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1. Kapitel: Das Papsttum und sein Anspruch auf Oberherrschaft in Kirche und Welt Die Fülle der Herrschaft

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Innozenz III. hat die Ansprüche des Papsttums auf Oberherrschaft in Kirche und Welt und den Fundus der Metaphern für diese Ansprüche um zwei Zentralbegriffe gebündelt: Der Papst, der unter Gott, jedoch über der übrigen Menschheit steht, ist als Nachfolger Petri Stellvertreter Gottes bzw. Christi auf Erden, und es eignet ihm die Fülle der Vollmacht (plenitudo potestatis).

Aber erst unterhalb dieser höchsten theoretischen Ebene zeichnen sich die für die konkreten Entscheidungen und Handlungen maßgeblichen Anspruchsstrukturen deutlicher ab: Der Papst ist alleiniger Inhaber der plenitudo potestatis, der ganzen Fülle aller kirchlichen Amtsvollmacht. Daraus folgt, dass alle anderen kirchlichen Amtsträger nur auf begrenzten Gebieten Teilhaber an seiner Fürsorgepflicht sind. Als Seelsorger hat der Papst somit die Pflicht und das Recht des mahnenden und strafenden Zugriffs auf jeden Christen, der sich in Sünde verstrickt hat – auch auf Könige und Fürsten. Weiterhin kann er in alle kirchlichen Ämter und Strukturen eingreifen – auch jenseits der Grenzen, die das historisch gewachsene, positive Kirchenrecht steckt: Wenn der Papst so handelt, dann bricht er nicht das Recht, sondern er schreibt es fort. Das gilt einmal für die Akte seines regelmäßigen Regierungshandelns: Als Innozenz III. 1209 eine Sammlung seiner Dekretalen als Rechtsquelle zur Nachachtung an die Juristenschulen in Bologna sandte, initiierte er ein neues Muster kirchlicher Rechtssetzung (s.u. S. 108f.).

Sodann kann der Papst auch feierliche Akte neuer Rechtssetzung vollziehen: Das Vierte Laterankonzil 1215 war nicht die Autorität, die neues Kirchenrecht setzte, sondern es bildete die Kulisse, vor welcher der Papst neues Recht setzte; die beiden in das 13. Jahrhundert fallenden Konzilien in Lyon hatten, was die kirchliche Legislatur anbelangte, dieselbe Kulissenfunktion.

Eine sinnenfällige Facette des päpstlichen Zugriffs- und Leitungsanspruchs auf die gesamte Kirche ist das Recht auf die Erhebung von Steuern in allen Kirchenprovinzen, das der Heilige Stuhl in unserer Periode zugunsten des Kreuzzugs erstmals betätigte (IV. Lat., can. 71).

In seiner Anwendung auf die politische Welt wirkte der Herrschaftsanspruch gemäß vorgegebenen positiv-rechtlichen Verhältnissen: Mit dem Reich war das Papsttum seit der Fränkischen Zeit durch ein förmliches Geflecht geschichtlicher und positiv-rechtlicher Sonderbeziehungen verbunden, das, wie schon zuvor, von beiden Parteien im Konfliktfall gegensätzlich ausgelegt wurde. Sodann prägte Innozenz III. die Theorie aus, dass der Papst „ratione peccati“ (aufgrund der Sünde) als oberster Seelsorger der Christenheit auf jeden Christen in allen die Moral betreffenden Angelegenheiten das Recht des tadelnden Zugriffs habe, das im Falle der Widersetzlichkeit auch durch Zwangsmittel durchgesetzt werden könne. Mehreren abendländischen Reichen gegenüber nahmen Innozenz und seine Nachfolger darüber hinaus noch besondere Weisungsbefugnisse in Anspruch, sofern diese zum Stuhl Petri in einem besonderen Lehnsverhältnis standen oder sich in ein solches Lehnsverhältnis hineinbegaben.

Die weltlichen Mächte und die kirchlichen Institutionen trugen diesen Ansprüchen Rechnung: In der kirchlichen wie in der politischen Sphäre wurde das Papsttum fortwährend als Schiedsrichter und Bundesgenosse in unterschiedlichen Konflikten in Anspruch genommen. Zurückweisungen des kirchlichen Einflusses auf die politische Sphäre oder Abwehr päpstlicher Eingriffe in landeskirchliche Angelegenheiten geschahen kaum je aus prinzipiellen Überlegungen heraus, sondern nur seitens solcher Konfliktparteien, deren konkrete Interessen mit den vom Heiligen Stuhl vertretenen im Widerspruch standen.

