theoriebildung. Bis weit in das 19. Jahrhundert konnte jedoch bislang kaum eine technische Innovation als Ergebnis wissenschaftlicher Überlegungen identifiziert werden. Als „angewandte Wissenschaft“ ist die europäische Technikentwicklung vor 1800 daher sicher nicht zu verstehen.

Innovationskulturen

Auffällig bleibt demgegenüber, dass sich seit dem Ausgang des Mittelalters in Europa im Umfeld der Territorialherren „Innovationskulturen“ verdichteten, die durch politische Konkurrenzverhältnisse befördert wurden und Erfindungen einen hohen Stellenwert zuschrieben. Diese Innovationskulturen umfassten administrativpolitische Elemente wie das Patentwesen seit seinen Anfängen im 15. Jahrhundert ebenso wie eine intensive Nutzung von Speichermedien wie Zeichnungen, Modellen und technischer Literatur. „Theoretische“ – im Sinne von allgemeingültigen – Erklärungen technischer Phänomene genossen dabei hohes Prestige. Das gilt auch innerhalb des im 18. Jahrhundert immer dichteren Geflechts von wissenschaftlichen Akademien und ökonomischen Sozietäten. In der Regel von der Obrigkeit gefördert, sollten gerade die ökonomischen Sozietäten praxisnahes Wissen generieren und damit den Agrarsektor ebenso wie Handwerk und Gewerbe eines Territoriums fördern. Eingebettet waren sie in dichte Kommunikationsnetzwerke, die sich über ganz Europa erstreckten. Zwar wirkten die Erkenntnisse der hier engagierten Gelehrten, Landbesitzer, Geistlichen und Verwaltungsbeamten nicht unmittelbar auf die technische Praxis des 18. Jahrhunderts ein. Sie spielten aber eine zentrale Vorreiterrolle für den Aufbau technisch-wissenschaftlicher Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen ebenso wie für die zunehmende Popularisierung technisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Wie bereits angedeutet, handelt es sich bei den „Speichermedien“ technischen Wissens als solchen nicht um eine exklusiv europäische Entwicklung, insofern technische Zeichnungen oder Traktate auch im arabischen Raum, China oder Japan belegt sind. Vielmehr führten die Vielfalt der einzelnen Elemente dieser Innovationskultur und ihre zunehmende Verdichtung im frühneuzeitlichen Europa mittelfristig zu einer bis dato unbekannten Akkumulation verschiedener Formen technischer Expertise. Komplexe technische Entwicklungen wie die Optimierung der Dampfmaschine für eine ökonomische Nutzung sind ohne derartige Kontexte nur schwer denkbar. Gleichzeitig regten Widersprüche zwischen unterschiedlichen Wissenstraditionen weitere Forschungen ebenso wie Standardisierungsprozesse technischen Wissens an, beispielsweise mit Blick auf die Ausbildung technischer Experten. Die Verstetigung technischer Innovationen im Europa des 19. Jahrhunderts, insbesondere in Bereichen wie der technischen Chemie oder der Elektrizität, ist letztlich nicht mehr ohne eine derartige Wissensbasis denkbar.

Ausblick

Warum es zu bestimmten Phasen zwischen 1200 und 1800 in unterschiedlichen Weltregionen zu einer Verdichtung technischer Innovationen kam, ist bislang nur unzureichend geklärt. Neben unterschiedlichen Wirtschaftsordnungen, politischen Rahmenbedingungen oder wissenshistorischen Entwicklungen werden auch impersonale Faktoren ins Spiel gebracht, insbesondere naturräumliche Bedingungen und Klimaschwankungen. Allerdings sind gerade die ökonomischen Auswirkungen klimatischer Veränderungen in den Jahrhunderten vor dem Einsetzen der Industrialisierung im globalen Vergleich kaum bekannt. Dies betrifft insbesondere die als „Kleine Eiszeit“ bezeichnete Phase, die zwischen etwa 1570 und 1730 durch eine Absenkung der jährlichen Durchschnittstemperatur die Lebensbedingungen in Mitteleuropa merklich beeinflusste.

