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Umgekehrte Entdeckungsreisen?
ОглавлениеGab es nicht auch Entdeckungsreisen in umgekehrter Richtung? Reisen, die von Bewohnern Asiens, Afrikas, Amerikas oder der Südsee in vorkolonialer Zeit aus eigenem Antrieb unternommen wurden und nach Europa führten? Reisen, die das in ihren Heimatländern gültige Weltbild beeinflussen konnten? Der Gegenstand ist nicht oft behandelt worden und gehört nicht zum Kanon der entdeckungsgeschichtlichen Literatur. Im Hintergrund steht Max Webers Frage nach den Ursachen für die Dominanz Europas beziehungsweise der europäischen Lebensweise in der heutigen Welt. Zu ihrer Beantwortung kann die Behandlung der „umgekehrten Entdeckungsreisen“ etwas beitragen. Die Zahl der Fälle ist bemerkenswert, ihr Aussagewert allerdings jeweils begrenzt. Fünf Beispiele mögen daher genügen.
Zwei nestorianische Mönche
Im Jahre 1278 machten sich zwei nestorianische Mönche aus der Nähe von Peking auf den langen und beschwerlichen Weg nach Jerusalem. Der eine, Rabban Sauma, war schon über 50 Jahre alt und von Geburt ein Uigure, der andere, Markos, stammte aus dem türkisch-mongolischen Volk der Önggüt und war Rabban Saumas Schüler. Von der Reise nach Jerusalem erhofften sie sich geistliche „Schätze“. Sie kamen aber nie an ihr Ziel, sondern gerieten in die Wirren der nahöstlichen Politik. Markos wurde als Mar Jaballaha III. zum Katholikos der nestorianischen Kirche berufen, Rabban Sauma als Gesandter des Ilkhans Arghun an die europäischen Höfe geschickt, um ein Bündnis gegen die Mamluken zu arrangieren. 1287/1288 war er in Europa unterwegs, traf den byzantinischen Kaiser Andronikos II. in Konstantinopel, Philipp den Schönen von Frankreich in Paris, den englischen König Eduard I. in Bordeaux und Papst Nikolaus IV. in Rom. Er sah den feuerspeienden Ätna auf Sizilien, eine Seeschlacht in der Nähe von Neapel, ließ sich die Verfassung der Stadt Genua erklären und wurde durch die schiere Menge der Pariser Studenten (angeblich 30.000!) beeindruckt. Er musste den Kardinälen Rede und Antwort stehen, durfte eine Messe in Gegenwart des Papstes zelebrieren und staunte angesichts der Reliquien und Bauwerke in Rom. Über seine Erlebnisse verfasste er einen autobiographischen Bericht, der einem unbekannten Autor als Vorlage für eine Lebensbeschreibung diente. Da das Werk in gelehrtem Syrisch für die Zwecke der nestorianischen Kirche geschrieben war, diese aber bald darauf verfiel, geriet es bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert vollständig in Vergessenheit.
Sieben chinesische Großflotten
Zwischen 1405 und 1433 fuhren sieben chinesische Großflotten in den Indischen Ozean ein. Kaiser Yongle (1403–1424) hatte ein gigantisches Schiffsbauprogramm aufgelegt, um den Suprematieanspruch des durch die Ming-Dynastie erneuerten chinesischen Reiches auch auf den Ozeanen zur Geltung zu bringen. Jede der Flotten bestand aus mehreren hundert Dschunken, war mit tausenden Matrosen, Soldaten, Bürokraten, Technikern usw. besetzt und mit „Feuerwaffen“ (Kanonen? Minen? Wurfgeschosse?) bestückt. Besonders die sogenannten Schatzschiffe, Großtransporter von angeblich riesigen Ausmaßen, erregten Aufsehen. Doch weiß man wenig Konkretes über deren Größe (s.S. 41). Das Kommando hatte ein muslimischer Eunuch aus Südwestchina namens Zheng He, der zuvor in der Zivilverwaltung und am Kaiserhof gedient hatte. Weitere Hofeunuchen standen ihm zur Seite.
Nur rätseln kann man über die genauen Motive der kaiserlichen Regierung. Vielleicht spielten geostrategische Konzepte eine Rolle. Aber wahrscheinlich genügte es, im Indischen Ozean Flagge zu zeigen und die Interventionsfähigkeit der chinesischen Flotte zu demonstrieren. An verschiedenen Stellen griff sie tatsächlich ein. Ihr Aktionsradius reichte bis zum Horn von Afrika, Malindi an der ostafrikanischen Küste und Dschidda (Djidda) am Roten Meer. Bevorzugte Ziele aber waren Südostasien, die indische Westküste und Hormus am Eingang zum Persischen Golf. Die besuchten Länder schickten willfährig Tributgesandtschaften nach China. Dass die chinesischen Schiffe um Afrika herum nach Amerika und Europa gefahren seien und in Italien die Renaissance angestoßen hätten, ist dagegen barer Unsinn. Die Erkundung der Welt war nicht ihre Aufgabe. Vielmehr verbanden sie mit den politischen Absichten ökonomische Ziele im Indischen Ozean. Zheng Hes Flotten nahmen den Handel mit Luxuswaren (chinesische Seide gegen indische Gewürze, tropische Hölzer, Medicinalia und exotische Tiere) in die eigene Hand. Wie später die Portugiesen legten sie Depots an den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten an und trieben wie diese bewaffneten Handel.
