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1. Der Mensch

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Die Erzählung vom „Sündenfall“2 im 3. Kapitel der Genesis folgt unmittelbar auf den Bericht der Erschaffung des Menschen im 2. Kapitel und muss in Zusammenhang mit dem Bericht der Erschaffung der Welt im 1. Kapitel gestellt werden. Zwar sagt uns die moderne Bibelkritik, dass diese Kapitel ursprünglich gar nichts miteinander zu tun hatten. Sie stammten von zwei verschiedenen Verfassern, aus weit auseinander liegenden Epochen und spiegelten ganz andere religiöse Bewusstseinsstufen. Sie seien erst von einer späteren Hand verbunden worden. Mit dieser Quellenscheidung beginnt eigentlich die moderne historisch-kritische Bibelexegese. Auch wenn wir dieser Hypothese folgen, so müssen wir doch dem Endredaktor, der letzte Hand an das Buch der Bücher gelegt hat, Respekt zollen. Denn die Art, wie er die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Menschen, wie er sie vielleicht auf zwei losen Blättern vorfand, zu einem Ganzen verband, verrät tiefe anthropologische Kenntnis. Seine Einsicht entsprang wohl dem schlechten Gewissen, dass der Mensch die vollendete Schöpfung so übel zugerichtet hat.3

In der Tat, Gott stellt im so genannten ersten Schöpfungsbericht immer wieder fest, wie „gut(Tow) seine Werke seien (Gen 1,4. 10. 12.18. 21. 26), und am Ende stellt er rückblickend sogar selbstzufrieden fest, dass ihm alles „sehr gut(Tow Me‘od) gelungen sei (Gen 1,31). Wenn aber alles so gut war, wer hat dann die Welt so gründlich verdorben? Im so genannten zweiten Schöpfungsbericht bessert Gott die verbliebenen Mängel aus. Gott, der Herr, setzte Adam in einen Garten mit schönen und „guten“ Fruchtbäumen (Gen 2,9) und warnte ihn vor dem Genuss der schlechten Früchte (Gen 2,17). Er sah ein, dass es „nicht gut(Lo Tow, 2,18) wäre, wenn Adam allein bliebe (Gen 2,19), und gab ihm die Tiere als Gefährten. Doch als er feststellte, dass der Mann immer noch unzufrieden war (Gen 2,20), da machte er ihm eine Frau. In den ersten Worten, die er überhaupt sprach, signalisierte Adam seine leidenschaftliche Zustimmung: „Diesmal“ sei das Werk gelungen (Gen 2,23), und er freute sich auf ein erfülltes Eheleben (Gen 2,24). Schließlich machte er dem nackten Urpaar auch noch Kleider (Gen 3,21). Dieser Gott ist wie ein fürsorglicher Vater. Er hat seinem Kind eine luxuriöse Wohnung, lauter Delikatessen und eine hübsche Frau gegeben. Er hat ihn aber nicht nur mit Luxus verwöhnt, er hat ihn auch seinen Fähigkeiten gemäß gefordert und gefördert (Gen 2,15.19). Insgesamt hätte es dem jungen Paar kaum besser gehen können, doch das reichte ihnen nicht, und sie missachteten die einzige göttliche Einschränkung: Sie aßen vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen(Äz Ha-Da‘at Tow WaRa). Um noch schlimmere Übergriffe zu verhüten, musste Gott der Herr sie aus ihrer schönen Wohnung hinauswerfen.

Was haben sie eigentlich verbrochen? War es Neugier, Lüsternheit, Fresssucht oder Hochmut, der sie zu Fall brachte? In Adam erkennen wir auf den ersten Blick Nimmersatt und Möchtegern. Die Bibel blendet nach der ersten Erwähnung der einzigen verbotenen Bäume sehr geschickt die Schilderung von den vier Flüssen ein, die das Paradies bewässern (2,10–15). Das ist kein unpassender Geographieunterricht, kein missglückter Gelehrteneinschub, wie trockene Philologen behaupten, die diese Texte lieber verbessern als verstehen, sondern ein überaus geschickter Kunstgriff. Er soll noch einmal den unerschöpflichen Überfluss vor Augen führen, von dem der Mensch uneingeschränkt genießen durfte, ehe das einzige Gut erwähnt wird, das ihm versagt ist (2,17). Das Verbotene stand hier in gar keinem Verhältnis zum Erlaubten. Doch obwohl alle Paradiesbäume „schön anzusehen und gut zum essen waren“ (2,9), schien ihm ausgerechnet der verbotene Baum „gut zum essen, eine Lust anzusehen und schön zu betrachten“ (3,6) – also noch etwas besser als alle anderen Bäume. Das Drama des verwöhnten Kindes ist keine griechische Tragödie, denn seine Schuld ist nicht notwendig, sein Vergehen kein Mundraub, und seine Strafe erregt auch kein Mitleid. Die schlaue Schlange erinnert zwar an Prometheus in der griechischen Tragödie, der den neidischen Göttern raubt, was sie den armen Menschen vorenthalten. Aber zwischen dem darbenden Menschengeschlecht, dessen sich der „Menschenfreund“ Prometheus erbarmt, und dem ersten Menschenpaar, das im göttlichen Schlaraffia großzügig mit allen Luxusgütern versorgt ist, gibt es doch einen himmelweiten Unterschied. Hier handelt es sich nicht um einen notwendigen Frevel, sondern um die uns wohl bekannte Sünde aus Übersättigung und Langeweile. Aber Nimmersatt will nicht nur ausgerechnet das haben, was ihm vorenthalten ist, sondern Möchtegern will auch ausgerechnet das werden, was er nicht sein kann – Gott. Denn der verbotene Baum besaß nach der von Gott bestätigten Auskunft der Schlange (3,5.22) die Fähigkeit, dem Menschen das Gefühl der Göttlichkeit zu geben (WiHjitem KElohim). Die Unersättlichkeit des Menschen wird Maß für Maß mit Mangel bestraft (3,16–20) und seine Großmannssucht mit Erniedrigung (3,15.7.9).

Viele jüdische und christliche Ausleger haben weniger in der Situation des Menschen im Garten als im Baumsymbol den Schlüssel zu Gen 3 gesucht. Einige behaupten, der Sündenfall sei der Geschlechtsakt gewesen. Abgesehen von den offensichtlichen sexuellen Anspielungen in der Geschichte ergibt sich diese Erklärung aus dem Namen des Baumes der Erkenntnis, denn vom „Erkennen(Jada, 4,1) spricht die Bibel auch, wenn sie sittsam den Geschlechtsverkehr umschreibt. Ein alter Mann, der dieses Genusses nicht mehr fähig ist, sagt von sich an anderer Stelle: „Kann ich denn noch erkennen zwischen Gut und Schlecht?“ (HaEda Bein Tow LeRa, 2Sam 19,36). Die Schwierigkeit bei dieser Erklärung ergibt sich aus dem Rest der Geschichte. Denn der Mensch wurde nach den biblischen Schöpfungsberichten bereits geschlechtsreif erschaffen und zur Fortpflanzung ermuntert (Gen 1,29; 2,24). Es ist also kaum anzunehmen, dass die Bibel den Geschlechtsverkehr als Sünde verurteilen wollte.

