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Einleitung
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges hieß es, Adolf Hitler sei der eschatologische Antichrist oder die Inkarnation des Bösen schlechthin. Danach wurden diese Personifikationen auf Josef Stalin oder auf Mao Tse-tung übertragen. Mit der Entspannung der Beziehungen zwischen West und Ost verklang auch die Rede von den Inkarnationen des Bösen allmählich.
Das öffentliche Interesse am „Bösen“ ist in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts aber wieder angewachsen und hat seit dem 11. September 2001 einen neuen weltweit registrierten Höhepunkt erreicht. Nicht nur im Sprachgebrauch der Politiker und Journalisten, sondern auch der Analytiker der Gesellschaft in Soziologie, Philosophie, Theologie gewann „das Böse“ erneut eine Spitzenposition. Das Böse beschränkt sich jedoch nicht auf eine „Achse des Bösen“ bestimmter „Schurkenstaaten“, wie der amerikanische Präsident George W. Bush erklärte, sondern wir alle sind stets daran beteiligt.
Weil der Herausgeber während der Vorbereitungsphase dieses Werkes mehrmals hierzu gefragt worden ist, sei gleich zu Anfang einem möglichen Missverständnis des Titels dieses Werkes vorgebeugt. Es geht in ihm nicht um das faktische Böse in den Weltreligionen, also nicht um ihre „Verbrechensgeschichte“, sondern um ihr mehr oder weniger reflektiertes Verständnis vom Bösen. Es geht um ihre Idee vom Bösen, vor deren Hintergrund sie sich als Wege zum Heil anbieten.
Der vorliegende kontrastive Sammelband über „Das Böse in den Weltreligionen“ verdankt seine Existenz nicht einer momentanen Tagesaktualität wie der des 11. September 2001, sondern der weitsichtigen Planung des Verlags und den langjährigen gründlichen Forschungen der Autoren. Zwar entfaltet jeder der Autoren das gemeinsame Thema „das Böse“ im Rahmen seiner jeweiligen Wissenschaft und Forschungsgeschichte auf eigene Weise. Aber ihre Ergebnisse können die Grundlage für weiterführende und übergreifende allgemeinere Fragestellungen bilden, die sich jedem denkenden Leser aufdrängen, wie z. B. für die Fragen nach der perspektivischen „Relativität“ des Bösen, nach seiner bedingten „Notwendigkeit“, nach dem epochalen, kollektiven, strukturellen, institutionellen Bösen, nach der „Dialektik“ des Bösen als felix culpa usw.
Von welchen Weltreligionen handelt das Werk? Vom Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus. Es gibt mindestens zwei Begriffe von „Weltreligion“: einen normativen Begriff „Weltreligion“ und einen faktischen Begriff „Weltreligion“. Der normative Begriff „Weltreligion“ bezieht sich auf diejenigen Religionen, die sich an alle Menschen wenden, ohne Rücksicht auf Rasse, Kultur, Nation, Staat, Alter, Geschlecht, Stand usw. Sie sprechen den Einzelnen als solchen an. Weltweite Missionstätigkeit kann hinzukommen, muss aber nicht. Weltreligionen im normativen Sinn müssen nicht tatsächlich in der ganzen Welt Gemeinden haben. Gerade heutzutage, nach dem Eintritt ins Zeitalter des Internets, ist auch eine globale Net-Gemeinde möglich geworden, die sich aus isolierten individuellen Usern aufbaut, ohne dass lokale und regionale Missionsgemeinden geschaffen werden müssen. Der faktische Begriff „Weltreligion“ hingegen bezieht sich auf tatsächlich in der ganzen Welt oder wenigstens in vielen Teilen der Welt verbreitete Religionen, mögen sie sich an den Einzelnen als solchen wenden oder sich als Religion einer bestimmten weltweit verstreuten Gemeinschaft (Rasse, Volk, aber auch Interessengemeinschaft usw.) verstehen.
Das vorliegende Werk hat Weltreligionen im faktischen Sinn zum Gegenstand, von denen einige auch Weltreligionen im normativen Sinn sein wollen (Christentum, Islam, Buddhismus, neuere Richtungen des Hinduismus), aber nicht alle (nicht Judentum).
Es ist übrigens durchaus möglich und wahrscheinlich, dass die Religionswissenschaft im Jahre 2050 neben den oben genannten Weltreligionen noch andere Religionen zu den normativen bzw. zu den faktischen Weltreligionen rechnen wird, z. B. auch den Taoismus und manche so genannte „Neureligion“.
