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3. Die Schlange

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Welche Rolle spielte eigentlich die Schlange im Sündenfall? Es ist zunächst einmal bemerkenswert, welche Rolle sie nicht spielte. Sie war kein Teufel, sondern ausdrücklich ein Geschöpf (Gen 3,1), das dem Menschen untergeordnet worden war (Gen 1,28; 2,19; 4,7). Sie wirkte, ferner, nicht durch ihren Biss und ihr Gift, sondern durch ihre Sprache. Der Mensch wird von der Schlange also nicht besessen und wider Willen beeinflusst, sondern in einer ihm gemäßen Weise angesprochen. Beides, das Göttliche wie das Widergöttliche, erscheinen dem biblischen Menschen nicht als fremde Mächte, sondern in menschlicher Weise. Ja, die Schlange spricht nur die intimsten Wünsche des Menschen aus und konnte so zum Sinnbild seines bösen Triebes (Jezer HaRa) werden. Die Sünde überfällt und überwältigt den Menschen also nicht wie ein wehrloses Opfer, sondern überzeugt ihn mit vernünftigen Argumenten und findet seine bereitwillige Zustimmung. Er war keineswegs gezwungen, ihren Lockungen nachzugeben, sondern hätte ihr ebenso gut widerstehen können. Wie der Talmud sagt: Nicht die Schlange, sondern die Sünde tötete (bBer 33a). Das bestätigt sich, wenn wir die Geschichte des nächsten großen Sünders der biblischen Urgeschichte, Kain, heranziehen. Gott sagt ihm, sowie allen späteren Erbsündelehrern: „Vor der Tür lagert die Sünde (LaPetach Chatat Rowez), nach dir ist ihr Verlangen, aber du kannst über sie herrschen“ (Gen 4,7). Obwohl die Sünde sozusagen „fast bei uns drin ist“, bleiben wir ihr gegenüber doch frei und könnten uns beherrschen: posse non peccare!

Wenn die Schlange auch keine Gewalt gegen die Menschen anwendet, so ist sie doch eine außerordentlich gewandte, beinahe unwiderstehliche Rednerin. John Milton stellt sie in seinem Verlorenen Paradies nicht umsonst in der Pose des antiken Rhetors dar. Wie sie sich schon bei der Ahnfrau einführt! Ihre captatio benevolentiae bleibt ein echtes Meisterstück doppeldeutiger Rede, voller, mit Heinrich Heine zu sprechen, „Fußangeln und Selbstschüsse(Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland Vorr., 2. Aufl.). Gott hatte zu Adam gesagt: „Von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens darfst du essen. Aber (We) vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von diesem sollst du nicht essen (Lo Tochal)“ (Gen 2,16–17). In Anbetracht des Überangebots an wohlschmeckenden Früchten (Gen 2,9) hatte Adam diesen Baum sicher gleich wieder vergessen. Die Schlange brachte ihn nicht direkt in Erinnerung, sondern ließ die Frau von selbst wieder darauf kommen. Schon die mehrteilige Konjunktion „Af Ki“, mit der ihre Rede anhebt, hat nicht nur Eva, sondern alle Übersetzer bis heute in Verlegenheit gebracht. Leitet sie bloß interrogativ eine rhetorische Frage ein: „Wie, Gott hat gesagt, ihr sollt nicht von allen Bäumen des Gartens essen?“ (Tur-Sinai, B. Jacob, Genesis, 1934, S. 103, u. ähnlich M. Luther), oder konzessiv bereits einen Gegensatz: „Wenn gleich Gott es gesagt, solltet ihr von all den Bäumen des Gartens nicht essen?“ (S. R. Hirsch, J. Wohlgemuth u. J. Bleichrode, M. Buber u. F. Rosenzweig)? Darüber hinaus verwandelte die Schlange durch die Verknüpfung der beiden Aussagen Gottes, Gen 2,16 und 2,17: „Von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens darfst du essen“ und „von diesem sollst du nicht essen (Lo Tochal)“ zu: „ihr sollt nicht von jedem Baum (MiKol Ez) des Gartens essen (Lo Tochlu)?“ die großzügige göttliche Erlaubnis in ein missgünstiges Verbot. Schließlich ließ die logisch schwierige Verknüpfung der Allaussage „MiKol …“ und der Negation „Lo“ in der Frage: „Ihr sollt nicht von jedem Baum des Gartens essen?“ unentschieden, ob sie meint, die Menschen dürften nicht von allen Bäumen essen oder von allen Bäumen nicht essen. Die Fangfrage erzwang die Richtigstellung der Frau, dass sie von allen Bäumen des Gartens wohl essen dürften, außer von jenem einen Baum – womit die Schlange am Ziel wäre und das Gespräch ganz von selbst auf den verbotenen Baum gelenkt hätte. Die Antwort der Frau zeigt, wie stark die Anziehung des Verbotenen zu wirken beginnt. Zunächst meint die Frau entgegen dem göttlichen Verbot (Gen 2,17) übertrieben, sie dürften jenen Baum unter Todesstrafe nicht einmal berühren (Gen 3,3). Die Schlange, die sich vielleicht gerade munter auf einem seiner Äste ringelte, hatte nun leichtes Spiel, und die Ahnfrau wurde zum Paradebeispiel für die Sünde aus übertriebener Sündenscheu (so Raschi z. St.). Die Schlange, die vielleicht selber gerade von der verbotenen Frucht gegessen hatte und sich nun mit Gut und Böse auskannte, klärte die Menschheit über die wahren Absichten Gottes auf und entlarvte hinter all dem Guten, womit sich der Schöpfer gerühmt hatte, die böse Absicht: All der Überfluss, wollte sie insinuieren, sollte nämlich nur den wesentlichen Mangel verschleiern. Gott hat dem Menschen aus niederen Beweggründen das wichtigste aller Güter vorenthalten und wollte ihn mit Scheingütern in kindlicher Unmündigkeit halten. Die Menschen sollten nur einmal von der verbotenen Frucht kosten, dann würden ihnen schon, wie ihr, dem lidlosen Wesen, „die Augen aufgehen“ und sie würden gleich göttlichen Wesen (KeElohim) dieses wahre Gut erkennen (Gen 3,5). Die hegelianische „Privatdozentin“, wie H. Heine den „Blaustrumpf´“ spöttisch nennt (ebd.), demonstriert hier, dass aus dem „Zustande der ursprünglichen Natürlichkeit muss herausgegangen werden“14, und zwar vermittels Nietzsches „aktiver Sünde“. Die Schlange ist jene große Umwerterin aller Werte, die das Gute in der Schöpfung ins Böse und das Böse ins Gute verkehrte. Mit ihrer bösen Zunge erzeugte sie den scheelen Blick und erregte den nie befriedigten Neid.