Noch rätselhafter sind die Vorgänge, die zum Abbruch der Seefahrten führten. Nach Yongles Tod fand nur noch eine einzige (allerdings besonders ambitionierte) Expedition statt. Danach zog sich China ganz vom Indischen Ozean zurück. Vielleicht waren die (auch logistisch) anspruchsvollen Unternehmungen schlicht zu teuer, zu aufwendig, nicht rentabel genug, vielleicht spielten die Bedrohung aus dem Norden und die Verlegung der Hauptstadt von Nanking nach Peking die entscheidende Rolle. Hätte sich der Kaiserhof anders entschieden, wäre die Weltgeschichte womöglich anders verlaufen. So aber blieb Chinas maritimes Abenteuer nur eine glanzvolle Episode. Doch die Erinnerung blieb. Drei Teilnehmer – Ma Huan, Fei Xin und Gong Zhen – berichteten ausführlich über die Fahrten, und auch in den Reichsannalen schlugen sich deren Ergebnisse nieder. In Südindien erzählte man noch lange von den chinesischen Schiffen, und in China wurde Zheng He durch Dramen und Erzählungen zur literarischen Gestalt. In Malakka wird er bis auf den heutigen Tag quasi göttlich verehrt.
Vier japanische „Fürstensöhne“
Als die Mission der Jesuiten in Japan so erfolgreich wie nirgendwo sonst war, lag es nahe, damit in Europa zu werben. Man brauchte Geld, neues Personal und Anerkennung für die Richtigkeit des eigenen Vorgehens. Gleichzeitig hofften die Jesuiten, durch eine Gesandtschaft nach Europa die Stellung des Christentums in Japan verbessern und neue Gläubige gewinnen zu können. Vier adelige Jugendliche im Alter von 13 bis 15 Jahren wurden ausgewählt, um mit kleinem Gefolge nach Europa zu fahren. Die Reise dauerte alles in allem acht Jahre, von 1582 bis 1590, und führte über Indien und Afrika nach Portugal und Spanien, von da nach Rom, Venedig und Mailand und auf ähnlichem Weg wieder zurück. Höhepunkte waren der Besuch bei Philipp II. in Madrid, der Empfang der Gesandten durch die römische Kurie und ihr triumphaler Einzug in Venedig. Die Japaner sollten den spanischen Königshof kennen lernen und die Kultur der Renaissance in Italien auf sich einwirken lassen. In Rom war der Eindruck am tiefsten. Sie hätten zu Hause darüber berichten sollen. Doch dazu kam es nicht mehr, weil in Japan bald Christenverfolgungen einsetzten und die Missionare in den Untergrund gingen. Zwar fuhren später noch einige japanische Christen nach Rom, aber die erhoffte Breitenwirkung blieb aus und der Kontakt zum katholischen Europa riss ab. Nur zwei Kartenwerke, die die Gesandten aus Padua mitgebracht hatten, übten einen gewissen Einfluss in Japan aus.
Chinesen in Europa
Auch Chinesen kamen dank der Jesuitenmission nach Europa, sei es, um die Werbung für die Mission zu unterstützen, sei es, um ihre Ausbildung fortzusetzen, sei es als Assistenten von Geistlichen, die zu Hause ihre chinesischen Studien fortsetzen wollten und dazu die Hilfe von Muttersprachlern brauchten. Michael (Michel) Shen Fuzong begleitete 1680 einen Jesuiten nach Paris, London und Oxford, Arcadio Huang kam 1702 nach Paris. Allerdings starb der eine auf dem Rückweg, der andere heiratete, fand Arbeit in der Königlichen Bibliothek und blieb bis zu seinem frühen Tod in Paris. Was sie unterwegs und in Europa erlebt hatten, kam niemandem in China zur Kenntnis. Erst Luigi Fan Shouyi kehrte 1720 in die Heimat zurück, nachdem er in Rom den Papst gesehen, danach Latein studiert und die Priesterweihe erhalten hatte. Über seine Erfahrungen und die Länder, in die er gekommen war, erstattete er mündlich und schriftlich am Kaiserhof in Peking Bericht. Da er über Kanton eingereist war, sprachen sich dort seine Erlebnisse herum. Ein anderer chinesischer Christ, ein einfacher Pförtner am Sitz der Propagandakongregation in Kanton mit Namen Johannes Hu, ließ sich davon anregen, wollte ebenfalls den Papst sehen und nutzte die Gelegenheit, mit einem heimreisenden Pater nach Europa zu fahren. Dort allerdings kam er mit den Verhältnissen nicht zurecht, fühlte sich einsam und isoliert und legte immer häufiger ein auffälliges Verhalten an den Tag. Schließlich verbrachte er zweieinhalb Jahre in der Irrenanstalt von Charenton nahe bei Paris. Nach seiner glücklichen Befreiung kehrte er 1726 nach Kanton zurück und beklagte sich lauthals über die schlechte Behandlung, die ihm in Europa zuteil geworden war. Wenn seine europäischen Erfahrungen überhaupt einen Eindruck in China hinterließen, dann war es kein guter.