Der Anspruch des Papsttums auf die innerkirchliche plenitudo potestatis und die unterschiedlich begründeten Eingriffs- und Zugriffsrechte gegenüber der politischen Welt waren aufs Engste miteinander verknüpft: Kollisionen zwischen landesherrlichen und päpstlichen Kompetenzen in kirchlichen Organisations- und Personalfragen führten zu Verwicklungen in der politischen Welt; die Durchsetzung der päpstlichen plenitudo potestatis in die Strukturen der Landeskirchen hinein war allein mittels politischer Interessenkonvergenzen oder politischen Drucks möglich. Die Einflussnahme auf die politische Welt konnte wiederum durch spezifisch kirchliche Druck- und Disziplinierungsmittel (Exkommunikation) oder durch Ausnutzung von politischen Interessendivergenzen oder -konvergenzen in (wechselnden) Koalitionen geschehen.

Es ist deutlich: Der Anspruch des Papsttums auf die innerkirchliche plenitudo potestatis und seine unterschiedlichen Ansprüche auf Einflussnahme in der politischen Welt bedingten einander immer wieder gegenseitig und verschlangen sich unentwirrbar ineinander.

Wollte das Papsttum diese Herrschaftsansprüche in der Kirche und in der politischen Welt durchsetzen, so benötigte es politische und militärische Macht. Diesem Bedürfnis trug die Politik Innozenz’ III. von Anfang an Rechnung. Gleich zu Beginn seines Pontifikats erhob und realisierte er angebliche oder tatsächliche Besitz- und Herrschaftsansprüche der römischen Kirche, um den politischen Einfluss des Papsttums in Mittelitalien zu arrondieren und zu stabilisieren („Rekuperationen“). Sodann versuchten er und seine Nachfolger immer wieder, eine (staufische) Doppelherrschaft in Nord- und Süditalien zu verhindern.

So ergab sich zwangsläufig der Widerspruch, dass das Papsttum seine oberherrschaftlichen, religiös und moralisch hoch aufgeladenen Ansprüche immer nur in unterschiedlichen Koalitionen mit Parteien als Partei gegen andere Parteiinteressen durchsetzen konnte. Der religiös-moralische, d.h. wesentlich metapolitische Anspruch auf Oberherrschaft war allein mit politischen Mitteln durchsetzbar. Das signifikanteste Indiz dieser unter den angegebenen Prämissen zwangsläufigen Paradoxie sind die auch manch einen Zeitgenossen verstörenden Fälle, in denen Päpste von ihnen favorisierte Kriegszüge christlicher Mächte gegen andere christliche Mächte (oder auch ihre eigenen kriegerischen Unternehmungen) mit den besonderen Privilegien des Kreuzzugs versahen: Ein Machtmittel, das, der Idee nach, für gesamtabendländische Ansprüche und Aufgaben reserviert war, wurde durch den ideellen Repräsentanten dieser gesamtabendländischen Interessen zur Durchsetzung partikularer Machtinteressen eingesetzt; sensible Beobachter sprachen von Missbrauch. Das Papsttum geriet in solchen Fällen in die systemimmanente Nötigung, den Anlass des jeweiligen Konflikts ideologisch derart aufzuladen, dass der Gegner als Feind des christlichen Glaubens dastand, der als „würdiger“ Gegenstand einer außerordentlichen militärischen Kraftanstrengung der Gesamtchristenheit dienen konnte. Auf diese Weise wurde dann der Gegner wiederum genötigt, seine Sache als Kampf gegen den Feind der Gesamtchristenheit zu deklarieren.

Es war diese Konstellation politisch-ideologischer Systemzwänge, die den Endkampf der Päpste gegen Kaiser Friedrich II. und seine Erben gleichsam auf eine metahistorische Ebene hob und den geistigen und militärischen Auseinandersetzungen ihre besondere Schärfe gab.

Ökumenische Kirchengeschichte

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