Das soll aber, wie schon gesagt, nicht heißen, dass die Schlange alle Schuld am Fall des Menschen hätte. Denn nichts Schlangenhaftes ist dem Menschen fremd, und der „Geist, der stets verneint“, ist authentisch menschlicher Geist. In der Bibel selber (Ps 140,4) wie in der jüdischen und christlichen Tradition ist die Schlange – diese lose Zunge – Sinnnbild der Laster der Verleumdung und des Neides. Die überaus anschauliche göttliche Strafe für verleumderische Reden besteht nach den Rabbinen darin, „dass sich die Zunge bis über den Nabel dehnt und Würmer aus der Zunge in den Nabel und aus dem Nabel in die Zunge kriechen“ (bSot 35a u. Raschi zu Num 14,37). Die christliche Kunst hat die Todsünde des Neides als Ekel erregende Figur mit Mauseohren und einer aus dem Mund züngelnden Schlange gemalt (vgl. z. B. Giottos Invidia in der Kapelle Scrovegni, Padua). Nach der rabbinischen Anthropologie sind diese Laster allerdings angeborene Neigungen des Menschen. Im zweiten Schöpfungsbericht heißt es: „Gott, der Ewige, bildete den Menschen (Adam) aus Staub von der Erde (Adama) und blies in seine Nase den Hauch des Lebens; so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen (Nefesch Chaja)“ (Gen 2,7). Nach der Beatmung durch ihren Bildner atmet und lebt die leblose Lehmfigur auf und wird zum Menschen, und wenn er zum letzten Mal ausatmet, dann wird er wieder zu Staub (Gen 3,19). Man kann den hebräischen Ausdruck: „lebendes Wesen (Nefesch Chaja)“ auch mit: „lebendiger Atem“ oder, wenn wir den Atem als das setzen, was den leblosen Körper zu einem Lebewesen macht, wie Luther mit: „lebendiger Seele“ wiedergeben. Das Atmen unterscheidet den Menschen aber noch nicht von jedem anderen Lebewesen (Nefesch Chaja, Gen 1,20.24). Im Menschen wird der Atem jedoch im Unterschied zu allem, was sonst noch auf der Erde atmet, zur artikulierten Rede, zu Geist. Darum gibt die aramäische Standardübersetzung der Bibel (Targum Onkelos) den Ausdruck: „lebendes Wesen“ in unserem Vers mit „sprechender Geist(Ruach Memalela) wieder, und die mittelalterliche jüdische Standardglosse von Raschi erläutert zur Stelle: „auch die zahmen und die wilden Tiere werden ‚lebendige Seele‘ genannt, doch die Seele des Menschen ist lebendiger als die aller anderen, denn sie hat zusätzlich Erkenntnis und Sprache“. Mit seiner Fähigkeit gleicht das sprechende Tier („Chaja“) auf der einen Seite Gott, der durch seine Worte eine Welt erschuf, die gut war, und auf der anderen Seite der Schlange, die durch ihre Worte die Welt wieder schlecht machte. Der Weise Jesus Sirach sieht darum in der Zunge die Quelle allen menschlichen Unglücks: „Ehre und Schande liegen in der Sprache, und des Menschen Zunge bewirkt seinen Untergang“ (5,13). Die Rabbinen sagen, der Schöpfer habe dieses zweideutige, gefährliche Organ vielfach gesichert: „Alle Glieder des Menschen stehen, lässt der Talmud Gott zur gefährlichen Zunge sprechen, du aber liegst, alle Glieder des Menschen befinden sich außen, du aber innen; und noch mehr, ich habe dich mit zwei Mauern umgeben, einer aus Knochen (d. i. der Kiefer) und einer aus Fleisch (d. i. der Mund)“ (bAr 15b) – ohne Erfolg! Der Psalmist (120,4) und der Prophet (Jer 9,7) vergleichen die böse Zunge mit einem geschärften Pfeil. Die spitze Zunge, die scharfzüngigen Worte verletzen, mit Shakespeare zu sprechen, „wie Dolche“ (Hamlet III,4). Doch der Vergleich mit dem Pfeil ist noch besser, weil er seine unumkehrbare Fernwirkung ausdrückt: „Der Schlag durchs Schwert kann nur töten, sagen die Rabbinen, wenn der Gegner nahe ist, der Schlag durch den Pfeil aber trifft ihn und schlägt ihn an jedem Ort“ (MidrTeh zu Ps 12, 3). „Wenn der Mensch das Schwert, das in seiner Hand ist, zieht“, sagen sie ferner, „um seinen Genossen zu töten und dieser ihn um Gnade bittet und um Erbarmen anfleht, so reut es den Mörder und er steckt es wieder in die Scheide, aber der Pfeil, sobald er abgeschossen ist, geht fort und kehrt, selbst wenn er es wünscht, nicht wieder zurück“ (MidrTeh 120,4). Ein in die Welt gesetztes Gerücht entfaltet unaufhaltsam seine zerstörerische Wirkung. Einst fragte ein Mann einen Rabbi, wie er eine üble Nachrede wieder gutmachen könne. Der Rabbi ließ ihn ein Kissen holen und die Federn im Wind verstreuen; dann hieß er ihn, sie wieder einzusammeln. Der Mann erwiderte, das sei unmöglich. Da sagte der Rabbi, ebenso unmöglich sei es, ausgesprochene und verbreitete Worte wieder zurückzurufen – für Verleumdung gebe es daher keine Entschuldigung (bBaKa 36b). Ebenso ist die Verleumdung der Schöpfung unwiderruflich und in diesem Sinne radikal. Ist nämlich erst einmal der Verdacht in die Welt gesetzt, dass die Idylle nichts als Blendwerk ist und als Tarnung für repressive Machtinteressen dient, dann ist das Paradies für immer verloren.

