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Die christliche Gesellschaft
ОглавлениеIm Blick auf das 12. Jahrhundert erscheint es nur unter Vorbehalt als angemessen, nach der „Verchristlichung der Gesellschaft“ zu fragen. Eine solche Formulierung wird dem Selbstverständnis der hochmittelalterlichen Gesellschaft in weiten Teilen Europas nicht gerecht, die sich fraglos als christlich verstand. Denn die Klerikalisierung der Kirche, die schärfere Trennung zwischen der klerikalen Hierarchie und den Laien, die zumindest von den Theoretikern der Reformen unabhängig von ihrem sozialen Status auf eine niedrigere Position der religiösen Werteskala gesetzt wurden, betraf nur eine Seite der ambivalenten Entwicklungen seit dem 11. Jahrhundert. Auf die andere Seite gehören die Einbeziehung der Laien in den Kampf um die Durchsetzung der Kirchenreformen und in Verbindung damit die wachsende Anteilnahme, die Laien auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Ordnung den grundsätzlichen Fragen und Themen von Kirche und religiösem Leben entgegenbrachten. Die wachsende Empfänglichkeit von Laien für die Ideen des religiösen Gemeinschaftslebens kam gerade den neuen Orden zugute, die von der Arbeit und den Kenntnissen der Konversen profitierten (s.o. S. 45). Ein Grundphänomen der intensivierten Laienreligiosität waren die Kreuzzüge; in engem, wechselseitigem Zusammenhang damit stand die Ausbildung des Rittertums als einer Verbindung sozialer, kriegstechnischer und religiöser Entwicklungen.
Seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts hatte eine neue, auf der geschlossenen Formation der Reiter beruhende Kampftechnik dazu geführt, dass sich zunächst in Westeuropa eine Gruppe hoch spezialisierter professioneller Krieger herausbildete, die mit der Kampfweise auch gemeinsame Wertvorstellungen teilten. Schon der Gregorianer Bonizo von Sutri (gest. 1091) hatte Grundzüge eines christlichen Ritterideals formuliert; die Kreuzzugsbewegung intensivierte noch einmal den kirchlichen Einfluss auf die Ausbildung eines komplexen Normensystems, das sich aus traditionellem Adelsethos, den Wertvorstellungen professionalisierter Kriegergruppen und moralischen Forderungen des Christentums speiste. Das im 12. Jahrhundert auch auf Deutschland übergreifende Rittertum bildete allerdings keine homogene soziale Schicht, vielmehr konnten einzelne ritterliche Normen und Verhaltensweisen von Gruppen ganz verschiedener sozialer Stellung übernommen werden. Das Ritual der Schwertleite, der Eintritt in den Ritterstand und das festliche Turnier konnten etwa beim glanzvollen Mainzer Hoffest des Jahres 1184 die staufischen Königssöhne und einfache Ritter aus dem Gefolge eines Fürsten vereinen. Trotzdem blieb ein großer Unterschied zwischen dem Leben am Hof der Könige und Fürsten und der alltäglichen Lebensweise der großen Mehrheit der Ritter.
Die Verchristlichung des ritterlichen Waffendienstes, die Kreuzzugsbewegung, monastische Reformgedanken, die Armutsbewegung und die religiösen Impulse der Laien wirkten zusammen in dem neuen Phänomen der Ritterorden. Am Anfang standen zumeist Laienbruderschaften, die sich zum Schutz von Pilgern oder zur Pflege von Kranken gebildet hatten. Bei der Formierung zum Ritterorden kamen der Gedanke des Heidenkampfes und die Organisationsformen der neuen Mönchs- oder Kanonikergemeinschaften hinzu. Den Anfang machte eine Gruppe von französischen Rittern um Hugo von Payens, einen Adeligen aus der Champagne, die sich im Jahr 1120 in Jerusalem zusammenschlossen und nach ihrem Sitz auf dem Tempelberg als Templer bezeichnet wurden. Die neuartige Verbindung der militärischen Aufgaben mit einem monastischen Gelübde und das Bemühen um eine entsprechend angepasste eigene Regel wurden von Bernhard von Clairvaux wohl aufgrund persönlicher Verbindungen unterstützt. Seine Schrift De laude novae militiae erbrachte zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Ausbildung des christlichen Ritterideals. Seit der ersten Akzeptanz durch das Konzil von Troyes (1129) wurden die Lebensformen der Templer zur eigenen Regel ausgearbeitet; in einem jahrzehntelangen Prozess wandelte sich auch die ältere Spitalgemeinschaft der Johanniter zum Ritterorden. Bei der Belagerung von Akkon entstand 1189/90 eine Bruderschaft niederdeutscher Kreuzfahrer, die schon wenige Jahre später von Innozenz III. als Ritterorden anerkannt wurde: der Deutsche Orden. Kleinere, nur regional wirksame Ritterorden bildeten sich auch außerhalb des Heiligen Landes, vor allem auf der Iberischen Halbinsel und an der Ostsee.
