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Оглавление5. Die Widersprüche der Neuzeit
a) Verinnerlichung der Sünde
Mit dem Beginn der Neuzeit änderten sich zwar keine Einzelaussagen über das Böse, grundlegend aber ändern sich die Alltagserfahrungen und der Umgang mit ihm. So wird die Darstellung von hier an schwieriger. Das hat damit zu tun, dass es die westliche Kultur lernt, diese Welt immer mehr aus sich heraus zu begreifen (Blumenberg), aber auch damit, dass es jetzt zwischen philosophischem und spezifisch theologischem Denken zu einer grundsätzlichen Spaltung kommt (Häring 1979, 239–265).
Es vollzieht sich ein elementarer Paradigmenwechsel, auf den Luther höchst sensibel reagierte (Pesch, 80–201; 176–188). Gleichzeitig blieb er den spätmittelalterlichen Voraussetzungen verhaftet. Das lässt sich an seinem Streit mit Erasmus von Rotterdam (1466–1536; Augustijn 1986) im Jahre 1525 zeigen. Luther entdeckte die Rechtfertigungslehre des Paulus – vermutlich 1518 – neu. Dies lief im Laufe der kommenden Jahre auf eine Kritik all jener Praktiken hinaus, mit der die Kirche Böses und Schuld handfest überwinden wollte. Der Christ musste jetzt seine Befreiung vom Bösen ebenso wenig an kirchliche Institutionen delegieren wie seine Vorsorge für das ewige Heil, die in der Ablasspraxis auf ärgerlichste Weise fiskalisiert war. Jetzt stand jedes Individuum in einer unmittelbaren Begegnung vor Gott; damit erhielten auch Böses und Schuld eine neue und explosive Bedeutung.
Anders als Erasmus machte sich Luther nicht das Bild vom zuinnerst freien Menschen zu Eigen, der jetzt selbst über Heil oder Unheil bestimmen kann (Häring 1989; Kerlen; Kohls). Luthers und Calvins Lehre von der Vorherbestimmung zeigten es noch schärfer: Letztlich ist es immer noch Gott selbst, der souverän und ohne jede Einspruchsmöglichkeit über Unheil und Heil bestimmt. Es ist und bleibt allein Sache Gottes, den Einzelnen zu retten oder zu verdammen (Kraus). Die Lehre von der Vorherbestimmung („Prädestination“ genannt) erreicht bei Calvin noch eine Zuspitzung: Wenn jemand verdammt wird, dann eben deshalb, weil Gott ihn verdammen will (Baumann 1970).
Ausgerechnet am Beginn der Neuzeit hat das Böse eine bislang unerhörte Härte erreicht, erscheint Gottes Heilswille vor einem Abgrund von erschreckend allmächtiger Willkür (Kraus). Eine ganze Kultur ist später von diesem Allmachtskomplex aber so geprägt, dass sie ihn nicht überwinden kann (Richter). Wie ist diese Engführung möglich? Vielleicht prallen die Widersprüche in Luthers genialer Konzentration noch dramatischer als im Mittelalter aufeinander. „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Adorno 1951), das gilt auch für Religionen. Immerhin hatte sich Luther im Jahre 1521 mit der großen Programmschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ weites Gehör verschafft, und mancher hört darin das Programm eines neuen emanzipierten Selbstbewusstseins. Als Erasmus aber mit einem Traktat „Vom freien Willen“ antwortet, da wehrt sich Luther vehement mit seiner Schrift „Vom versklavten Willen“ (Häring 1989). Den Menschen spricht er jetzt jede eigene Freiheit vor Gott zum Guten ab; angesichts der Erbsünde werde der menschliche Wille vom Teufel geritten: „So ist der menschliche Wille in der Mitte hingestellt, wie ein Lasttier; wenn Gott darauf sitzt, will er und geht, wohin Gott will … Wenn der Satan darauf sitzt, will er und geht, wohin Satan will. Und es liegt nicht in seiner freien Wahl, zu einem von beiden Reitern zu laufen und ihn zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen darum, ihn festzuhalten und in Besitz zu nehmen“ (Pesch 183).
Für die Neuzeit war damit ein nie gelöster Grundsatzstreit über das Verhältnis des Menschen zum Bösen vom Zaun gebrochen. Das Problem beginnt wohl damit, dass Luther jetzt die soziale Dimension des Bösen relativiert. Das Ausmaß des Bösen kann nur als Sünde vor Gott, also vom Glauben her ermessen werden. Es gerät damit zum „reinen“ Glaubenssatz und zur inneren Projektion. Es entfaltet eine Dynamik, die kaum mehr kontrollierbar wird. Nur wer an die Bosheit des Menschen auf Grund von Gottes Wort glaubt, kann vor Gott bestehen.
Eine paradoxe Situation ist entstanden. Formal müssen Christen von der prinzipiellen Unheilssituation der Menschen überzeugt sein. Der Mensch sieht sich als Täter und als Opfer des Bösen, ohne dies empirisch überprüfen zu können. Luther überschreitet damit eine höchst gefährliche Grenze, denn wie bei Augustinus werden Opfersein und Schuldigsein identisch. Der Kampf gegen die Bosheit wird mit der Sorge um die eigene Rettung identisch. Im neuzeitlichen Christentum bleibt diese Verinnerlichung und Spiritualisierung der Bosheitsfrage bis in unsere Gegenwart hinein virulent.
Lutheraner mühen sich um das rettende Vertrauen auf Gott; Katholiken hielten sich weiterhin an die Sakramente sowie an den Lohn ihrer Werke. Alle suchen im Grunde ihr innerlich-individuelles Heil. In jedem Fall hat die Erfahrung des Bösen ihre kreative Kraft nach außen eingebüßt. Es ist, als sei das Böse zum Beginn der Neuzeit derealisiert worden, als sei es implodiert und als habe es nur noch ein Schwarzes Loch hinterlassen, das jetzt alle religiöse Kraft absorbiert. Es gibt kaum eine zweite theologische Theorie in der Neuzeit, die die Menschen gegenüber Gott so verunsichert hat, statt ihnen Freiheit zuzusprechen. Natürlich ist auch dies ein globales Urteil, aber die Konzentration auf das eigene Seelenheil ist offenkundig (Delumeau).
So kommen die Erfahrung des wirklichen Bösen und das Nachdenken darüber bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum Stillstand. Es verwundert nicht, dass die philosophischen Grundfragen des Bösen allmählich an Bedeutung gewinnen.