Die rabbinische Auslegungstradition hat daher nicht die Schlange, sondern die menschlichen Laster, für die sie sinnbildlich steht, für den Verlust des Paradieses verantwortlich gemacht, und es stimmt keineswegs, wie Hegel meinte, „dass diese Geschichte im jüdischen Volke geschlafen“ habe (ebd., S. 78).15 Auch wenn gelegentlich rebellische Engel und böse Dämonen bemüht werden, geht es doch auch hier menschlich, allzu menschlich zu. Einer der einflussreichsten „historischen“ Midraschim, die den biblischen Stoff frei nacherzählen, die pseudoepigraphen Lehren des Rabbi Elieser (Pirke DeRabbi Elieser) aus dem 9. Jh., stellen der Sündenfallerzählung im 13. Kapitel den rabbinischen Spruch: „Die Eifersucht (Kina), die Begierde (Ta’awa) und der Ehrgeiz (Kawod) bringen den Menschen aus der Welt“ (mAw 4,28) als Motto voran. Es fing damit an, dass die Engel erstens eifersüchtig auf den noch gar nicht erschaffenen Menschen waren. Der Mensch wäre doch nichts, sagten sie mit dem Psalmisten zum Schöpfer, als ein vergänglicher Hauch (Häwäl) (Ps 144,4). Doch Gott erwiderte, dass der Mensch mit dem Hauch seines Mundes auf Erden, wie die Engel im Himmel, die Einheit Gottes verkünden und die Tiere benennen und beherrschen werde (Gen 2,20). Nachdem Gott den Menschen also gegen den Protest der Engel erschaffen hatte, verschworen sie sich gegen ihren irdischen Rivalen – und brachten ihn mit seinen gezähmten Tieren und seiner schwachen Frau zu Fall. Der mächtigste Engel, der Zwölfflügler Samael16, flog mit seiner Bande zur Erde herab, sah sich alle Tiere an und fand keines, das sich so gut für das Böse eignete (Chacham LeHara) wie die Schlange. Damals, bevor Gott sie zum Kriechen verdammt hatte (3,14; PRE 14), glich sie noch einem Kamel. Der böse Engel bestieg sie, bemächtigte sich ihrer und hetzte sie wider Willen auf das Urpaar. Der Midrasch betont, dass die Schlange selber unschuldig und vom bösen Dämon besessen war. Das Gespann wandte sich daraufhin an das schwache Geschlecht und weckte zweitens ihre Begierde. „Stimmt es, dass euch die Frucht des Baumes der Erkenntnis verboten ist?“ Eva erwidert entgegen dem göttlichen Speiseverbot (2,17) übereifrig, dass es ihnen nicht nur verboten sei, von der Frucht zu essen, sondern sogar sie zu berühren, weil sie sonst des Todes wären (3,3). Diese fromme Übertreibung wurde der Urfrau zum Verhängnis, weil sie der Schlange eine Bresche zum Angriff bot (LeHichanes Bo). Die Schlange entlarvte daraufhin die göttliche Missgunst (Ajin HaRa) als das wahre Motiv des göttlichen Verbots und reizte drittens den Ehrgeiz der Frau: Gott habe dem Menschen diese Frucht nur deshalb vorenthalten, weil sie ihm sonst gleichen würden (3,5 u. 22) und, wie er, Welten erschaffen und vernichten, töten und wieder beleben könnten. Zum augenfälligen Beweis der Unschädlichkeit des Baumes berührt ihn die Schlange und zeigt der Urfrau, dass ihr gar nichts passiert sei. Die Urfrau greift nun ebenfalls nach dem Baum. Dabei überkommt sie Todesangst. Sie denkt sich: „jetzt werde ich sterben und Gott wird Adam an meiner Stelle eine andere Frau machen, ich muss auch Adam von der Frucht geben, damit wir, wenn es denn sein muss, beide zusammen sterben (…)“. Nach diesem Midrasch, der, ohne die Erzählebene zu verlassen, die allzu menschlichen Motive des Paradiesdramas aufzudecken versucht17, herrschte im Paradies nichts weniger als Friede und Freude, sondern von Anfang an Konkurrenz zwischen Engeln und Menschen, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Gott, zwischen Mann und Frau. Die Sünde des Menschen ist nach diesem Midrasch nicht Folge einer zufälligen Fehlleistung, sondern notwendiger Ausdruck der Verhältnisse in der Schöpfung, der Ungleichheit der Geschöpfe. Die Paradiesgeschichte ist sozusagen schon eine Geschichte von Klassenkämpfen.

Noch dramatischer schildert Raschi diesen Fall in seinem Kommentar. Er versucht mit Hilfe des eben angeführten Midraschs die angedeuteten oder verschwiegenen Motive der Akteure der Erzählung zu ermitteln. Dabei deckt er eine regelrechte Dreiecksgeschichte zwischen Adam, Eva und der Schlange auf. Raschi fragt zunächst, warum die Erzählung vom Sündenfall im 3. Kapitel der Genesis an den Vers: „Und sie waren beide nackt, der Mensch und sein Weib, und schämten sich nicht“ (2,25) anknüpft, und bringt die Erklärung: Der Text will „dich lehren, mit welchem Plan die Schlange sie überfiel. Sie sah sie nackt und vor dem Auge aller dem Geschlechtsverkehr hingegeben, da erwachte ihre Begierde auf Eva“ (vgl. GenR 18,6). Die Schlange, gleichsam ein verselbständigtes männliches Glied,18 hatte es auf Eva abgesehen und beabsichtigt, Adam zu beseitigen (vgl. auch Raschi zu 3,15). So wie die Schlange aus Neid handelt, so unterstellt sie auch Gott, aus Neid zu handeln. In der biblischen Begründung der Schlange für das Verbot des Genusses vom Baum der Erkenntnis: „Denn Gott weiß, dass ihr am Tage, da ihr davon esset (…) Gott gleich werdet (Wihjitem KElohim)“ (3,5) identifiziert Raschi erstens das von der Schlange Gott unterstellte Motiv des Kollegenneides: „Jeder Handwerker, kommentiert er, hasst seine Zunftgenossen, (denn) vom Baum der Erkenntnis hat (Gott) gegessen und die Welt erschaffen“ und zweitens den von der Schlange im Menschen erregten Karrieristenwunsch, selber „Schöpfer von Welten(Jozre Olamot) zu werden. So wie die Schlange, könnte man sagen, die die Artgrenze vom Tier zum Menschen durchbrechen will, so treibt sie auch den Menschen, die Gattungsgrenze von Mensch zu Gott zu überspringen – um ihn dadurch zu Fall zu bringen. Der nächste Vers: „Als nun das Weib sah, dass der Baum gut sei zum Essen (…)“ (3,6) zeigt nach Raschi, wie erfolgreich die Schlange mit ihrer niederträchtigen Rede gewesen ist. Das Sehen des Weibes, das die Bibel beschreibt, ist nun kein unschuldiges Hinschauen mehr, sondern ein begehrlicher Blick, der nach Raschi verrät, dass sie sich die Sichtweise der Schlange angeeignet hat und „die Worte der Schlange billigte, (dass) sie ihr gefielen, und (dass) sie ihr glaubte“. Wenn Eva nach der biblischen Aussage daraufhin feststellt, „dass der Baum gut sei“, dann meint sie, nach Raschi, nicht mehr nur, dass er ihr schmackhaft vorkam, sondern dass er in ihren Augen auch gut für den in Aussicht gestellten Zweck war, nämlich „wie Gott zu werden“. Das Gift der Schlange hat gewirkt, die Güte Gottes wird zum Schlechten ausgelegt, „gleich“, um mit Teresa von Ávila zu sprechen, „wie in den giftigen Tieren sich alles, was sie essen, in Gift verkehrt“ (Traktat von der Liebe Gottes 1). Raschi kommt es offenbar nicht auf die Sünde selber an, auf die Übertretung irgendeines unverständlichen Speiseverbots, sondern auf die Sünde vor der Sünde, auf die böse Gesinnung. Der Plan der Schlange, Eva zu vergewaltigen, scheitert zwar, denn Eva und nicht Adam isst zuerst von der Frucht und gibt dann erst ihrem Mann davon, damit sie, wie Raschi mit Pseudo-Rabbi-Elieser hinzufügt, „nicht sterbe und er am Leben bleibe und eine andere Frau nehme“, aber der scheele Blick und die böse Zunge der Schlange vergiften von nun an unwiderruflich das paradiesische Verhältnis von Gott und Mensch, von Mensch und Tier (Gen 3,15 u. Raschi ad loc.), von Mann und Weib, von Mutter und Kind (Gen 3,16), von Bauer und Acker (Gen 3,17–19) usw.