Die Entwicklung des Rittertums bedeutete zwar eine Verchristlichung des Laien- und Kriegerethos. Zugleich bildete sich in der ritterlich-höfischen Welt des hohen Mittelalters aber auch eine in mancher Hinsicht eigenständige Laienkultur aus, die der kirchlichen Einflussnahme Grenzen setzte. Fürsten und einfache Reiterkämpfer ließen sich vom Turnierwesen begeistern, das Momente der militärischen Übung mit sportlichem Wettkampf, sozialer Festlichkeit und adeliger Repräsentation verband. Das hohe Risiko der Turnierkämpfe, die trotz des Verzichts auf scharfe Waffen immer wieder Todesopfer forderten, provozierte Päpste und Konzilien zu wiederholten Verboten, die aber im Ganzen wirkungslos blieben.
Aus der Sicht der Laien mochte das Turnierwesen zu den Lizenzen gehören, die ihre Lebensweise von derjenigen der Mönche und Kleriker unterschieden. Eine übermäßige Strapazierung dieser Freiheiten suchte man durch besondere religiöse Leistungen auszugleichen. In dieser Perspektive sind Kontinuitäten zur Praxis frühmittelalterlicher Adelsreligiosität festzustellen: Memorialstiftungen und klösterliche Gebetsfürsorge sind in Nekrologen des hohen Mittelalters für einen weit größeren Kreis von Laien dokumentiert als zuvor; auch für Kaufleute oder Bauern und ihre Familien wurde in den Klöstern Totengedenken gehalten. Zu einer besonderen Form der speziellen Bußleistung und des Erwerbs religiöser Verdienste entwickelte sich das Wallfahrtswesen. An die Seite von Rom und Jerusalem trat jetzt das seit dem 10. Jahrhundert überregional verehrte Apostelgrab von Santiago de Compostela als europaweit gesuchtes Wallfahrtsziel.
Noch deutlicher als in diesen besonderen Momenten religiöser Praxis trat das gesteigerte religiöse Engagement aller sozialen Gruppen in der Gestaltung der sozialen Lebenszusammenhänge zutage. Denn die wesentlichen sozialen Entwicklungen der Zeit waren untrennbar mit religiösen Vorstellungen und Verhaltensweisen verbunden. In Stadt und Land bildeten sich Gemeinden, die das herrschaftliche Ordnungsgefüge durch genossenschaftliche Verbindungen ausfüllten und ergänzten und die viel seltener als häufig angenommen im Konflikt mit herrschaftlichen Ansprüchen durchgesetzt werden mussten. Diese Gemeindebildungen gingen einher mit der flächendeckenden Ausbreitung und Differenzierung des Pfarrsystems: Neue Pfarreien entstanden nicht selten auf Initiative von bäuerlichen oder städtischen Gemeinden, die zum Teil sogar das Recht der Pfarrerwahl beanspruchen konnten.
Genossenschaftliche Verbindungen, die ganz unterschiedliche Ziele verfolgten, hatten fast immer religiöse Elemente: Kaufmannsgilden boten ihren Mitgliedern nicht nur Schutz auf der Handelsreise oder Absicherung gegen finanzielle Verluste, sondern sorgten auch für die Memoria, das liturgische Gedenken der Verstorbenen und die Fürbitte für die Lebenden. Besonders deutlich traten religiöse Ziele und Verhaltensweisen in den Vordergrund, wenn Bruderschaften den Unterhalt eines Hospitals übernahmen oder wenn vermögende Stadtbürger Hospize oder Brücken auf eigene Kosten errichteten. Dieses zunehmende karitative Engagement der Laien wurde auch deshalb immer wichtiger, weil die herkömmliche Fürsorge für Arme und Kranke durch Bischofskirchen und Klöster wegen der raschen Zunahme der Bevölkerung und der zugleich wachsenden Zahl von Menschen, die etwa durch Missernten oder Naturkatastrophen ihre Existenz verloren, nicht mehr geleistet werden konnte.