Selbstverständlich gibt es immer wieder Religionen, die das Böse substantialisieren, sogar personifizieren und als den Menschen bedrohende selbständige gegengöttliche, zweite kosmische Macht vorstellen. Aber je gründlicher eine Religion über das Böse nachdenkt, desto klarer kommt ihr zu Bewusstsein, dass das Böse letztlich mit dem Geheimnis des Seins, Tuns und Sichdeutens des Menschen selbst verbunden ist. Allein schon deswegen dürfen wir „das Böse“ nie nur vergegenständlicht und getrennt von uns selber betrachten, sondern müssen uns mit ihm auch als mit „unserem Bösen“ auseinander setzen, d. h., wir müssen uns mit uns selber auseinander setzen. Wir nehmen dann „das Böse“ nicht als von uns getrennte und selbständig wirkende Ursache, sondern als eine Wirkweise unseres selbstwidersprüchlichen Selbst, d. h. unseres unendlich-endlichen und universal-individuellen Wesens wahr. Das heißt nicht, dass der Bedeutungsumfang des „Bösen“ auf den Bereich des moralischen Handelns eingeschränkt wäre. Im Gegenteil: Die ganze menschliche Existenz mit allen ihren diachronischen und synchronischen Weltperspektiven steht zur Debatte.
„Das Böse“ kann darum in diesem Band je nach dem Verständnis der betreffenden Religion viele verschiedene Bedeutungen annehmen: z. B. das Böse als malum metaphysicum (traditionell als „die Endlichkeit bzw. Vergänglichkeit des Menschen“ verstanden), malum physicum („die naturgegebenen Übel, die Naturkatastrophen, die natürlichen Gebrechen“, die somatischen und psychischen „Krankheiten“, der „natürliche Tod“), malum cosmicum („eine zweite kosmische Macht gegen die Macht des Guten bzw. gegen die Macht einer Gottheit“), malum morale (die „Schuld“, das individuelle „böse Handeln“, die „Laster“ als böse Gewohnheiten, die „Bosheit“ als Haltung oder Gesinnung sowie auch das „radikale Böse“ im Sinne Kants als „intelligible Tat“ bzw. als in einem bedingten Sinn „apriorischer“ Hang zum moralischen Bösen), malum sociale (die überindividuellen, institutionellen „gesellschaftlichen Übel“), malum theologicum („die Sünde“ als unmittelbar gegen einen personal verstandenen Gott gerichtete Handlung oder Gesinnung), malum protologicum („die Ursünde“, das „Urböse“ bzw. das „Urübel“) oder malum eschatologicum (das „endgültige Unheil“, die „endlose Hölle“, die „ewige Verdammnis“) usw.
Wenn man alle diese und weitere denkbaren Bedeutungsnuancen zu einem malum religiosum im weiten Sinn rechnet, kann man vorläufig aus ihnen ein malum religiosum im engen Sinn herausheben, das bei theistischen Religionen mit dem malum theologicum („Sünde als unmittelbar gegen Gott gerichtete Gesinnung oder Handlung“ oder als „Selbstverabsolutierung des geschaffen-schaffenden Selbst gegenüber dem ungeschaffen-schaffenden Du“) identisch zu sein scheint, bei nicht-theistischen Religionen aber wohl als malum religiosum im Sinn der „Selbstverabsolutierung des sich missverstehenden Selbst gegenüber dem wahren Selbst“ gedeutet werden kann.
Die Reihenfolge der Beiträge (Teil 1: Judentum, Teil 2: Christentum, Teil 3: Islam, Teil 4: Hinduismus, Teil 5: Buddhismus) enthält keine Werthierarchie (z. B. nach dem Kriterium „theistische Religionen“: Judentum, Christentum, Islam zuerst). Auch die Gegenüberstellung von so genannten „Offenbarungsreligionen“ (Judentum, Christentum, Islam) gegen „Weisheitsreligionen“ (Hinduismus, Buddhismus) hat bei der Einteilung des Werkes keine Rolle gespielt. Die Reihenfolge im Sammelband folgt einfach der in Europa heute üblichen Aufzählungsweise. Sie passt sich nur der Erwartung des europäischen Lesers an, der zurzeit noch gewohnt ist, die Weltreligionen in dieser Reihenfolge aufzuzählen. Das muss nicht immer so bleiben. Es ist denkbar, dass spätere Generationen auch in Europa die Reihenfolge umkehren oder alle Glieder der Reihenfolge umstellen. Man denke nur an die wachsende Bedeutung des Taoismus im Bewusstsein der Europäer, von dem wachsenden Einfluss des Buddhismus ganz zu schweigen.
Die Einzelbeiträge wurden vom Herausgeber nur in bezug auf Formalia (Zitationsweise usw.) vereinheitlicht. Ihr Inhalt und ihre Gesamtgestalt sind Leistung und Eigentum ihrer Autoren. Die Einzelbeiträge können für sich selbst sprechen.
Die lange Vorbereitungsgeschichte dieses Werkes hat Herr Lektor Bruno Frisch von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt vorbildlich betreut. Dass dieses wissenschaftlich außerordentlich mühevoll zu erarbeitende Werk überhaupt zustande kam, ist seiner ersten Anregung und seinem unermüdlichen Drängen zu verdanken. Herr Lektor Dr. Bruno Kern übernahm und vollendete die Aufgabe mit gleichem Engagement.
München, Frühjahr 2003
Johannes Laube