Im rabbinischen Midrasch bleibt die Schlange trotz des offenkundigen Interesses an der Moral der Fabel eine Person der Handlung, in der religionsphilosophischen Allegorese wird sie zu einer Abstraktion. Philo von Alexandrien gibt die Sündenfallgeschichte folgendermaßen wieder: Die Schlange habe sich einst Eva genähert und „habe sie wegen ihres Zauderns und ihrer allzu großen Scheu geschmäht, weil sie Bedenken trage und zögere, eine Frucht zu pflücken, die überaus schön anzuschauen ist und angenehm zu essen war, dazu aber auch von größtem Nutzen, weil sie dadurch Gutes und Böses würde erkennen können“. Philo versichert, dass diese biblische Erzählung „nicht mythische Erfindungen (sei), wie die, an denen sich das Dichter- und Sophistenvolk erfreut, sondern Beispiele von zeichenhaften Bildworten, die zur übertragenen Deutung und Aufdeckung des verborgenen Sinnes auffordern“ – was er mit einer witzigen Allegorie der Schlange sogleich unter Beweis stellt. „Die erwähnte Schlange, sagt er, ist Sinnbild der Lust, weil sie erstens ein Wesen ohne Füße ist und vornüber auf dem Bauch liegt, zweitens weil sie Erdklumpen als Nahrung benutzt, drittens, weil sie das Gift in ihren Zähnen herumträgt, mit dem sie die Gebissenen zu töten vermag. Nichts von dem Angeführten fehlt dem Lustdiener. Nur mit Mühe hebt er den Kopf, von schwerer Last hinunter gezogen, und wird von der Unmäßigkeit vornüber gestürzt und zu Fall gebracht; er nährt sich nicht von himmlischer Speise, welche die Weisheit den die Schau Liebenden durch Wort und Lehren darreicht, sondern von der, welche in den Jahreszeiten von der Erde hervorgebracht wird, welche Trunkenheit, Gefräßigkeit und Schlemmsucht hervorruft, die die Begierden des Bauches fortreißen und erregen zu gieriger Völlerei und auch die Wildheit der Unterleibsbegierden steigern und aufwühlen. Von Gier gequält beschnüffelt er das Erzeugnis der Kochkünstler und reckt den Kopf ringsumher aus, um den Duft der Leckerbissen einzuatmen; und sobald er eine reich besetzte Tafel erblickt, wirft er sich ganz auf das Aufgetragene und stürzt darauf los voll Eifer, sich alles auf einmal einzufüllen, nicht zur Sättigung, sondern um ja nichts von dem Aufgetragenen übrig zu lassen. Daher trägt er nicht weniger als die Schlange das Gift in den Zähnen. Diese nämlich sind die Diener und Handlanger der Unmäßigkeit, denn alles, was zur Nahrung dient, zerkleinern und zermalmen sie und übergeben es erst der Zunge, die über den Geschmack entscheidet, zur Beurteilung, sodann dem Schlund. Ein Übermaß von Speisen ist aber natürlich tödlich und giftig, da sie eine Verdauung nicht zulassen, dadurch, dass die Zufuhr des Hinzukommenden geschieht, bevor das Frühere fertig verdaut ist. Es heißt aber, die Schlange habe menschliche Laute hervorgebracht, weil die Lust unzählige Vorkämpfer und Verteidiger hat, welche die Besorgung und Vertretung ihrer Sache übernommen haben, die sich erdreisten, zu lehren, sie habe die Herrschaft über alle, Große und Kleine, ohne dass irgendjemand ausgenommen wäre“ (De opificio mundi 156a, 157–60).19 Für Philo war die Ursünde ganz wörtlich die Gefräßigkeit. Seine beredte Schlange verkörpert bei ihm die Laster der luxuria und gula und sie, nicht das Schwein, ist die Personifikation des Epikur, der sich über die fromme Frau mokiert und sie drängt, das paradiesische Büfett ganz abzuräumen – auch wenn sie die Fresssucht umbringt. Neben diesem lehrhaften Moralsinn finden wir bei Philo auch noch eine allgemeinere psychologische Allegorie der Schlange als Lustprinzip (Philo, legum allegoriae II, 71–85). Bei den mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophen sind solche entmythologisierenden Allegorien der Paradiesschlange gang und gäbe.

Der wichtigste mittelalterliche jüdische Literalist, R. Abraham ibn Esra, betont zwar, dass er die Paradieserzählung, mitsamt der sprechenden Schlange, buchstäblich verstanden wissen will (Kom. zu Gen 3,120), er unterlegt ihr aber dennoch einen tieferen Sinn (Sod) (Kom. zu Gen 3,24). Seine kryptischen Andeutungen in seinem gängigen kurzen Genesis-Kommentar verraten allerdings nur, dass er die Paradieserzählung als Entstehung des Menschen als solchen auffasst: „Der Verständige, sagt er ganz typisch, wird verstehen (HaMaskil Jawin), dass dies alle Menschen (betrifft).“21 In seinem langen Genesis-Kommentar führt er eine Allegorese der Erzählung vom neuplatonischen Philosophen und Synagogendichter Salomon ibn Gabirol (1020–1057/58) an, die seiner eigenen Auffassung entspricht: „Ich werde dir jetzt das Geheimnis (Sod) des Gartens, der Flüsse und der Gewänder offenbaren, und ich habe dieses Geheimnis bei keinem der Großen gefunden, außer bei R. Salomon ben Gabirol, denn er war sehr bewandert in der Erkenntnis der Seele (Chacham Gadol BeSod Ha-Nefesch): „Eden ist die höhere Welt (mundus intelligibilis), und der Garten ist die Fülle (der Geister), die wie Pflanzen sind, und der Fluss ist wie eine Mutter, das ist die Materie für alle Körper (materia prima); die vier Arme des Flusses sind die Wurzeln (vier Elemente); und Adam ist die Weisheit (Nefesch HaMedaberet, anima rationalis), der (den Tieren) Namen gibt; Eva ist, wie schon ihr Name sagt (Chawa, Chaja), der Lebensgeist, das ist das Prinzip der Bewegung (Nefesch HaBahamit oder Chijunit, anima animalis oder vitalis); und die Schlange ist die Begierde (Nefesch HaZomachat, anima vegetalis), wie schon ihr (hebräischer) Name ‚Nachasch‘ beweist, der von der gleichen Form ist wie im Vers: ‚Nachesch Jenachesch‘ („wahrsagen“, Gen 44,5 und 15); und der Baum der Erkenntnis ist die Fortpflanzung (Mischgal), die ihre Kraft aus dem Garten zieht – die Pflanzen sind aber im Staub; und die Weibsgeborenen sollen den sich erhebenden Kopf (der Schlange) zertreten, und das Ende des Lebendigen ist der Beginn des Pflanzlichen; die Lederkleider sind der Körper; er wurde aus dem Paradiesgarten vertrieben, um die Erde zu bearbeiten, aus der er stammt, denn das ist der ganze Mensch; der Baum des Lebens ist die Erkenntnis der höheren Welt, wie geschrieben steht (Spr 3,18): ‚Sie ist der Lebensbaum für alle, die sich an ihr halten‘ und die Cheruben sind die Engel und die flammende Klinge des Schwertes symbolisiert (Nimschal) die Sonne.“22 Nach dieser Aufschlüsselung ist die Paradieserzählung eine narrative Anthropologie. Der „ganze Mensch“ erweist sich als ein Mischwesen aus spirituellen und materiellen Anteilen. Seine Seele besteht genau genommen aus drei Teilen: einem rationalen Vermögen (= Adam), einem animalischen (= Eva) und einem vegetativen (= Schlange).23 Die anthropologische Botschaft der Bibel wäre demnach, dass der unbewusste vegetative Seelenteil (= Schlange) wegen des Geschlechtstriebes (= Baum der Erkenntnis) Macht über den animalischen Seelenteil (= Eva) bekommt, somit gegen die Ordnung der Natur eine Vermischung des rationalen Seelenteils (= Adam) mit dem Körper (= Staub, Lederkleider) verschuldet und den Menschen fortan zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verdammt hat. Die Rückkehr von der vita activa zur ursprünglich reinen vita contemplativa ist dem Hyliker verwehrt, weil ihn das reine Licht des Geistes blendet.

