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a) Mystik und Volksfrömmigkeit
ОглавлениеDoch wäre es Sache der Mentalitätsgeschichte, hier nun eine merkwürdige Aufspaltung zu verfolgen. Neben dem nüchternen theologischen Geschäft entwickeln sich – zumal gegen Ende des 13. Jahrhunderts und mit besonderer Breitenwirkung im Rheinland – eine intensive Frömmigkeit und eine Mystik, in denen von jetzt an auch die abgründige Erfahrung des Bösen zu Hause ist.12 Bei ihr ist vom Bösen in der klassischen Bedeutung des Wortes kaum die Rede. Vielmehr bleibt sie beim Konkreten, bei der Erfahrung der Nacht und des Dunkels, bei Zweifel und Verzweiflung, beim Ineinander von Wirklichkeit und Schein, von unerträglicher Einsamkeit und Qual, beim Selbstverlust als Voraussetzung zur Neugeburt sowie bei der Paradoxie dessen, der heilen sollte, aber zu zerstören scheint. Entgegen allen Vermutungen waren gerade die großen Mystikerinnen und Mystiker vom Leiden der Menschen getroffen und sozial engagiert (Sölle). Es ist die ganzheitliche, die praktisch unterbaute und die streng auf das Subjekt bezogene Wahrnehmung, die den distanziert analysierenden Ansatz der amtlichen Theologie überwindet (M. Schneider) und die machtverwöhnte Kirche von damals verunsichert. Nicht ohne Grund hat die scholastische Theologie diese Mystik immer wieder in eine Randposition gedrängt.
Noch eine zweite Linie der Bosheitserfahrung verdient Erwähnung. Es ist die vielfältige Alltagsfrömmigkeit der Bevölkerung auf dem Land und in der beginnenden Stadtkultur. Sie beginnt wohl mit den prägenden Bestandteilen einer archaischen, einer naturverbundenen und vielleicht magisch geprägten Religiosität. Es sind fließende Begriffe, die hier beschreiben und nicht bewerten sollen. Immerhin geht es um einen Lebensalltag, in dem die Erfahrungen von Elend und Not, von Hunger und Armut, von Krieg, Naturkatastrophen und gesellschaftlicher Gewalt, von Krankheiten und Schicksalsschlägen noch ungeschmälert vorherrschen.
So stabilisiert sich – neben und innerhalb christlich reflektierter Religiosität – ein neuer Kosmos der Bosheitserfahrung von destruktiver Sprengkraft; es ist für unsere Begriffe eine Welt des Irrationalen und der Magie. Dieses sich in Schutz- und Beschwörungshandlungen (in Segens- und in Fluchworten, in Vorsichtsmaßnahmen und unheilabweisenden Symbolen) chaotisch und vielfältig ausdrückende Denken ist anderen Religionen vergleichbar (Frazer, 783–839). Erst in der Zeit der Aufklärung wurde diese Kultur zurückgedrängt. Erst so entstand das Bild eines rational geregelten und entzauberten Glaubenssystems (Thomas 1971). Vorerst blieb auch die christliche Welt noch mit Kräften des Bösen und der Bosheitsabwehr bevölkert.
Aber es waren – einer alten Tradition gemäß – nicht nur überirdische Teufel und Dämonen, deren Natur und Wesen genau definiert war (Böcher, Petersdorff, Winklhofer). Die Kräfte des Bösen wurden auch in menschlichen Personen, in Tieren und in Dingen verortet. Da gibt es neben den heiligen auch verfluchte Orte, Höhlen oder Haine, Orte böser Erinnerung, an denen sich geschehener Frevel fortsetzt. Da gibt es Handlungen, die zu meiden sind, wenn man nicht das Unglück auf sich herabrufen will, oder Handlungen, die das Böse bannen. Man heilte und machte krank, brachte sakramental-liturgische Handlungen (Hostie, Kreuz oder geweihtes Wasser) zu magischer Praxis oft in eine gefährliche Nähe (Burnett). Die Nacht der Jahreswende etwa war dicht besetzt mit Unheil vertreibenden Ritualen; so wurde das Böse des Alltags im Voraus schon gebannt.
Da gibt es Tiere, die mit dem Bösen in besonderer Verbindung standen. Dazu gehörten Pferde oder Katzen, Kröten oder der nächtliche Ruf des Kauzes (Lurker). Solche magische Frömmigkeit hielt sich bis ins 17. Jahrhundert hinein (Thomas) durch und wurde im Laufe der Zeit eher durch einen höheren Bildungsstandard als durch einen gereinigten Glauben ersetzt (van Dülmen, 55–106). Dass die reformatorische Tradition zu einer sensibleren Unterscheidung beigetragen hat, ist unbestreitbar.
Wie die Erfindung des Blitzableiters das Ende des Wettergottes bewirkte, so die Erfindung der Impfung das Ende ungezählter Zaubersprüche und des Bösen Blicks. Gleichwohl ist die Rückseite der Medaille nicht zu vergessen. Wie alle Religionen, so hatte auch das Christentum in seiner vorwissenschaftlichen Epoche eine breite Pragmatik konkreter Bosheitsbewältigung entwickelt. Sie schuf Gefühle der Sicherheit. Sie umgab die Lebenswirklichkeit der Menschen mit einem Mantel der Interpretationen, die als Puffer zwischen Gottesglaube und der harten Alltagswirklichkeit ihren Dienst taten. Es bleibt ohnehin die Frage: Sind solche Symbolisierungen ersatzlos verschwunden oder wurden sie nicht durch sublimere ersetzt? Was bedeuten heute, religionspsychologisch gesehen, Auschwitz und Archipel GULAG, die Zwillingstürme des World Trade Center in New York und der AIDS-Virus als Menschheitsgeißel schlechthin, Atomwaffen und all jene Personen, die als die großen Schurken ihrer Zeit in unsere Erinnerung eingegangen sind?