Andere Erklärer haben im verzweigten Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen ein Symbol des moralischen Unterscheidungsvermögens gesehen. Dagegen sträubt sich aber die Geschichte selber. Wenn Gott Adam nämlich dieses Unterscheidungsvermögen nicht schon zuvor gegeben hätte, wäre die Geschichte vom Sündenfall ein Teufelskreis, denn Adam hätte die Verwerflichkeit seiner Tat erst nach dem Genuss der Frucht einsehen können und für sie billigerweise gar nicht bestraft werden dürfen.

Unsere erste Deutung aus dem narrativen Zusammenhang bestätigt sich vielmehr auch bei der Auslegung des Baumsymbols, wenn wir eine weitere biblische Parallele zum Namen des Baumes heranziehen. Im 5. Buch Mose (Deuteronomium) heißt es von Kindern und Jugendlichen, dass sie noch „nicht wissen, was gut und böse ist(Lo Jadu Tow WaRa, Deut 1,39). Demnach wäre der supralapsarische Urzustand das Stadium kindlicher Unschuld. Der Mensch war schon zur Erkenntnis (Gen 2,20), zur Arbeit (Gen 2,16) und zur Fortpflanzung (Gen 1,28.; 2,15) fähig, sein Vater bestimmte aber noch über ihn. Erst mit der Übertretung seines Verbots befreite er sich aus der Bevormundung. Der „Sündenfall“ würde nach dieser Erklärung eine verspätete Pubertätskrise schildern. Die Ungehorsamen verlassen das idyllische Wunschland Zuhause und gehen, auch wenn sie dafür büßen müssen, ihre eigenen Wege. Die Erzählung würde insgesamt der Nostalgie des verlorenen Paradieses entspringen. Wenn aber der Sündenfall eine notwendige Wachstumskrise ist, dann stellt sich die Frage, warum ihn die Bibel missbilligt. Hätte der Mensch lieber ein unselbständiges Kind bleiben sollen? Sind der ackernde Adam, die kreißende Eva, die heroische Menschheit nicht besser als die Symbionten aus Eden? Ist der Wunsch nach dem verlorenen Paradies nicht Ausdruck einer Regression und somit der Sündenfall eine glückliche Schuld (felix culpa)? Allerdings passt auch die Deutung der verbotenen Frucht als Freiheit nicht nahtlos in den Kontext. Denn immerhin geht die Bibel davon aus, dass der Mensch bereits zuvor frei war (Gen 2,20), z. B. zwischen den Früchten des Gartens zu wählen. Was ihm abging, war die Freiheit, willkürlich zu entscheiden, was gut und was böse ist. Im Gegensatz zu Gott war er also nicht absolut, sondern nur relativ, innerhalb der von Gott vorgegebenen Wertungen, frei. Seine Sünde wäre in diesem Fall der Griff nach der absoluten Freiheit, der Wunsch, selber Maß aller Dinge zu sein. Will uns die Bibel also die Hybris und die Misere des Menschen ohne Gott schildern?

Freilich steht diese Deutung des dritten Kapitels der Genesis in einem nur schwer zu vermittelnden Widerspruch zum ersten Kapitel der Genesis. Im ersten Kapitel hatte Gott gesagt: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde (BeZalmänu), nach unserem Gleichnis (KiDmutänu), und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das sich auf der Erde regt. Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes (BeZäläm Elôhîm) schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie“ (Gen 1,26–27). Demnach werden die Menschen bereits gottgleich geschaffen. Im dritten Kapitel hingegen lockt die Schlange die Menschen mit der Aussicht, „wie Gott (zu) werden(WiHjitem K’Elohim, Gen 3,5). Gott bestätigt diese Worte der Schlange, nachdem er die Menschen auf frischer Tat ertappt hatte: „siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden(K‘Achad Mimenu, 3,22), und bestraft sie. Aber hat er sie nicht selber sich gleich geschaffen? Warum sollte es dann eine Sünde sein, „wie Gott zu werden“ – also zu werden, was man nach Gottes Wille eigentlich schon von Anfang ist? Die Bibelkritiker haben, wie gesagt, ein probates Mittel, mit solchen Widersprüchen fertig zu werden. Sie behaupten einfach, dass hier gar nicht die gleiche Stimme spreche – sie sich also auch nicht widerspreche. Vielmehr prallten hier unvermittelt zwei ganz verschiedene Menschenbilder aufeinander. Nach dem ersten Kapitel erscheint der Mensch als „Krone der Schöpfung“, nach dem dritten Kapitel als missratenes Geschöpf, dort soll er über alle Tiere herrschen, insbesondere über alles „Gewürm, das sich auf der Erde regt“, hier beherrscht ihn ein Wurm; dort ist er der „Stellvertreter“ Gottes (so bezeichnet ihn S. R. Hirsch in seiner Übersetzung von Gen 1,27), hier ist er sein gefährlicher Rivale. Ja, nicht einmal die Götter der beiden Texte scheinen dieselben zu sein. Dort ist einfach von „Gott(Elohim) die Rede, hier von einem bestimmten Gott, dessen Namen die Christen „Jehowa“ oder so ähnlich aussprechen. Auch wenn diese Beobachtungen stimmen, dann fragt sich nicht nur nach der jüdischen Hermeneutik immer noch, welche Absicht der Komponist mit der Apposition so verschiedener Stimmen verfolgte. Oder sollen wir etwa annehmen, dass er daran gar keinen Gedanken verschwendet habe und an dieser prominenten Stelle zwei überlieferte Stücke unvermittelt nebeneinander stehen ließ, so dass unentschieden bleiben muss, ob der Mensch nach der Bibel im wörtlichen und übertragenen Sinn das erste oder das letzte Geschöpf ist? Der scheinbare Widerspruch in der Komposition reflektiert vielmehr einen realen Widerspruch in der Sache selbst: Der Mensch kann in der Tat das höchste und das niedrigste Geschöpf sein. Die wohlgefügte Komposition führt somit drastisch den tiefen Sturz des Menschen von der Spitze aller Kreaturen bis zum „Wurm“, von der Deität und Humanität zur Bestialität vor Augen. Damit veranschaulicht er zugleich die subtile Dialektik von Hoheit und Hochmut, von Würde und Überheblichkeit, von Freiheit und Willkür, denn „wie Gott sein“ ist ja in der Tat genau das Gegenteil davon, „wie Gott sein zu wollen“, wie z. B. „ein Engel sein zu wollen“ genau das Gegenteil davon ist, ein „Engel zu sein“. Wir brauchen uns aber nicht auf die ersten drei Kapitel der Genesis zu beschränken, um die Natur der Sünde des Menschen nach der Bibel zu beschreiben. Denn obschon die Erzählung vom „Sündenfall“ zweifellos eine paradigmatische Bedeutung hat, so ist dieser „Sündenfall“ doch nur der erste einer ganzen Reihe von „Sündenfällen“ in der biblischen Urgeschichte der Menschheit (Gen 1–11), und diese werfen ein bezeichnendes Licht auf jene zurück.