Eine ähnliche allegorische Erklärung bietet auch der größte mittelalterliche jüdische Religionsphilosoph, Moses Maimonides, der sich dabei ausgerechnet auf den oben angeführten dämonologischen Midrasch, Pirke de Rabbi Elieser stützt, den Raschi für seine so ganz anders geartete „tautegorische“ Erklärung herangezogen hatte. Obschon Maimonides einige Zweifel über dieses Midraschwerk hatte (Führer der Verirrten II,26), hielt er R. Elieser ben Hyrkanos, 1./2. Jh. für den Verfasser, und sein Glauben an die Weisheit der Weisen verbot ihm die Annahme, dass der Midrasch einfach fabuliere. Er war vielmehr fest davon überzeugt, dass er in der ihm eigenen narrativen Weise den begrifflichen Gehalt der biblischen Erzählung vorsichtig andeuten wollte und, da er selber nicht als „Verräter von Geheimnissen(Megale Sod) dastehen mochte, begnügte auch er sich wiederum nur mit rätselhaften Andeutungen von Andeutungen, die er dem kundigen Leser aufgibt (II, 30). Der Midrasch hatte erzählt, dass die vom Oberteufel Samael gerittene Kamelschlange Eva zur Sünde überredet hätte; der Herr der Welt aber, so hatte es im Midrasch weiter geheißen, „lachte über das Reittier und über seinen Reiter“. Maimonides deutet diese Chimäre ähnlich wie Sokrates den Mythos vom gefiederten Seelengespann in Platons Phaidros (246a 6f.). Sokrates ordnet in diesem Dialog den Wagenlenker und die beiden Flügelrosse dieses Gespanns respektive den drei Seelenteilen: dem „Überlegenden(logistikón), dem „Begehrenden(epithymetikón) und dem „Mutigen(thymoeides) zu.24 Der geile Hengst, „gebeugt, plump und schlecht gebaut, von dickem Nacken, kurzem Hals, stumpfer Nase, schwarzer Farbe, blauäugig mit Blut unterlaufen, ein Freund von Trotz und Anmaßung, um die Ohren zottig, taub, kaum der Peitsche und dem Stachel gehorsam“ (ebd. 254), droht dem Lenker dauernd durchzugehen. Es komme darauf an, so Platon, dass er das widerspenstige Pferd zähme: Er „zerrt den Zaum des trotzigen Rosses mit noch stärkerer Gewalt an dem Gebiss nach hinten, strengt ihn die schmähsüchtige Zunge und die Backen an bis aufs Blut und bereitet ihm Schmerzen, indem er ihm Schenkel und Hüften zur Erde niederzwingt. Wenn aber das schlimme Ross dieselbe Behandlung erfährt und von seiner trotzigen Wildheit lässt, so folgt es gedemütigt schon der vernünftigen Leitung des Wagenlenkers“ (254e). Dem unbewussten Seelenteil, den Platon im Unterleib ansiedelt, rechnet er an anderer Stelle übrigens auch die Vorstellungen der Wahr- oder, wie er auch sagt, der Wahnsager zu (Timaios 71d–72b, Phaidros 244). Nach Maimonides, so jedenfalls die übereinstimmende Meinung seiner Kommentatoren (Schem Tow ben Josef ibn Falaquera [1225–ca. 1295], More HaMore z. St., Profiat Duran Efodi [14.–15. Jh.] z. St.; Chasdai Crescas [1340–1410] z. St.), hätte nun Pseudo-Rabbi-Elieser die Sündenfallerzählung ganz ähnlich verstanden und dies durch die Wahl der mythischen Bilder und programmatischen Namen auch vorsichtig zu verstehen geben wollen. Samael sei Satan.25 Die tiefere Bedeutung dieser Figur erschließe sich ebenso wie die der Schlange aus der Etymologie ihrer Namen: „Sama“ komme von „blind sein“,26 „Satan“ von „anfeinden“ und „Nachasch(Schlange) von „wahrsagen“. Die vom Teufel gerittene Schlange, die sich für ein Kamel hält, symbolisiere also die blinde Widersetzlichkeit und den triebgesteuerten Wahn oder, gemäß der Allegorie Platons, das ungezügelte Begehrungsvermögen (= Satan) und das entfesselte Vorstellungsvermögen (= Schlange). Gewiss, in den Augen Gottes (= reine Vernunft) ist ein solches Schauspiel lächerlich, für Adam (= menschliche Vernunft) und mehr noch für Eva (= Sinnlichkeit) ist es jedoch verhängnisvoll. Dass der Sündenfallmythos nur die Kämpfe der Seelen in unserer Brust meinen kann, liest Maimonides weiterhin aus der biblischen Geschichte selbst ab. Die verselbständigten Begehrungs- und Vorstellungsvermögen (= Satan und Schlange) richten sich bezeichnenderweise nicht an Adam (= Vernunft), dem sie an und für sich nichts anhaben können, sondern an Eva (= Sinnlichkeit), die Adam zum Verhängnis wird. Diese Deutung bestätigt die Bibel ferner, wenn sie die Feindschaft nur zwischen der Schlange und ihrer Nachkommenschaft und dem Weib und ihrer Nachkommenschaft setzt und dabei nicht auch, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre, Adam nennt (Gen 3,15). Quod erat demonstrandum! Im Grunde deutet Maimonides die Mythen aus Bibel und Midrasch wie platonische Kunstmythen. Für ihn erklärt sich der Schlangenmythos genau so wie die Allegorie des Flügelrossmythos, nämlich als genaue Übersetzung des ewigen Kampfes zwischen Vernunft und Sinnlichkeit.27

Aber Maimonides beschränkt sich nicht nur auf eine philosophische Entmythologisierung der biblischen und midraschischen Fallerzählungen, sondern betreibt geradezu ihre Entmythisierung. Er erklärt den infralapsarischen Zustand des Menschen ganz ohne Hilfe des Teufels und seiner paradiesischen Agentin: die Schlange. Wir führen seine Erklärungen, die prominent in den ersten beiden Kapiteln seines philosophischen Hauptwerkes Führer der Verirrten stehen, gleichwohl sub titulo „Schlange“ an, weil auch ihr Verschwinden zu ihrer Geschichte dazugehört. Maimonides knüpft an ein Textproblem an, auf das wir bereits oben im 1. Abschnitt hingewiesen haben, nämlich den Widerspruch zwischen der Gottgleichheit des Menschen nach dem ersten Kapitel der Genesis und der Bestrafung des Wunsches nach Gottgleichheit im dritten Kapitel der Genesis – ein Widerspruch, der heute mit der Quellenscheidung erledigt zu werden pflegt. Im ersten Kapitel seines Werkes fragt Maimonides zunächst, was die Ausdrücke „nach unserem Bilde(BeZalmenu) und „nach unserem Gleichnis(KiDmutenu) im Vers über die Erschaffung des Menschen: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde (BeZalmenu), nach unserem Gleichnis“ (Gen 1,26) bedeuten. Auf den ersten Blick widersprechen sie ja der Unvergleichlichkeit Gottes, die die Propheten und die Psalmisten unablässig predigen: „Wem, fragt Jesaja im Namen Gottes, wem wollt ihr mich vergleichen (LeMi Tedamjuni) und angleichen und gleichen, dass wir uns glichen (Nidmeh)?“ (Jes 46,5; 40,5.18; Jerm 10,6), „wer, fragt der Psalmist, gleicht dem Ewigen?