Generell ist in Rechnung zu stellen, dass die technischen Entwicklungen aller Weltregionen im Zeitraum zwischen 1200 und 1800 immer im Rahmen der Möglichkeiten des solaren Energiesystems verliefen, insofern fossile Brennstoffe vor 1800 nur sporadisch zum Einsatz kamen. Kernelement solarer Energiesysteme aber sind Dezentralität, Schwankungen und begrenzte Speichermöglichkeiten von Energie: Menschliche Muskelkraft konnte vor allem durch den Einsatz von Arbeitstieren ergänzt werden, für deren Unterhalt standen jedoch nicht unbegrenzt Agrarflächen zur Verfügung. Energiequellen wie Wasser und Wind wurden mit Hilfe mechanischer Technik intensiv genutzt, trotz aller technischen Optimierungen konnten sie jedoch vor Ort nicht beliebig gesteigert werden. Vor den Zeiten der Eisenbahn determinierte angesichts hoher Transportkosten insbesondere für Massengüter auch die lokale Verfügbarkeit über Rohstoffe vielfach die Möglichkeiten gewerblicher Produktion.

Innerhalb solcher Grenzen waren jedoch, wie gesehen, vielfältige technische Entwicklungen möglich. Wie in Zeiten der chinesischen Song-Dynastie korrespondierten diese phasenweise mit ökonomischen Blütezeiten. Dass sich demnach das technische Niveau der Hochkulturen des solaren Zeitalters, trotz aller Schwankungen und geographischer Verschiebungen führender Zentren, lange Zeit auf einem vergleichbaren Niveau bewegte, wirft immer wieder neu die Frage auf, warum sich gerade in Europa technische Innovationsprozesse zum Ausgang der Frühen Neuzeit verstetigten. Vielfach sind dafür ökonomische und politische Rahmenbedingungen verantwortlich gemacht worden. So lassen sich gute Gründe dafür anführen, dass die territoriale Zersplitterung des frühneuzeitlichen Europa und die daraus resultierende, ständige Konkurrenz vergleichbar großer Staaten in der Militär- wie in der Ziviltechnik stärkere Impulse für die Herausbildung der beschriebenen Innovationskulturen mit sich brachte als die zentralistischen Strukturen des chinesischen Großreiches. Doch betont die neuere Forschung, dass auch das vorindustrielle China ein Konglomerat ökonomisch völlig unterschiedlich strukturierter Regionen darstellte, deren Wirtschaftsweise vielfach hoch kommerzialisiert war.

So gibt es in der Forschung auch eine Tendenz, den europäischen Sonderweg eher als „zufällige“ Entwicklung denn als konsequente Fortführung frühneuzeitlicher Tendenzen zu interpretieren: Der ökonomische Aufschwung des frühneuzeitlichen Europa wäre demnach im 19. Jahrhundert aller Voraussicht nach – wie vorher in anderen Hochkulturen – in eine Phase der Stagnation und des Niedergangs übergegangen. Eine Kombination technischer und naturräumlicher Entwicklungen – Erfindung der Dampfmaschine, dicht beieinander liegende Kohle- und Eisenerzvorkommen und ein effizientes Transportsystem – öffneten Europa jedoch, ausgehend von England, eine unerwartete Tür, mit der im Laufe einiger Jahrzehnte die Beschränkungen des solaren Energiesystems erstmals verlassen werden konnten: Auf der Basis eines gemeinsamen Fundus an technischem Wissen übernahmen andere europäische Regionen und schließlich Nordamerika die entsprechenden Technologien und bauten sie rasch aus.

So attraktiv die Bildung von Kausalketten in diesem Zusammenhang bleiben mag: Die Debatte um den „europäischen Sonderweg“ in der Entwicklung der modernen Technik sollte letztlich nicht den Blick für die Vielfalt der Entwicklung technischer Hilfsmittel und Verfahrensweisen in unterschiedlichen Weltregionen zwischen 1200 und 1800 verstellen. Komplexes technisches Handeln war in diesem Zeitraum offensichtlich im Rahmen sehr unterschiedlicher Wissenssysteme möglich. Zukünftige Forschungen werden aus dieser Perspektive technische Entwicklungen und ihre Folgen gerade in außereuropäischen Kulturen vielfach neu einordnen und bewerten müssen.

wbg Weltgeschichte Bd. IV

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