Nach einer jüdischen Tradition stand die Urgeschichte insgesamt im Zeichen des göttlichen „Langmuts(Erech Apajim), und das heißt auf der menschlichen Seite: zunehmender Bosheit (mAw V,2). Bereits im ersten Abschnitt der Tora wird klar, dass Gott mit dem Unternehmen Schöpfung Pleite geht (Gen 1,1–6,8). Am Schluss des ersten Kapitels der Bibel hatte Gott noch selbstzufrieden festgestellt, dass seine Schöpfung insgesamt „sehr gut(Tow Me‘od,) gelungen sei (1,31). Das zweite Kapitel erzählt dann, wie Gott noch die letzten Mängel (Lo Tow, 2,18) ausbesserte, so dass schließlich sogar der notorische Nimmersatt ausrief, „diesmal“ (Gen 2,23) sei alles bestens. Vom dritten Kapitel an verschlimmert sich die Situation aber immer mehr, und am Ende des ersten Abschnitts steht die pessimistische Einsicht Gottes: „dass die Bosheit der Menschen groß war auf Erden, und alle Vorstellungen ihres Herzens immer nur böse waren. Da bereute der Ewige, dass er die Menschen auf Erden geschaffen, und war bis ins Innerste betrübt. Und der Ewige sprach: Ich will den Menschen, den ich erschaffen, von dem Erdboden vertilgen, vom Menschen bis zum Vieh, bis zum Gewürm und den Vögeln des Himmels; denn ich bereue, dass ich sie geschaffen“ (Gen 6,5–7). Der stolzen Ouvertüre der Schöpfung folgt nach nur vier Kapiteln dieses jämmerliche Finale, und der Untergang kündigt sich an. Davor macht die Bibel einige dunkle Andeutungen, die offenbar den Tiefpunkt der Entwicklung darstellen sollen: „Als nun die Menschen anfingen, sich auf Erden zu vermehren, und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes (Bnei-Elohim), dass die Menschentöchter des gemeinen Mannes schön waren, und nahmen sich zu Frauen alle, die ihnen gefielen. Da sprach der Ewige: ‚Mein Geist soll nicht ewig im Menschen walten, da auch er Fleisch ist; so sollen denn seine Tage hundertundzwanzig Jahre sein.‘ In jenen Tagen und auch später noch waren die Riesen (Nephilim) auf Erden, als die Söhne Gottes sich zu den Menschentöchtern gesellten, und diese Kinder gebaren – das sind die Helden, die in grauer Vorzeit die ruhmreichen Männer waren“ (Gen 6,1–4). Hier spricht die Bibel ganz ungeniert vom Verkehr zwischen Unsterblichen und Sterblichen. Späteren Erklärern erschien diese mythologische Redeweise unpassend, und sie entschärften die Stelle, indem sie die „Gottessöhne(Bnei-Elohim) mit gefallenen Engeln (LXX, Petr 2,4), mit übermenschlichen Helden (Flavius Josephus), mit vornehmen Mächtigen (Targumim) oder mit den frommen Nachkommen Sets (Augustinus, Vom Gottesstaat XV.16–17) identifizierten. Die biblischen Parallelen (Hiob 1,6; 2,1; 38,4–7 u. Ps 82,7) und vor allem die Konsequenz, die menschliche Lebensdauer zu begrenzen, zeigen aber, dass es sich ursprünglich um Unsterbliche gehandelt haben muss und dass das Ganze eine mythologische Genealogie der Giganten und ruhmreichen Heroen war (Flavius Josephus, Jüdische Altertümer I,3). Doch was in der Mythologie als Höhepunkt gepriesen wird: die Geburt von Halbgöttern und Helden aus der Verbindung von Himmlischen und Irdischen, ist für den biblischen Erzähler der Tiefpunkt. Die Grenzüberschreitung, die sich zuvor einzelne Menschen zu Schulden kommen ließen, wird hier sozusagen zum genetischen Merkmal der Art, die Maßlosigkeit zur Natur des Menschen. Demnach wäre die Anfangssünde Hybris gewesen. Das lässt sich aber noch näher bestimmen, wenn wir berücksichtigen, wie sich von Anfang bis Ende dieses Abschnitts der Umschlag von Extrem zu Extrem, vom ursprünglich Guten zum radikal Bösen, von der Schöpfung zum Untergang abspielt.

Die oben erwähnte jüdische Tradition sagt: „Zehn Geschlechter sind von Adam bis Noach, um kund zu tun, wie viel Langmut vor ihm waltet, denn alle Geschlechter erzürnten ihn fortwährend, ehe er über sie die Wasser der Sintflut brachte“ (mAw V,2). Die zweite Generation nach Adam bestand nach der biblischen Erzählung aus den Brüdern Kain und Abel. Ihre Namen sind wie alle Namen der Genesis Programm. „Kain“ heißt „Erwerb“ – nach einer anderen Parallele (2 Sam 2,16) auch „Waffe“ – und „Abel(Häwäl) „Hauch“. In diesen Namen sind ihre zukünftigen Schicksale eingeschrieben: Kain war Bauer, Abel Hirte. Der Bauer gab nur ungern von seinem Ertrag ab, den er mit schweißtreibender Ackerei erworben hatte, und Gott verschmähte seine dürftige Gabe; der Hirte spendete dagegen großzügig die ersten und besten Tiere seiner Herde, und Gott wandte sich seiner reichen Gabe zu (Gen 4,4). Der Ältere konnte diese Zurücksetzung dem Jüngeren gegenüber nicht ertragen und erschlug ihn (Gen 4, 8). Der Blutvergießer wird von seiner heimatlichen Scholle vertrieben (Gen 12 u. 14) und gründet als Prototyp aller Vertriebenen jenseits von Eden die erste Stadt (Ir), die er wie seinen Sohn stolz Chanoch (Einweihung) nennt (4,17). Dessen Sohn Irad scheint, wie sein Name möglicherweise sagt, schon ein typischer Vertreter der vertriebenen (Arad) Bewohner der Stadt (Ir) gewesen zu sein. Unter den übrigen Nachkommen Kains sind etliche Erfinder und Kulturstifter (Gen 4,17ff.) – während Abel, wie sein Namen sagt, spurlos verschwand. René Girard hat gezeigt, dass solche Bruderkämpfe und Gründungslegenden in der Mythologie aller Völker vorkommen. Die biblische Geschichte nimmt aber einen ungewöhnlichen Verlauf. Vergleichen wir sie z. B. mit der bekannten Gründungslegende von Rom. Romulus und Remus gerieten in Streit darüber, wer von beiden der Erbauer der Ewigen Stadt am Tiber sein sollte. Das Flugorakel entschied zugunsten von Romulus, und er begann mit der Errichtung einer Stadtmauer. Als Remus sich über sein halb fertiges Werk lustig machte, griff er zum Spaten, erschlug seinen Bruder und verkündete, dass es künftig jedem Feind Roms so ergehen werde. Wir hören nichts davon, dass Romulus wie Kain als Mörder geächtet, dass die Römer wie die Kainiter untergegangen wären. Ganz im Gegenteil, der vom Marsfeld entrückte Stadtgründer verkündet den weltgeschichtlichen Siegeszug seiner Stadt, während die Bibel unnachsichtig den Finger auf den mörderischen Grund der urbanen und technischen Zivilisation legt.