“ (Mi Jidmeh … L’Haschem, Ps. 89,7). Es war gerade Maimonides, der diese biblischen Aussagen von Gottes Unvergleichlichkeit zu einer streng negativen Theologie umformuliert hat, wonach nur „die verneinenden Aussagen von Gott wahre Aussagen“ seien (Führer I, 56 u. 58). Wie soll man aber dann jene Gottebenbildlichkeit verstehen? Sie besagt doch, dass der Mensch zumindest in irgendeiner Hinsicht Gott gleiche! Und folgt aus diesem theomorphen Menschenbild im Rückschluss nicht ein anthropomorphes Gottesbild? Ja, ist darin nicht schon jene religionskritische Umkehrung des Verhältnisses angelegt, wie sie Ludwig Feuerbach formuliert hat? „Erst, sagt er, schafft der Mensch (…) den Gott nach seinem Bilde, und dann erst schafft wieder dieser Gott (…) den Menschen nach seinem Bilde“ (Das Wesen des Christentums I,12). Um solche fatalen Konsequenzen zu vermeiden, haben manche jüdische Ausleger den Ausdruck „nach unserem Bilde“ so verstanden, dass hier gar nicht vom Bild Gottes, sondern vom Bild des Menschen bei Gott die Rede sei, so dass der Satz: „Wir wollen Menschen machen nach unserem Bilde …“ durch den unausgesprochenen Zusatz: „… nach unserem Bilde vom Menschen“ ergänzt werden muss (z. B. R. Eleasar von Worms). Von diesem Menschenbild Gottes kann dann in keiner Hinsicht mehr auf Gott selbst zurückgeschlossen werden. Wenn aber der Mensch nichts mit Gott zu tun hätte, wie kann dann Gott etwas mit dem Menschen zu tun haben? Wenn Gott mit ihm spricht, dann muss es zwischen ihnen auch eine Entsprechung geben – und eine solche Entsprechung will gerade der fragliche Vers feststellen. Maimonides schließt zunächst aus, dass die Gottebenbildlichkeit sprachlich im Sinne einer sichtbaren Spiegelbildlichkeit verstanden werden muss. Er belehrt uns, dass auf Hebräisch die Wörter „Zelem“, „Bild“ und „Demut“, „Gleichnis“ nicht notwendig eine äußere Gestalt, sondern auch innere Eigenschaften meinen können. Er stellt ferner fest, dass sie im Kontext der Erschaffung aller Lebewesen die artspezifische Eigenschaft des Menschen meinen müssen, nämlich sein rationales Erkenntnisvermögen, und schließt, dass es trotz des himmelweiten Unterschiedes zwischen der endlichen Vernunft des Menschen und der unendlichen Vernunft Gottes jene Entsprechung zwischen Gott und Mensch begründe (Führer I,1). Aber dann wird das aufgeworfene Problem noch dringender. Gesetzt, der homo sapiens gleiche vermöge seiner Vernunft Gott: Weshalb verbietet dieser ihm dann ausgerechnet den Baum der Erkenntnis? Gibt das nicht jenen Dunkelmännern Recht, die in ihm den Baum der verbotenen Wissenschaften sahen und die Philosophie als Ursünde der Menschheit betrachteten? Maimonides zitiert dieses wohl viel erörterte Problem am Anfang des zweiten Kapitels seines Werkes: „Aus dem einfachen Wortlaut der Schrift scheint hervorzugehen, dass die ursprüngliche Absicht des Schöpfers hinsichtlich des Menschen die gewesen sei, dass er wie alle anderen Lebewesen sei, ohne Vernunft und Denkvermögen, und nicht zwischen Gutem und Bösem unterscheide. Als er aber ungehorsam war, brachte ihm dieser Ungehorsam diese große, dem Menschen ausschließlich zukommende Vollkommenheit als Lohn, nämlich, dass ihm die in uns vorhandene Erkenntnis zuteil wurde, welche das vornehmste der in uns existierenden Dinge ist und die unser Wesen ausmacht. Es wundert mich nun, dass die Strafe für seinen Ungehorsam darin bestand, dass ihm eine Vollkommenheit verliehen wurde, die er früher nicht besaß, nämlich die Vernunft. Dies ist aber nicht anders, als wenn jemand sagte, dass irgendein Mensch, weil er gesündigt und besonders schwere Frevel begangen hat, in ein besseres Geschöpf verwandelt, nämlich als Stern in den Himmel versetzt wurde“ (Führer I,2). Für Maimonides gibt es nur eine mögliche Lösung dieses Problems: Es kann sich in den beiden ersten Kapiteln der Genesis nicht um die gleiche Art von Erkenntnis handeln. Die Erkenntnis, derentwegen der Mensch nach dem ersten Kapitel der Genesis Gott gleich genannt wird, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, die Erkenntnis aber, die ihm nach dem dritten Kapitel untersagt und derentwegen er aus dem Paradies vertrieben wird, ist hingegen die Erkenntnis des Guten und Schlechten. Die erste dieser Erkenntnisarten ist objektiv und begreift die Sachen interesselos, wie sie an sich sind, die zweite ist hingegen subjektiv und beurteilt die Sachen parteiisch danach, ob sie nutzen oder schaden, ob sie gefallen oder missfallen. Diese zweite Art der Erkenntnis ist fraglos minderwertig, weil sie eher unsere Vorurteile bestätigt und weniger etwas über die Sachen selber aussagt. Der Sündenfall des homo sapiens besteht nach Maimonides also darin, dass er seine objektive Erkenntnis bedenkenlos darangibt und sich von seinen subjektiven Eindrücken verleiten lässt, wie es in der Bibel heißt: „Als die Frau sah, dass der Baum gut sei zum Essen, eine Lust für die Augen und lieblich zu betrachten, da nahm sie von seiner Frucht und aß und gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und er “ (Gen 3,6). Damit steigt der homo sapiens vom Paradies der wertfreien Begriffe (Muskalot) in die platonische Höhle der allgemeinen Vorurteile (Mefursamot) hinab. Es ist ja, wie Maimonides bemerkt, bezeichnend, was nach der Schrift die unmittelbare Folge des Genusses vom „Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ war: „Da gingen (den Menschen) die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren“ (Gen 3,7). Die Menschen waren ja auch schon vorher nackt gewesen, das war ihnen aber nicht weiter aufgefallen. Nun aber sahen sie sich buchstäblich mit anderen Augen bzw. mit den Augen der anderen, und prompt fingen sie an – sich zu verkleiden, zu verbergen, zu verstellen, zu verleugnen (Gen 3,7–13). Gott wollte dem Menschen dieses unglückliche Leben unter dem Diktat der öffentlichen Meinung ersparen, er hat ihnen ein beschauliches Leben jenseits von Gut und Böse ermöglicht. Doch der Mensch ließ sich vom Augenschein blenden. Gewiss, jetzt waren die Menschen wie Götter – das Maß aller Dinge geworden. Aber diese Gottebenbildlichkeit war nur noch ein Zerrbild jener anfänglichen Gottebenbildlichkeit, die sie befähigte, die Dinge objektiv zu sehen. In diesem Sündenfall vom Wissen (epistéme) in die Meinung (dóxa), von der eigentlichen philosophischen in die uneigentliche gesellschaftliche Existenz, spielt die Schlange überhaupt keine Rolle mehr. Die jüdische Mystik nun hat die radikale Entmythologisierung und Entmythisierung von Bibel und Midrasch bei Maimonides und seinen Anhängern scharf abgelehnt und eine umfassende Remythisierung des Bösen eingeleitet.

