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HERMANN HÄRING

II. Das Böse in der christlichen Tradition

1. Einleitung: ein komplexes Problem

Wie andere Religionen ist das Christentum ein komplexes, nicht unbedingt rationales, aber ein ungemein lebensfähiges Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte und in der Interaktion mit ihr ständig geändert hat. Das gilt besonders vom Verständnis des Bösen und vom Umgang mit ihm. Zudem stößt dessen Darstellung in der christlichen Religion auf drei besondere Schwierigkeiten. Die erste hat unmittelbar mit der Identität des Christentums zu tun; nichts nämlich ist schwieriger, als sie auf direktem Wege zu bestimmen. Vorgängig zu den spezifisch christlichen Schriften kennt es ja die jüdischen Schriften der Bibel. Jesus war Jude und wollte bis zu seinem bitteren Ende wohl Jude bleiben. So spricht alles dafür, dass auch die Geschichte des Bösen im Christentum zunächst als Geschichte des Umgangs mit ihm im Judentum beginnen muss.

Die zweite Schwierigkeit hängt mit dem hohen philosophischen Reflexionsgrad zusammen, den das Böse in der Geschichte des westlichen Christentums – schon in den ersten Jahrhunderten, vor allem aber in der Neuzeit – erfahren hat. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit anderen Religionen lässt deutlich werden, wie immens die philosophischen Anteile in der Geschichte des Bösen sind, die teilweise als deutliche Kritik an christlichen Überzeugungen entwickelt und später von der christlichen Theologie übernommen wurden.

Die dritte Schwierigkeit hängt mit der Tatsache zusammen, dass das Böse in der westlichen Gesellschaft trotz wachsender Säkularisierung und Rationalisierung zu einem Leitbegriff, genauer: zu einem leitenden Problembegriff geworden ist. Man rückte dem Bösen naturwissenschaftlich, psychologisch, kultur- und ideologiekritisch sowie auf viele andere Weisen zu Leibe und musste sich zugleich die Frage stellen lassen, ob ein wissenschaftlich-analytischer Zugang zum Bösen die wahre Problematik des Bösen nicht prinzipiell verkennt, das Böse zumindest domestiziert und ihm seine Schrecken nimmt. Muss es nicht wieder beim Namen, genauer: mit seinen ungezählten konkreten Namen genannt werden?

Hinzu kommt für unsere Frage nach Verständnis und Gegenwart des Bösen in einer Religion als vierte Schwierigkeit die Tatsache, dass religiöstheologische, kulturelle, philosophische und andere Stränge nie streng voneinander zu unterscheiden sind. Philosophische Überlegungen reagierten immer auf religiös-theologische und umgekehrt. In das dichte Netz kultureller Interaktionen sind neben dem Christentum immer schon Literatur und bildende Kunst, die Welt des Films und des Sports, der Jugend- und der Alterskultur aufgenommen. Klare Unterscheidungen sind deshalb unmöglich.

Die genannten Schwierigkeiten raten zu inhaltlicher Vorsicht, methodischer Sorgfalt und thematischer Beschränkung. So setze ich etwa den jüdischen Beitrag vielmehr voraus, um Verdoppelungen zu vermeiden, und stelle nur die Frage: Welche spezifischen Akzente hat die christliche Interpretation des Bösen erarbeitet?

Angesichts der starken philosophischen Inanspruchnahme des Problems werde ich philosophische Entwicklungen zwar benennen, weil sie auf das christliche Verständnis ihre Rückwirkungen hatten und manches „Christliche“ ohne diese unverständlich ist. Doch werden es Randüberlegungen bleiben. Angesichts der neuen Orientierungsproblematik gegenüber den Bosheitserfahrungen in unserer Gesellschaft werde ich schließlich versuchen, ein diskursfähiges christlich-religiöses Profil herauszuarbeiten. Angesichts der gesamtkulturellen Einbettung des Christentums kann dieser Beitrag schließlich nur den kleinen Diskursausschnitt „Theologie“ und „ausdrückliche Religion“ präsentieren, wohl wissend, dass eine literatur- oder medienwissenschaftliche Untersuchung vielleicht wichtigere Erkenntnisse über unsere Gegenwart bieten kann (Bataille; Jacob; Zwick).

Bleibt schließlich die Frage nach dem methodischen Ansatz. Einige Bemerkungen müssen genügen. Dem Ziel dieser Veröffentlichung gemäß werde ich in erster Linie beschreiben, ohne meine eigenen Auffassungen zu verbergen. Das ist mit einem partizipierend hermeneutischen Zugang möglich. Ich nenne meine Methode „hermeneutisch“ im strengen und selbstkritischen Sinn. Ich werde keine neuen Wahrheiten entdecken, sondern vorliegende Quellen interpretieren, in ihrer Wirkungsgeschichte darlegen und bisweilen kritisch beurteilen. Es gibt keinen Anspruch auf definitive Wahrheit; das wussten wir schon vor dem Siegeszug postmodernistischer Theorien. Dazu gehört das stets präsente Bewusstsein, dass jeder Interpretation, dass auch jeder religiösen Wahrheit Konflikte, Widersprüche und Aporien innewohnen.

Das tut der Qualität einer Religion keinen Abbruch, verbietet aber auch die Illusion einer perfekten und somit absoluten und zeitüberhobenen Wahrheit. Ich arbeite also nicht im Sinne einer konservativen Hermeneutik, die alles zu verstehen und miteinander zu verschmelzen beansprucht. Ich denke vielmehr an ein konfliktfähiges Weiterdenken, wie das – zur großen Verunsicherung vieler Theologen – schon von R. Bultmann (1884–1976) vorgetragen wurde. Der katholische Theologe E. Schillebeeckx spricht später von einer „kritisch erweiterten“ Hermeneutik, und Cl. Boff entwirft ein hermeneutisches Programm in Sinne emanzipatorischer Theologien. Hätten die großen französischen Postmodernisten diese hermeneutischen Ansätze sowie die Denkarbeit der Kritischen Theorie ernsthaft zur Kenntnis genommen, sie hätten sich manche Attacke ersparen können.

Gerade bei der vorliegenden Thematik verbietet es sich, eine „große“ Erzählung oder eine universale Theorie anzustreben. Die auf der Grenze von Theorie und Praxis angesiedelte Hinterhältigkeit des Bösen wird erst seit einigen Jahrzehnten ernst und als Hauptgefahr des Christentums wahrgenommen. Wie ich zeigen werde, befindet sich das (westliche) Christentum in dieser Angelegenheit in einem tief greifenden Paradigmenwechsel.

Das Böse in den Weltreligionen

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