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d) Von der Würde des Menschen
ОглавлениеWer ein Auge für die inneren und äußeren Abgründe der Menschen hat, versteht zumindest, warum sich diese Theorie bis in die Gegenwart hinein gehalten hat. Dieses Sündenverständnis hat das Christentum immer wieder zu differenzierter Introspektion, zur Suche nach den verborgenen Trieben, zur täglich vollzogenen „Unterscheidung der Geister“ geführt. Eine psychologische Entschlüsselung des von Augustinus Signalisierten legt sich heute nahe.
Allerdings huldigte das Christentum keiner psychologischen, sondern einer theologischen Theorie; es ging ihr nicht um die Innenschau subjektiver Erfahrung, sondern um ein zerbrochenes Verhältnis zu Gott. So wehrt sich eine bleibende Kritik an der Erbsündenlehre dagegen, dass die innere Bosheitserfahrung seit Augustinus nicht als paradoxe Innenerfahrung formuliert, sondern zu einer Theorie entwickelt wird, die man später immer perfekter rationalisierte (Condreau). Zu Unrecht wurde die kollektive Unheilserfahrung zu einer göttlichen Verdammung objektiviert.
Nicht ohne Grund wurde die Erbsünde an der Schwelle zur Neuzeit zum Stein des Anstoßes; an diesem Punkt trennte sich die Philosophie von ihrer natürlichen Schwester, der Theologie. Die Erfahrung der Bosheit wurde zu einer Art ständiger Selbstverdammung verdinglicht, die Kirche zum einzigen Schoß des Heils überhöht. Leider kann die Geschichte der neuzeitlichen Religionskritik auch als ein Kampf um die unveräußerliche Würde des Menschen gelesen werden. Dass man damit die reale Schuld- und Unheilserfahrung oft verdrängte, ist der hohe Preis, den man für diesen Kampf in einem Prozess der Gegen-Verdrängung bezahlte.
Mit unserer Darstellung stehen wir noch mitten in der Antike. Aber dieser Wandel zeigt exemplarisch, was mit der Erfahrung der Bosheit geschieht, wenn sich eine Heilsinstitution ihrer bemächtigt. Die Verhältnisse werden objektiviert und stabilisiert. Menschen werden zu Sündern ein für alle Mal, und die Kirche bietet in ihren Riten und in ihren Institutionen Rettungsmittel an.
Jetzt endlich ist Zeit, darauf hinzuweisen, dass sich diese Darstellung vorrangig auf das westliche Christentum konzentriert. Die Stichworte der verantwortlichen Freiheit und des durch Adams Fehltritt bedingten Unheils („Erbsünde“) haben im Westen mehr Bedeutung als in der östlichen Reichshälfte erhalten. Dort bleibt das Böse vorrangig in einen kosmologischen und in den heilstheologischen Zusammenhang von Tod und Auferstehung eingebettet; in der Liturgie wird der Vorschein der himmlischen Herrlichkeit gefeiert. Umso erstaunlicher ist es, dass in dieser Frage zwischen Ost und West keine Spaltungen entstanden sind.