Gewiss ist auch der supralapsarische Adam kein Wildemann und Eden kein unberührtes Naturparadies gewesen. Ja man kann das 2. Kapitel der Genesis auch als Bericht über die kulturstiftenden Taten des homo faber lesen. Nach diesem Bericht war der Urzustand nicht durch Überschwemmung (Gen 1,3), sondern durch Dürre gekennzeichnet (Gen 2,5). Es herrschte Regenmangel, und es gab noch keine Menschen, um das Land zu bewässern und zu beackern (Gen 2,6 u. 7)4. In der unkultivierten Steppe (Sadeh) konnten weder Pflanzen gedeihen, noch konnte Wild überleben. Als Voraussetzung allen Lebens erscheint daher die menschliche Kultur, und darum beginnt diese Entstehungsgeschichte von Himmel und Erde im Gegensatz zum ersten Kapitel der Genesis mit der Erschaffung des Menschen. Er wird in eine Oase (Gen 2,8–10) oder einen Park inmitten eines durch vier Hauptkanäle bewässerten (Gen 2,8–15) Kulturlandes versetzt, das er bewachen und bearbeiten soll (Gen 2,16). Wie man sieht, ist Adam nicht der Prototyp des Natur-, sondern des Kulturmenschen. Aber die supralapsarische Kultur Adams ist die eines behutsamen Gärtners, wohingegen die infralapsarische Kultur Kains die des gewaltsamen Gründers ist (Gen 4,12); jener ist von Gott eingesetzt, dieser hat sich fern von Gott selbst ermächtigt. Sehen wir uns einmal die Genealogie der Kainiten näher an: „Also, heißt es nach der Vertreibung des Brudermörders, ging Kain hinweg von dem Antlitz des Ewigen und ließ sich nieder im Lande Nod östlich von Eden. Und Kain wohnte seiner Frau bei; sie fühlte sich Mutter und gebar Chanoch: Dem Chanoch wurde Irad geboren, Irad zeugte Mechujael, Mechujael zeugte Metuschael und Metuschael zeugte Lamäch. Lamäch nahm sich zwei Frauen, der Namen der einen war Ada, und der Namen der anderen Zilla. Ada gebar Jawal; dieser wurde Stammvater der Zeltbewohner und Viehzüchter. Der Name seines Bruders war Juwal, dieser wurde der Stammvater aller Harfen- und Flötenspieler. Auch Zilla hatte einen Sohn Tuwal-Kain, der allerlei Werkzeug von Kupfer und Eisen zu hämmern verstand, und die Schwester Tuwal-Kains, die Na’ama“ (Gen 4,16–23). Ein Blick auf altorientalische Parallelen erlaubt eine erste allgemeine Schlussfolgerung aus diesem dürren Stammbaum. Auch in den sumerischen Königslisten oder phönizischen Götterlisten werden der erste Schmied, der erste Viehzüchter usw. aufgezählt, dabei handelt es sich aber immer um Götter oder vergötterte Kulturstifter, deren Erfindungen ausnahmslos positiv eingeschätzt werden, während die Kainiten nicht nur Menschen sind, sondern darüber hinaus auch noch ein verfluchter Zweig der Menschheit. Die Zivilisation ist gleichsam vom Kainsmal gezeichnet. Wir können vielleicht noch mehr aus dem dürren Stammbaum der Kainiten herauspressen, wenn wir, mit den jüdischen Auslegern, die aufgezählten Personennamen nicht als willkürliche Eigennamen, sondern als programmatische Signaturen ganzer Epochen und Kulturen auffassen. Die Bibel arbeitet übrigens selbst mit solchen Mitteln. So heißt etwa das Land jenseits von Eden, in das Kain flieht, nach dem kurz zuvor von Kain ausgesprochenen Eigenschaftswort „Nad“, „flüchtig“ (4,12), lautmalerisch „Nod“, also etwa „Fluchtland“. Dort begann der entwurzelte Flüchtling mit dem Bau einer Stadt (Ir) für seine Nachkommen und nannte sie wie seinen ersten Sohn sinnigerweise „Chanoch“, was Einweihung bedeutet. Auf Hebräisch meint das Wort „Ir“ einfach nur eine städtische Siedlung, aber in den griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen wird es mit „polis“ und „civitas“ (statt „urbs“), also mit „Staat“, wiedergegeben. Somit wird Kain zum Prototyp des Politikers. Wir brauchen gar nicht auszuführen, welche phantastischen Möglichkeiten der Politikerschelte sich hier für jüdische und christliche Kommentatoren boten. Bei den folgenden Namen der Nachkommen Kains: Irad, Mechujael, Metuschael, Lamäch ist eine sichere Deutung schwieriger, weil ihre Tätigkeit nicht angegeben ist. Aber eine rabbinische Überlieferung sagt uns, dass in allen diesen Namen die göttliche Strafe eingeschrieben ist und herausgelesen werden kann: „‚Irad‘ bedeutet ‚ich vertreibe (Ordan)‘ sie aus der Welt; Mechujael bedeutet: ‚Ich (Gott) lösche sie aus (Mochan) aus der Welt; Metuschael: ‚Ich reiße sie (Matischan) aus der Welt; Lamäch bedeutet: ‚Was habe ich (Ma Li) mit Lamäch und seinen Nachkommen zu schaffen?“ (BerR 23,2). Die Nachkommen Lamächs, von denen Gott nach dieser Überlieferung wie der Prinz in Shakespeares Hamlet sagen könnte: „Was ist uns Jawal, Juwal und Tuwalkain?“, sind nach der Bibel eben die erwähnten Erfinder der Viehzucht, der Metallverarbeitung und der musischen Kunst. Für kulturkritische christliche und jüdische Kommentatoren bot sich hier die Möglichkeit, diese Kultur- und Kunstprodukte als widernatürliche und widergöttliche Schöpfungen zu entlarven. Jizchak Abrawanel (1437–1508) zum Beispiel, der zu Beginn der Neuzeit in Italien die großen technischen und künstlerischen Revolutionen sah, schrieb in seinem Genesis-Kommentar, in einem Ton, der an die Bußpredigten Savonarolas erinnert: „Kains Nachkommen begingen also allesamt, indem sie überflüssigem Luxus nachjagten, viele Gewalttätigkeiten und Räubereien in ihrem Volk, bis dass sie deswegen durch die Wasser der Sintflut bestraft und hinweggetilgt wurden“ (Kom. z. 1 M 11).5 Aber diese kulturkritische Absicht scheint schon in der Bibel selbst zu liegen. Nach der moralischen Hybris Adams folgt die politische und technische Hybris Kains. Der Mensch ohne Gott schließt sich in uneinnehmbaren waffenstarrenden und vergnügungssüchtigen Städten ein.