Der Südsee-Insulaner Omai
James Cooks zweite Weltreise führte erneut nach Tahiti. Bei der Heimfahrt schloss sich der Mannschaft ein Einheimischer an, der es auf Tahiti nicht mehr aushielt. Er nannte sich Omai und glaubte, wegen seiner ungewöhnlich breiten Nasenflügel verspottet zu werden. Von einem Aufenthalt in England erhoffte er sich höheres Ansehen. Sein Wunsch war insofern überraschend, als man in Europa die erst vor wenigen Jahren entdeckte Insel für ein irdisches Paradies hielt, bewohnt von glückseligen „Menschen ohne Laster, ohne Vorurteile, ohne Bedürfnisse, ohne Zwist“ (Philibert Commerçon, 1769). Dass es auch im Paradies Konflikte geben könnte, war der Allgemeinheit nicht bewusst. Omai war der erste Südsee-Insulaner in England und wurde als „edler Wilder“ begeistert begrüßt. Das Südsee-Fieber grassierte, und Omai galt als lebendiges Beispiel für eine ideale Gesellschaft. Er wurde in den vornehmsten Kreisen herumgereicht, in populären Zeitschriften vorgestellt, von Joshua Reynolds und Nathaniel Dance porträtiert. Er erhielt eine Wohnung gestellt und von König Georg III. ein Schwert zum Geschenk. Wenn er sich galant gegenüber Damen benahm, wurde es mit besonderem Interesse vermerkt. Nach fast zwei Jahren kehrte Omai nach Hause zurück. Zum Abschied wurde er mit Geschenken überhäuft, und Cook baute ihm ein europäisches Haus auf Tahiti. Damit hätte er auf lange Zeit sein Renommee sichern können. Doch Omai verschleuderte seine Habe, legte sich falsche Freunde zu und verstarb schon nach wenigen Jahren. Am Ende war sein Erfolg in London dauerhafter als in der Südsee.
Beurteilung dieser Entdeckungsreisen
Die Beispiele zeigen, dass die „umgekehrten Entdeckungsreisen“ sich mit den europäischen nicht gut vergleichen lassen. Selten handelte es sich um groß angelegte Unternehmungen, sondern in den meisten Fällen ergaben sie sich aus individuellen Initiativen und blieben auf einem beschränkten Niveau. Oft ging der Anstoß von Europa aus, und die außereuropäische Welt reagierte. Hu, Omai und die vier jungen Japaner wandelten in Spuren, die Reisende aus Europa gelegt hatten. Nähme man die erzwungenen Reisen hinzu, die vor allem von Bewohnern Amerikas und Afrikas ertragen werden mussten, die zahllosen Fälle von Menschenraub und Sklaverei, dann träte die Dominanz der Europäer noch deutlicher hervor. Ganz selten kam dabei eine so beeindruckende „interkulturelle“ Karriere wie die des Arabers al-Hasan ibn Muhammad Ahmad al-Wazzān alias Yuhanna al-Asad alias Johannes Leo Africanus, des Verfassers einer gelehrten Beschreibung Afrikas (1526), heraus. Die meisten Biographien verliefen vielmehr so wie die der „Hottentotten-Venus“ Sarah (Saartjie) Baartman († 1816), die wegen ihres Fettsteißes in England und Frankreich als Kuriosität oder besser „wie ein wildes Tier“ (Zachary Macaulay, 18./19. Jh.) zur Schau gestellt, also verschleppt, benutzt und gedemütigt wurde.
Selten wurden von Asien aus neue Märkte gesucht und die Wege zu ihnen systematisch erkundet. Allenfalls Zheng Hes Expeditionen zu Beginn des 15. Jahrhunderts kann man als eine bemerkenswerte Ausnahme betrachten. Doch ihr Ziel war nicht Europa, sondern der Raum zwischen Südostasien und Afrika. Europa blieb für China lange Zeit bestenfalls Peripherie. Das Reich der Mitte pflegte sein eigenes Handels- und Tributsystem und war ansonsten sich selbst genug. Ähnliches gilt für die islamische Welt, in der viel gereist wurde, deren Grenzen man aber selten und ungern überschritt. Warum sollte man das „Haus des Krieges“ (Dar al-ħarb) aufsuchen, wenn man im „Haus des Islams“ (Dār al-islām) leben durfte?
Außerdem blieb Chinas überseeisches Engagement Episode und hatte langfristig keine Folgen. Erst recht die weniger spektakulären Unternehmungen Einzelner besaßen keine weitere Bedeutung. Die meisten „umgekehrten Entdeckungsreisen“ wurden in den Ländern, von denen sie ausgingen, kaum wahrgenommen oder im Lauf der Zeit schlicht vergessen. Fasst man abschließend die Wirkungen der europäischen Entdeckungsfahrten des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit ins Auge, wird der Unterschied zu den gleichzeitigen Unternehmungen in der außereuropäischen Welt evident.