Dabei knüpfen die Kabbalisten wie Raschi und Maimonides auch an die Nacherzählung von Genesis 3 in den Pirke DeRabbi Elieser an. So zitiert das bereits erwähnte Buch Bahir im Anschluss an seine angeführte Auslegung des Schöpfungsberichts wortwörtlich die beiden einschlägigen Kapitel des Midraschs (Ed. Scholem § 141, Ed. Maraglioth § 200).28 Aber im Unterschied zur Tautegorese Raschis und zur Allegorese des Maimonides geht es den Kabbalisten weniger um das moralische Drama des Menschen als um seine kosmische und innergöttliche Entsprechung. Wir erinnern daran, dass die von Sammael verführte Schlange nach dem Buch Bahir ihrerseits Eva verführte, weil „sie (sich) sagte: da ihre Seele von der Seite des Nordens stammt, werde ich sie bald verführen“ können (Ed. Scholem § 140). Das Böse bildet also eine besondere Seinsregion. Die mit den bösen Kräften: Schlange, Sammael, Satan seelenverwandte, gleichsam genordete Eva neigt also von Natur aus dem Pol der Sünde zu. Das Böse ist nach dem Buch Bahir allerdings kein dualistischer Antipode zu Gott, sondern ein Gegenpol in Gott selbst: „Und was ist diese (Eigenschaft)? Der Satan. Das lehrt, dass es bei Gott eine Eigenschaft (Midah) gibt, die ‚böse‘ heißt, und es liegt im Norden Gottes, denn es heißt (Jer 1,14): ‚Von Norden her öffnet sich das‘, das heißt: alles Böse, das über alle Bewohner der Erde kommt, kommt von Norden. Und welches Prinzip ist dies? Es ist die Form der Hand, und sie hat viele Boten, und alle heißen ‚böse‘, ‚böse‘ jedoch gibt es größere und kleinere darunter. Und sie sind es, die die Welt in Schuld stürzen, denn das ‚Tohu‘ (vgl. ebd. § 9) ist von Norden, und ‚Tohu‘ bedeutet eben das Böse, das die Menschen verwirrt, bis sie sündigen, und der ganze böse Trieb des Menschen stammt von dort. Und warum ist er an die linke Seite gestellt? Weil nirgends in der Welt sein Gebiet ist außer im Norden (…). Darum ist er stets zur Linken und das bedeutet der Vers (Gen 8, 21): ‚Denn der Trieb des Menschenherzen ist böse von Jugend an‘ (Jezer Lew HaAdam Ra MiNeuraw)“ (Ed. Scholem § 109). Das Buch Bahir verwandelt also das moralische Übel in ein unvermeidliches metaphysisches Übel. Ein Kabbalist wie Isaak ben Jakob HaCohen aus Soria (zweite Hälfte des 13. Jh.s), der das Buch Bahir für „kostbarer als Gold“ hielt,29 hat an dessen Substanzialisierung des Bösen anknüpfend in seinem Traktat über die linke Emanation (Amud HaSmali) dann eine regelrechte höllische Hierarchie mit dem Oberteufelspaar, Sammael und Lilith an der Spitze entworfen. Diese kabbalistische Remythologisierung des Bösen kommt etwa im exoterischen Bibel-Kommentar des Rabbi Moses Nachmanides aus Gerona (1194–1270) ans Tageslicht, etwa wenn er bei der Erklärung zum biblischen Versöhnungsritus (Lev 16,8) im Anschluss an den Pirke DeRabbi Elieser (Kap. 46) Sammael als den Adressaten des Sündenbocks identifiziert und als blutigen „Fürsten dieser Welt“ beschreibt. Aber bemerkenswert bleibt dabei, dass die Kabbalisten bei aller dualistischen Tendenz die eigentliche moralische Problematik der biblischen Erzählung niemals ganz aus den Augen verlieren. Sehr bezeichnend ist hierfür eine Schrift des gleichfalls aus Gerona stammenden Kabbalisten R. Esra ben Salomo (erste Hälfte des 13. Jh.s), Geheimnis des Baumes der Erkenntnis (Sod Ez HaDaat), die Gershom Scholem fast vollständig übersetzt hat. R. Esra versetzt die biblische Erzählung vom irdischen ins himmlische Paradies bzw. vom mundus sensibilis in den mundus intelligibilis; die eigentliche Strafe des Menschen ist für ihn, ähnlich wie für die platonischen und neuplatonischen Philosophen, die Inkarnation der menschlichen Seele. Mitten im himmlischen Paradies standen die beiden Bäume des Lebens (Ez HaChajim) und der Erkenntnis des Guten und Bösen (Gen 2,9), die zwar eine Einheit bildeten, aber ursprünglich von zwei verschiedenen Wurzeln herstammten. Der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wurzelte im Norden, also nach der Topographie des Buches Bahir, die R. Esra zitiert, auf der Seite des Bösen, und der Baum des Lebens im Osten, auf der Seite des aufgehenden Lichts, auf der Seite des Guten. Die eigentliche Sünde Adams bestand nach R. Esra darin, dass er durch das Abtrennen der Frucht die beiden Stämme der Erkenntnis und des Lebens auseinander gerissen, oder mit einem talmudischen Ausdruck für Apostasie, dass er die „Pflanzungen abgehauen(Kizez Bantijot, bChag 14b) habe: „Es verhält sich nämlich so: Solange der Baum des Lebens, der von der Seite des Ostens herstammt und der gute Trieb und die Eigenschaft des Friedens ist, mit dem Baum der Erkenntnis, der von der Seite des Nordens, von der Seite des Satans und des Bösen herstammt, verbunden ist, kann der Satan nichts ausrichten, denn der Baum des Lebens, welcher die Eigenschaft der Harmonie ist, hat Übermacht über ihn. Sobald er aber von ihm getrennt ist, bleibt ihm seine Kraft, und er vermag zu wirken. (…) Und das ist der Sachverhalt, der als ‚Abhauung der Pflanzungen‘ bekannt ist, denn wäre er noch in Verbindung gewesen, so hätte er nichts ausrichten können. Wenn aber Adam nicht zuerst die Frucht abgetrennt hätte, hätte Satan nicht die Macht gehabt, sich vom Baum des Lebens zu trennen.