Adam hat es übrigens noch einmal versucht, und Eva gebar Set. Diese Linie schien etwas besser geraten. Von Sets Sohn, Enosch (Gen 4,26) – was sowohl „Mensch“ wie „Schwächling“ bedeutet und der griechischen Bezeichnung der Menschen als ephemérioi, Eintagsgeschöpfen, entspricht – heißt es, dass er das rechte Ebenbild seines Vaters (Gen 5,3), somit Gottes war (Gen 1,27) und dass man in seiner Generation anfing, den Namen Gottes anzurufen. Obwohl von seinen Nachkommen gesagt wird, dass sie mit Gott wandelten (5,22–24), und aus ihnen schließlich auch Noach, der einzige „gerechte, tadellose Mann“ (6,9) seiner Generation hervorging, gleichen sich die Namen und wohl auch das Wesen der Kainiter und der Setiter immer mehr an. Die Nachkommen Kains heißen: Chanoch, Irad, Metuschael, Lamäch – die, wie wir sahen, nach der jüdischen Auslegung Zeichen des Fluchs und Untergangs in ihren Namen tragen –; die Nachkommen Sets heißen: Kenan, Chenoch, Jered, Metuschelach, Lemech (5,2–29). Am Anfang des zweiten Abschnitts über Noach (Gen 6,9–11,32) heißt es jedenfalls, dass die ganze Welt in „Gewalt(Chamass) versunken war (Gen 6,14).

Aber auch die Sintflut bringt die Erziehung des Menschengeschlechts nicht voran. Gleich danach urteilt Gott kaum günstiger über den Menschen: „das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (8,21). Gewiss, nach der Sintflut beginnt nach jüdischer Auffassung ein ganz neuer Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Um die hemmungslose Gewalt einzudämmen, schloss Gott einen Bund mit den Noachiden: „Wer Menschenblut vergießt, lautet einer seiner Artikel, durch Menschen soll sein Blut vergossen werden; denn im Ebenbilde Gottes hat Er den Menschen geschaffen“ (9,5). Als Zeichen des Bundes hing er seinen Kriegsbogen in die stürmischen Wolken (Gen 9,12 ff.) und versprach: „Niemals mehr will ich den Erdboden verfluchen um des Menschen willen; (…) niemals mehr will ich alles Leben töten, wie ich es getan“ (Gen 8,21). Die noachidische Menschheit bedeutet also im Vergleich mit der adamitischen oder kainitischen Menschheit weniger einen qualitativen Sprung nach vorne als eine Kapitulation Gottes vor der unausrottbaren Schlechtigkeit des Menschen. Die schon mehrfach angeführte rabbinische Tradition beschreibt denn auch das postdiluvianische Zeitalter nicht anders als das antediluvianische: „Zehn Generationen, heißt es in dem Spruch weiter, waren es von Noach bis Awraham, um zu bekunden, wie viel Langmut Gott währen ließ, da alle diese Generationen den Ewigen erzürnten (…)“ (mAw V,2). Und in der Tat, wie schon im ersten, Bereschit genannten Abschnitt der Tora, die mit der Schöpfung beginnt und mit dem Untergang Chanochias endet, so beginnt der zweite, Noach genannte Abschnitt mit der Errettung der Menschheit (Gen 6) und endet mit dem Ruin von Babel (Gen 11). Flavius Josephus meint sogar, dass Babel eine genaue Replik auf den Untergang von Chanochia war. Dessen Gründer wollte einer neuen Flut vorbauen und „einen Turm errichten, so hoch, dass die Wasserflut ihn nicht übersteigen könne“ (Jüdische Altertümer I,4,1). So gesehen, wäre das Unternehmen ein Hinweis auf weiter angestiegene Überheblichkeit. Der Turm von Babel (Bawel) galt in der Tat als Wahrzeichen der Megalopolis und als Ausdruck ihrer Megalomanie. Was sich in der Ursprache „Babilli“, Gottestor schimpfte, erscheint in der biblischen Perspektive, die den provinziellen Eindruck vom polyglotten Schmelztiegel wiedergibt, als große „Verwirrung“ (von Balal, Gen 11,9) und wird schon in der Bibel zur Metapher des Sündenpfuhls, zur „Hure Babylon“ (Offenbarung Johannis 17,5; 18,2). Wenn die biblische Urgeschichte auch nicht als Dekadenz beschrieben werden kann, so gilt doch auch für den zweiten Versuch Gottes: Nicht lange, so war auch dieser glänzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zurück, von welcher sie ausgegangen waren (M. Mendelssohn). Was hat sich, so können wir wieder fragen, im Laufe dieses zweiten Abschnitts von der Errettung aus der Sintflut bis zum Untergang Babels zugetragen?

