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a) Das Scheitern des Jesus von Nazaret
ОглавлениеUm der spezifisch christlichen Interpretation des Bösen auf die Spur zu kommen, wird bei den neutestamtlichen Schriften einzusetzen sein, wohl wissend, dass diese von der hebräischen Bibel her zu entschlüsseln und zugleich als Niederschlag der Erfahrungen zu lesen sind, die eine kleine verschworene Gruppe von Männern und Frauen mit ihrem „Meister“ Jesus gemacht hat. Er kam aus Nazaret, offensichtlich verkündete Jesus von Nazaret in der Tradition jüdischer Prophetie die Botschaft von Gottes vorbehaltloser und gegenwärtiger Liebe, nahm sich ohne Vorbehalte der sozialen und religiösen Randgruppen an (Fiedler) und wurde schließlich als öffentlicher Unruhestifter hingerichtet. „Leben, Botschaft und Geschick“ lautet die klassische zusammenfassende Formel der christlichen Theologie.1 Einzelaussagen sind immer in diesem Gesamtzusammenhang zu sehen.
Leben steht hier für eine Lebensführung in Gemeinschaft, die dem Bösen prinzipiell entgegentritt, ohne sich in Gegenreaktion ins Böse verstricken zu lassen. Dies wird symbolisiert in der Rede von Jesus, der mit Zöllnern und Sündern Gemeinschaft hält.2 Die Botschaft Jesu wird u. a. in der „Bergrede“ oder „Bergpredigt“ zusammengefasst (Mt 5,1–7,29). Dieser Text bietet im Blick auf das Böse ein reiches und komplexes Interpretationsfeld, denn äußerste moralische Ansprüche und äußerste Vergebungsbereitschaft kreuzen sich. Das Geschick Jesu erinnert an die große Katastrophe, in der Jesu Leben unter den Folterqualen am Kreuz und in einem Justizskandal endete.
Nun gilt der Tod Jesu am Kreuz als historisch unbestritten. Ferner gelten heute einige Konturen und Erinnerungsfragmente als allgemein anerkannt. Jesu Leben ist von einer kompromisslosen Abkehr vom Bösen gekennzeichnet, nicht auf Grund einer heroisch-asketischen Lebensweise, sondern indem er sich Mitmenschen zuwendet. Das Wenige, das wir von ihm wissen, deutet eher auf den großen Charismatiker oder verheißenden Propheten hin als auf den Droher: „Seligpreisung“ statt Angst (Mt 5,3– 12), Mahlhalten statt Askese („… dieser Fresser und Säufer“, Mt 11,19), endlose Vergebung statt Bedingungen der Buße (Mt 6,15; 18,22), Gewaltfreiheit statt Widerstand (Mt 5,21–25); der Beginn des Reichs hängt gerade nicht von der Bestrafung der Bösen ab. Allerdings gelten die ethischen Regeln des jüdischen Erbes radikal, weil sie jetzt von einem engen Vertrauensverhältnis zu Jahwe getragen sind (Merklein 1983, 1984).
Für die spätere christliche Lebenspraxis (die „Nachfolge“ Jesu) sollte die Bergpredigt eine zentrale Rolle spielen, auch wenn sie oft missverstanden wurde (Küng 1974, 135–138). Schließlich sollte sich das christliche Ethos, sofern es zu Selbstkritik und Erneuerung fähig war, immer wieder am Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe orientieren; diese doppelte Liebe ist als Maß alles Guten zu begreifen (Mt 22,34–40). Zum Maß alles Bösen wird deshalb neben dem Unglauben gegenüber Gott die Verletzung der Nächstenliebe; es erhält damit ein anthropologisches Kriterium. Die Gleichnisse zeigen zudem, dass für Jesus nicht die Verachtung des Bösen an sich, sondern das Finden der Verlorenen, das Gelingen von Gemeinschaft eine zentrale Rolle einnahm.
Was also sollten Christen für den Umgang mit dem Bösen von Jesus lernen? Sie wurden auf jüdische Spuren geführt mit dem entscheidenden Zusatz, dass sich die ganze Tora im Gelingen von Gemeinschaft und Gerechtigkeit erfüllt; das größte Gebot ist die Liebe, und an ihrer Erfüllung „hängt die ganze Tora samt den Propheten“ (Mt 22,40). Aus diesem Grund spielt die Vergebung, die die zerbrochene Gemeinschaft wieder herstellt, eine zentrale Rolle. Auch sie erklärt sich aus einem Überschuss an Güte, für die sich das Böse sozusagen von selbst auflöst.
So gesehen gehört es zum tragischen Scheitern Jesu, dass die staatlichen Behörden diesem Lebensprojekt in der Sorge um buchstäbliche Wahrheit und öffentliche Ordnung ein vorzeitiges und – nach jüdischen Maßstäben – gottloses Ende setzten (Gal 3,13). Noch tragischer ist jedoch, dass diese Grundüberzeugung selbst zur Quelle häufigen Hasses wurde, der die Juden schließlich als „treulos“ und als Gottesmörder brandmarkte. Dieser für eine zeitgenössische christliche Selbsteinschätzung unerträgliche Widerspruch ist gruppenpsychologisch zwar verständlich, wurde aber nie ausgeräumt.