“30 Abgesehen von der erstaunlichen Identifikation des Baums der Erkenntnis des Guten und Bösen mit dem Bösen (die aber schon in der oben angeführten Exegese des Maimonides impliziert ist) sagt der Text jedoch in aller Deutlichkeit, dass dieses Böse nur Macht gewinnen konnte, weil der Mensch sie ihm gab. Anders als im Buch Bahir und in den Pirke de Rabbi Elieser wird kein Verblendungs- und Verführungszusammenhang (Nordseite Gottes – Satan – Sammael – Schlange – Eva) konstruiert, ja Eva wird ausdrücklich verschont und die Schlange gar nicht erst erwähnt, vielmehr erwählt der himmlische Adam sein Schicksal selbst und besiegelt damit das Schicksal der Welt. Ganz anders scheinen die Dinge zunächst im Sohar, dem heiligen Buch der Kabbala zu liegen. Er schildert in ausufernder mythologischer Bildlichkeit die dem Sündenfall vorangehenden und begleitenden höheren und inneren Vorgänge. Die Schlange ist hier ein Feuer speiender Drachen, ja ein Schrecken erregendes Schlachtschiff des Reichs des Bösen, und wenn sie das Reich des Guten angreift, verfinstert sich alles und erstarrt. Zunächst scheint die böse Schlange allmächtig und das Gute auf verlorenem Posten zu sein, doch dann taucht eine gute Schlange auf. Hören wir den Sohar selber, in einer Übersetzung von Peter Schäfer: „Ein Ungeheuer unten, auf der linken Seite (Star Smala), schwimmt in all diesen Flüssen. Es kommt mit seinen mächtigen Flossen, eine jede so stark wie Eisen, und erreicht (das Meer der rechten Seite), um Wasser zu trinken und die (rechte) Seite (dadurch) zu verunreinigen. Alle Lichter werden vor ihm verdunkelt. Sein Mund und seine Zunge sind loderndes Feuer; seine Zunge ist so scharf wie ein mächtiges Schwert, bis es dahin gelangt, in das Heiligtum innerhalb des Meeres einzudringen. Dann verunreinigt es das Heiligtum, die Lichter sind verdunkelt, und die oberen Lichter verschwinden aus dem Meer. Dann teilen sich die Wasser des Meeres auf der linken Seite, und das Meer friert ein und seine Wasser fließen nicht. Und über das Mysterium dieser Sache steht geschrieben: Die Schlange war listiger als alles Getier des Feldes, das Gott, der Herr gemacht hatte (Gen 3,1) – (das ist) das Geheimnis der bösen Schlange, die von oben nach unten kommt, die durch die bitteren Wasser (Majin Meriran) schwimmt und hinabkommt, um unten (die Menschen) zu verführen, bis sie in ihr Netz fallen. Diese Schlange ist ewiger Tod und sie begibt sich in die innersten Eingeweide des Menschen (BeMejoi), und sie ist auf der linken Seite. Und es gibt eine andere Schlange des Lebens auf der rechten Seite. Beide (Schlangen) begleiten den Menschen, wie sie erklärt haben (…). Wehe dem Menschen, der zu ihr hingezogen wird, denn sie bringt den Tod über ihn und über alle, die ihm folgen“ (Sohar I, 52a).31 Trotz der apokalyptischen Farbgebung handelt es sich bei den Schlangen, nach diesem Text aus dem Sohar ausdrücklich, um die inneren Triebe des Menschen. Auch wenn das Böse im Vergleich zu den biblischen und midraschischen Erzählungen hier Schrecken erregende Züge annimmt, bleibt die Seele des Menschen, selbst in ihren laokoonhaften Verstrickungen, der Schauplatz des Kampfes von Gut und Böse. Mitten in der Remythologisierung erhält sich so die Entmythologisierung.

Der gleichermaßen in den rabbinischen, religionsphilosophischen und kabbalistischen Traditionen des Judentums wie in den neukantianischen und existenzialistischen Strömungen der Philosophie bewanderte modernorthodoxe Denker R. Josef Bär Soloweitschik (1903–1993), mit dem wir unseren kleinen Überblick beschließen, hat die grundlegende Wahl, vor der der Mensch steht, aus den beiden biblischen Schöpfungserzählungen herausgelesen. In seinem zweiten Hauptwerk Der einsame Mensch des Glaubens (1965) charakterisiert er den Menschentypus des ersten Schöpfungsberichts als Adam I. Er wurde als Gottes Ebenbild sogleich als geselliges Wesen aus dem Nichts erschaffen und war mit seiner Frau dazu berufen, die Erde zu beherrschen. Adam I ist der Typus des homo sapiens, der die Welt im Denken entwirft, und zugleich des homo faber, der sie sich im Handeln unterwirft – er entspricht dem gründerzeitlichen Menschenbild Hermann Cohens, über den Soloweitschik in Berlin promoviert hat. Der zweite Schöpfungsbericht schildere dagegen Adam II. Er wurde aus Erde gebildet und von Gott beatmet. Er lebte zunächst einsam in einem göttlichen Reservat, das er lediglich behüten sollte. Die anderen Wesen sind ihm fremd, und eine Partnerin muss der göttliche Heiratsvermittler für ihn erst finden. Die Geselligkeit von Adam I sei pragmatisch auf Eroberung, die des zweiten existenziell auf Begegnung ausgerichtet. Adam II ist der Typus des weltfremden homo religiosus – er erinnert an den einsamen Mensch des Glaubens Kierkegaards. Die Pointe Soloweitschiks ist nun, dass die beiden gegensätzlichen Typen, Adam I und II: der weltbezogene und -verfallene Stifter der Kultur und der weltfremde und gottbezogene Mensch des Glaubens, zwei Aspekte des einen Menschen sein sollen. Die Sünde besteht nach Soloweitschik darin, dass Adam II auf Adam I, dass die Transzendenz auf die Immanenz verkürzt und damit die menschlichen Werke der göttlichen Legitimation beraubt werden. Das verwandelt den von Gott gewollten herrlichen Kulturmenschen in einen überheblichen „Übermenschen“. Der ideale Mensch, der beide Seiten Adams vereinigt, ist nach Soloweitschik der „halachische Mensch(Isch Halacha). Die Halacha ist gott- und weltbezogen zugleich, sie bindet Adam I einerseits in den Bund mit Gott ein und zwingt Adam II in den Bund mit Menschen. Der halachische Mensch ist gleichsam Resultante der horizontalen und vertikalen Dimension des Menschen. Diesen „halachischen Menschen“ beschreibt Soloweitschik in seinem Hauptwerk Der halachische Mensch (1944). Er sei einerseits eine Art neukantianischer Wissenschaftler, der wie der Mathematiker und theoretische Physiker a priori eine ideale Theorie der Realität entwirft und sich dabei nicht um die Realisierung der theoretischen Norm kümmert; auf der anderen Seite habe der halachische Mensch aber nicht nur ein theoretisches Erkenntnisinteresse, er habe auch das praktische Interesse, die ideale Norm in der Realität um- und durchzusetzen. Daher ist der halachische Mensch nicht nur Kreatur, sondern Kreator, ein „Partner des Schöpfers(Schutaf LeBoro). Soloweitschik erkennt die Parallelen seiner Beschreibung des halachischen Menschen zur Lehre des Menschen und Übermenschen bei Nietzsche und seinen Nachfolgern. Er beschuldigt diese modernen Denker jedoch, das biblische Ideal des Menschen als Kreator oder Kokreator pervertiert zu haben. An die Stelle der durch die Halacha erleuchteten Macht zum Willen haben sie den blinden, zerstörerischen Willen zur Macht gesetzt, der sich – man schreibt das Jahr 1944 – austobe. Diese Gestalt des Bösen scheint aber schon die gleiche zu sein, die auch die biblische Urgeschichte vor Augen hatte, nämlich den Übermenschen!

Das Böse in den Weltreligionen

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