Der nachsintflutliche Mensch gleicht dem vorsintflutlichen. Adam war der erste Ackerbauer (Gen 3,18), Noach der erste Weinbauer (Gen 9,20). Darauf spielen wieder ihre Namen an. Der Name Adam wird in der Bibel zwar nicht damit erklärt, dass er Bauer (Isch HaAdama, Gen 9,20) war, sondern damit, dass ihn Gott, gleichsam als Menschenbauer, „aus der Erde(Min HaAdama) gemacht hat. Adam war vor seinem fatalen Fehlgriff vielmehr ein glücklicher Sammler (Gen 2,16), ehe er zum beschwerlichen Feldbau verdammt wurde (Gen 3,17–20). Von Noach erzählt die Bibel, dass er als „Mann des Ackers (Isch HaAdama, Gen 9,20) einen Weinberg zu pflanzen begann“, und im Stammbaum Adams wird der Name „Noach“ folgendermaßen erklärt: „dieser wird uns trösten (Se Jenachmenu) von unserer Arbeit, von der Beschwernis (Beizwon) unserer Hände an dem Erdboden, den der Ewige verflucht hat (Gen 5,29)“. Dieser Noach-Spruch ist das genaue Gegenstück zu jenem Adam-Spruch: „so sei die Erde um deinetwillen verflucht, mit Beschwernis (Beizawon) sollst du dich ernähren, alle Tage deines Lebens“ (Gen 3,17). Brot und Wein verhalten sich also zueinander wie Leid und Trost, wie Übel und Arznei (bBBa 58b). Sie symbolisieren den im Schöpfungsbericht verankerten Wechsel von Werk- und Feiertag (Gen 2,2–4), und deshalb wird zu Beginn des Schabbats der Segen über Brot und Wein gesprochen. Aber Noach war nicht nur der erste Weinbauer, sondern auch der erste Weintrinker: „er trank, heißt es, von dem Wein, war berauscht und entblößte sich in seinem Zelte“ (Gen 9,21). Vielleicht wollte sich der Bauer bloß von der anstrengenden Ackerei erholen, vielleicht wollte der Überlebende seine Erinnerungen ertränken. Jedenfalls löst seine Trunkenheit sogleich eine folgenschwere Familientragödie aus: „Da sah, erzählt die Bibel, Cham, der Vater Kanaans, die Blöße (Erwa) seines Vaters und sagte es seinen beiden Brüdern draußen. Da nahmen Schem und Japhet das Gewand, legten es auf ihre Schulter, gingen rückwärts und bedeckten ihres Vaters Blöße. Ihr Gesicht aber war rückwärts gekehrt, so dass sie ihres Vaters Blöße nicht sahen. Als Noach von seinem Rausch erwacht war, erfuhr er, was ihm sein jüngster Sohn angetan hatte. Da sprach er: Verflucht sei Kanaan! Ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern! Und er sprach: Gelobt sei der Ewige, der Gott Schem, und Kanaan sei ihnen Knecht! Gott breite Japhet aus und wohne in den Hütten Schems, und Kanaan sei ihnen Knecht!“ (Gen 9,22–27). Es ist unwahrscheinlich, dass Noach nur deshalb so wütend war, weil sein jüngster Sohn oder Enkel ihn nackt gesehen hatte – und daraufhin in Katerstimmung fluchte. Die jüdischen Ausleger haben angenommen, dass die Bibel hier scheu einen Akt schwer wiegender Unzucht andeutet, weil auch sonst die Bibel „Unzucht“ mit der Wendung „die Blöße aufdecken(LeGalot Erwa, 3 Mose 18,3) umschreibt. Manche behaupten sogar, Cham oder dessen Enkel Kanaan hätten Noach entmannt (BerR 36,7; PRE 23; bSan 72a–b, bPes 113b). Die Verbindung von Untergang, Weinrausch und Unzucht kommt in der Genesis noch ein weiteres Mal vor. Nach der Zerstörung Sodoms – nach Chanochia, Ninive und Babel ein weiteres Symbol für die gottlose Stadt – flüchtete Lot mit seinen beiden Töchtern als einzige Überlebende der Katastrophe in die Berge und lebte mit ihnen in einer Höhle (19,30–38). Seine Töchter dachten, dass kein Mann ihnen „beiwohnen könnte nach der Sitte aller Welt. Komm, sagten sie, geben wir unserm Vater Wein zu trinken und legen uns zu ihm“ (Gen 19,31–2). Aus dieser Blutschande sollen zwei unbeliebte Nachbarn Israels entstanden sein: Moaw von „Meiaw“, „Wasser-“ bzw. „Samen des Vaters“ und Ammon von „Ben-Ammi“, „Sohn meines (nächsten) Verwandten“. Nach einer jüdischen Überlieferung ist der Alkohol die Quelle aller Übel. Die Bibel sagt uns ja nicht, was für eine Sorte von Früchten im Paradies verboten war – insbesondere sagt sie nichts von Äpfeln (Gen 3,3). Die jüdischen Ausleger haben darüber spekuliert. Nach einem Midrasch waren es Trauben. Die Schlange hätte Adam und Eva animiert, von ihnen zu trinken, nach dem Fluchwort des Mose: „Ihre Trauben Gifttrauben, bittere Reben ihnen, Natterngift ihr Wein, grausames Otterngift“ (Dtn 32,33, BerR 15,7). Das würde zum Beispiel den Namen des Baumes „der Erkenntnis des Guten und Bösen“ erklären, weil der Rausch die Unterschiede zwischen Gut und Böse verwischt, sowie die versprochene Wirkung (Gen 3,4–5), denn der Rausch gibt Allmachtsgefühle. So gesehen erscheint das Verbot Gottes als eine Warnung vor den fatalen Folgen der Droge (Gen 2,17), doch der Mensch konnte nicht widerstehen. Eine rabbinische Parabel erzählt, der Teufel habe unter dem Rebstock ein Lamm, einen Löwen, ein Schwein und einen Affen vergraben, so dass die Rebe das Blut dieser vier Tiere in sich aufnahm. Wenn nun ein Mann vor dem Weingenuss weniger Mut hat als ein Lamm, wird er sich nach einem Schluck zu viel wie ein Löwe fühlen, nach einem weiteren Schluck zu viel wird er sich wie ein Schwein benehmen und beschmutzen und schließlich torkeln und lästern wie ein Affe (TanNoach 13). Der vorige Midrasch fährt fort, dass zuerst die Frau von dem ältesten Tropfen der Welt kostete, dann ihrem Mann davon gab (Gen 3,6) und schließlich den Tieren (BerR 19,5), von denen manche Arten ja tatsächlich gigantische Besäufnisse mit gärenden Früchten mögen. Auch in den mythischen Wonnegärten anderer Kulturen hängen verbotene Rauschmittel, und hinter den Äpfeln der Hesperiden, dem Nektar und Ambrosia der Götter und dem Somatrank verbergen sich mehr oder weniger deutlich potenzsteigernde und bewusstseinserweiternde Drogen. Aus Eden, sagt uns jener Midrasch weiter, sei auch eine Weinrebe zu Noach angeschwemmt worden und habe zum Unglück geführt. „Wie die Schlange, sagt ein Rabbi zum biblischen Enthaltsamkeitsgelübde (Num 6,3), Eva verleitet hat, Wein zu trinken, die Verfluchung des Ackers verschuldet hat (3,17), so wurde auch durch den Wein der dritte Sohn Noachs verflucht“ (BamR 10, vgl. auch bSan 70a–b; bBer 40a). Somit wird die ominöse Frucht des Paradieses entmythologisiert und die Ursünde banalisiert. Die Urväter haben zu viel getrunken.

Auch hier ist der Kontrast zur griechischen Mythologie lehrreich. Dort war ein unehelicher Sohn des Zeus, Dionysos, der Bacchus der Römer, der Erfinder der Weinkultur. Mit seinem wüsten Gefolge aus lüsternen bockbeinigen Satyrn und rasenden Bakchantinnen stürmte er von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und strafte grausam alle, die sich im Namen von Brauch und Sitte seinem rauschhaften Treiben in den Weg stellten. Schließlich eroberte er sich einen Platz an der olympischen Tafel und wurde als Kulturstifter anerkannt. Dem bakchantischen Taumel und den orgiastischen Gelagen verdanken sich die höchsten Blüten der griechischen Kultur: die griechische Tragödie – was ja nichts anderes als „Bocksgesang“ bedeutet –, die an den Dionysien zu Ehren des Weingottes aufgeführt wurde, und das Symposion, der Ort der schöngeistigen und philosophischen Geselligkeit. Doch der größte griechische Tragiker, Euripides, hat in seiner letzten, größten Tragödie, den Bakchen (nach 406), auch die tödliche Schattenseite der dionysischen Kultur gezeigt. Er erzählt, wie die rasenden Bakchantinnen König Pentheus von Theben, der sich ihrem wilden Treiben widersetzt hatte, ermordeten und zerfleischten. Der entfesselte Haufe, allen voran seine eigene, verblendete Mutter, stürzt sich auf ihn. Der verkleidete Pentheus gibt sich seiner Mutter zu erkennen: „Sie aber, Schaum ergießend, und die Augen graus verdrehend, nicht mehr denkend, was sie denken soll, von Bakchos hingerissen, hört nicht auf ihn; nein, mit den Armen fassend seine linke Hand, und ohne Erbarmen tretend auf die Rippen ihm, reißt ab seine Schulter, nicht durch eigene Kraft, nein, solche Leichtigkeit kam den Händen von dem Gott. (…) Pentheus’ Glieder aber warf der blutbefleckte Haufe sich wie Bälle zu“ (dt. v. G. Ludwig, 1110– 1125). Friedrich Hölderlin wünschte sich in seiner Elegie Brod und Wein (1800) den Weingott Dionysos, den „kommenden Gott“ zurück (v. 49–54), und der Prophet des Übermenschen, Friedrich Nietzsche, rief den Gott „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ an (Ecce homo, letzte Zeile). Gewiss, die Religion der Propheten predigt nicht Enthaltsamkeit (Micha 4,4 u. Sach 3,10), aber sie verurteilt den Exzess: „Wehe denen, so ruft der Prophet Jesaja, die schon am frühen Morgen dem Rauschtrank nachjagen und am Abend verweilen, vom Weine erhitzt! Zither und Harfe, Pauke und Flöte und Wein vereinen sie zum Gelage, das Walten des Ewigen aber kümmert sie nicht, und was seine Hände tun, sehen sie nicht. Darum zieht mein Volk in die Verbannung (…). Seine Vornehmen leiden Hunger und die Masse verschmachtet vor Durst“ (Jes 5,11–13). Insbesondere verträgt sich die prosaische Nüchternheit der mosaischen Religion nicht mit orgiastischer Religiosität.

Andererseits ist die noachidische Menschheit bereits auf dem Weg zur abrahamitischen, und nicht alle Söhne Noachs reagieren in gleicher Weise auf den Rausch ihres Vaters. Nach der biblischen Völkertafel (Gen 10) war Schem der Vater der Hebräer (von Ewer, Gen 10,21.25), Japhet der Vater der Griechen (von Jawan, d. i. Ionien, Gen 10,2) und Cham Vater Kanaans und Großvater des „gewaltigen Jägers“ und Städtegründers Nimrod (Gen 10,12). Die Bibel und die jüdische Tradition betrachteten, wie schon öfter gesagt, solche Eigennamen als Programme. So wurde das nomen proprium des Urvaters der Juden, Schem, vom nomen commune Name, namentlich vom Namen schlechthin, nämlich dem Gottesnamen, HaSchem abgleitet, der Eigenname Japhet, des Urvaters der Griechen, vom hebräischen Wort „Schönheit“, Japhjut (bMeg 9b u. BerR 36) und der Eigenname Cham von Chom, Hitze. Bruder „Hitzkopf“, könnte man sagen, der sich schamlos am Anblick seines betrunkenen Vaters Noach weidet, wird hier von den beiden Brüdern: „Schöngeist“ und „Gottlob“ zurechtgewiesen, die schamhaft ihren bewusstlosen Vater bedecken. Ein überaus bezeichnender kleiner rabbinischer Midrasch sagt, dass Schem und Japhet deshalb würdig waren, den Gebetsmantel (Tallit) und den Philosophenmantel (Pallium) zu tragen (BerR 36,6), dass sie m. a. W. zur religiösen und philosophischen Sittlichkeit berufen waren, weil sie die wilde Ausschweifung überwanden. Im 19. Jahrhundert hat Rabbiner Samson Raphael Hirsch in seinem Kommentar zu dieser Bibelstelle frei nach dem erwähnten rabbinischen Midrasch und Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1793/94) sein gesamtes Kulturjudentum begründet. Der klassischen und humanistischen Bildung weist er dabei die Aufgabe zu, durch Schönheit die rohe chamitische Sinnlichkeit in semitische Geistigkeit überzuführen.6

Die rund siebzig Namen umfassende Liste der Nachkommen der Söhne Noachs wird in der Bibelwissenschaft Völkertafel genannt. Wenn wir Verse wie: „Die Söhne des Japhet, Gomer, Magog, Madai, Jawan, Tubal, Meschech und Tiras“ (Gen 10,2) lesen, wollen wir mit Prinz Hamlet verzweifelt ausrufen (II,2): „Was ist uns Gomer, was Magog?“ Gewiss, die Wissenschaftler sind voller Lob über diese Tafel und betonen einstimmig, dass sie ein „ethnographisches Dokument“ ohnegleichen im ganzen Altertum sei. Ohne ethnozentrische Verzerrung des Blickwinkels breitet sie die Völkervielfalt der drei Erdteile Europas, Afrikas und Asiens aus, wie sie sich damals einem Beobachter darbot. Aber man kann sich fragen, was die Tora, was die Weisung dieser Tafel ist. Man hat in ihr ein „messianisches Dokument“ gesehen, weil sie die faktische Pluralität der Menschen auf die ursprüngliche Einheit des Menschengeschlechts zurückführt und trotz ihrer aktuellen Verschiedenheit auf ihre zukünftige Wiedervereinigung hoffen lässt (Sacharja 14,9). Allerdings lehrt dann gleich das nächste Kapitel über Babel, welche Art von Einheit offenbar nicht erwünscht ist – es ist die zwanghafte Einheit des Imperiums, mit seiner alles einverleibenden Politik, seiner einstimmigen Reichs- und Amtssprache, seinen einzigartigen Monumentalbauten. Dieser Versuch ist nach der Bibel, die den Standpunkt einer „kleinen Literatur“ am Rande der altorientalischen Weltreiche einnimmt, zum Scheitern verurteilt. Allerdings wird Babel – wie Gott nach der Sintflut versprochen hatte – nicht zerstört, sondern löst sich, wie so viele Weltreiche seither, im Sprachenstreit auf. Worin bestand aber das spezifische Übel dieser letzten großen Episode der biblischen Urgeschichte des Bösen? Sehen wir uns den Text genauer an: Die Schrift erzählt von den Menschen, die sich sagten: „lasst uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis zum Himmel reicht, damit wir uns einen Namen machen und nicht über die ganze Erde hin zerstreut werden. Da stieg der Ewige herab, um die Stadt und den Turm zu sehen, den die Menschenkinder bauten. Und er sprach: Jetzt sind sie ein Volk und eine Sprache und dies ist nur der Anfang ihres Tuns; fortan wird ihnen nichts fehlschlagen, was sie auch ersinnen mögen. Wohlan, lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache dort verwirren, dass einer die Sprache des anderen nicht verstehe. Und der Ewige zerstreute sie von dort über die ganze Erde hin, und sie hörten auf, die Stadt zu bauen“ (Gen 11,4–10). Es ist hier nicht von einen großstädtischen Sündenpfuhl die Rede. Im Gegenteil, die Erbauer der Stadt waren perfekt organisiert, und ihre Arbeitsdisziplin wird ausdrücklich hervorgehoben. So wird vergleichsweise ausführlich berichtet, wie sie sich in der steinarmen Gegend die erforderlichen Ersatzbaustoffe besorgen (Gen 11,3). Außerdem stören Gott keineswegs der Turm und die Stadt an sich. In diesem Punkt ist der Bibeltext sogar ziemlich ironisch: Gott muss weit herabsteigen, um den angeblich himmelstürmenden Turm überhaupt zu sehen. Was ihn stört, ist nicht das Bauwerk, sondern die Absicht dahinter: Die Menschen wollten sich damit einen „Namen machen“, sagt die Bibel, wollten berühmt und gerühmt werden. Die Sünde der „Generation der Zerstreuung(Dor Haflaga), so unterstreicht auch eine Tradition im Talmud (bSan 109a), war der Götzendienst. Damit ist vermutlich nicht der Gottesdienst gemeint, der an der Spitze der alten mesopotamischen Zikkurat abgehalten zu werden pflegte, sondern wohl die hybride Selbstvergötzung. Wie der Talmud an anderer Stelle sagt: „Wenn einem Menschen Hochmut innewohnt, so ist es ebenso, als würde er Götzendienst treiben (Kol Adam ScheJäsch Bo Gassut Ruach – KeIlu Owed Awoda Sara). (…) Wenn einem Menschen Hochmut innewohnt, so spricht der Heilige, gepriesen sei er: ‚Ich und er können nicht zusammen auf der Welt wohnen. Es heißt nämlich (im Psalm 101,5): ‚wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den vernichte ich, wer stolzen Blickes und aufgeblasenen Sinnes ist, den mag ich nicht‘, – man lese nicht: ‚den (Oto) mag ich nicht‘, sondern, ‚mit dem (Ito) mag ich nicht‘ (bSota 4b–5a). Gott hielt es mit diesen Angebern nicht im gleichen Raum aus: Er vertrieb Adam aus dem Paradies (WaJegaresch Et HaAdam, Gen 3,24), Kain vom Lande (Geraschta Oti […] MeAl Pnei HaAdama, Gen 5,14), die „Generation der Sintflut(Dor HaMabul) von der Oberfläche der Erde (Emche Et-HaAdam […] MeAl Pnei HaAdama, Gen 6,7), und die Generation des Turmbaus aus ihrer Stadt (Gen 11,9).

Wenn wir jetzt die biblische Urgeschichte insgesamt mit den Augen der Rabbinen überblicken, dann zeigt sich, dass die Menschen in diesen zwei mal zehn Generationen von Adam bis Noach und von Noach bis Abraham immer wieder derselben Versuchung erliegen wie der Urmensch, und ihr langes Sündenregister wirft umgekehrt auch ein Licht auf die berühmte Ursünde zurück. Nichts Menschliches aus den ersten 11 Kapiteln der Genesis ist uns fremd. Überall erkennen wir den Menschen wieder, wie er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln das ihm gebotene Maß moralisch, politisch, technisch, biologisch, kulturell überschreitet. Dabei leidet er nicht etwa an einer unheilbaren Erbkrankheit, an einer von Generation zu Generation übertragbaren Geschlechtskrankheit oder dgl. mehr, sondern er ist schlicht ein unbelehrbarer Wiederholungstäter. Ja, die Bibel ist so weit entfernt, ihn aus seiner Verantwortung zu entlassen, dass sie alle metaphysischen und physischen Übel dieser Welt auf sein moralisches Übel zurückführt. Allerdings lässt der auf frischer Tat ertappte „Übermensch“ selber jeglichen Heroismus vermissen und schiebt die Schuld auf seine Frau, ja auf Gott, der sie ihm gegeben hat (Gen 3,12), und die Frau wälzt sie weiter auf die Schlange ab (Gen 3,13). Nietzsche stellt in seiner Geburt der Tragödie (Kap. 9) diesen weibischen „semitischen Sündenfallmythus“ dem männlichen arischen Mythos vom stolzen Frevel des Prometheus gegenüber. Doch auch Gott lässt die feigen Ausreden des Menschen nicht durchgehen. Trotzdem sind die meisten theologischen Hamartiologien nichts als Neuauflagen dieser Ausreden. Auch die jüdische Tradition war gegen die Versuchung nicht gefeit, die größere Nähe der Frau zur Sünde in der biblischen Erzählung in eine besondere Verwandtschaft von Weiblichkeit und Bosheit umzumünzen und dem Weib die Schuld an allem Übel dieser Welt zuzuschieben.

Das Böse in den Weltreligionen

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