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Wissenschaft und Bildung: Die Frühscholastik
ОглавлениеMit noch größerer Berechtigung als in anderen Bereichen des sozialen, politischen und kulturellen Lebens lässt sich die hochmittelalterliche Entwicklung von Bildung und Wissenschaft als Neuansatz oder sogar als bewusste Abkehr von frühmittelalterlichen Traditionen beschreiben. Der Wandel erfasste Inhalte und Methoden ebenso wie die Organisation und den institutionellen Rahmen der Wissensvermittlung; er vollzog sich an Inhalten und Medien der religiösen Tradition und im sozialen Zusammenhang der Kirche, aber auch im Konflikt mit führenden Persönlichkeiten des religiösen Lebens und Instanzen der kirchlichen Hierarchie. Auch auf diesem Feld sind wichtige Impulse von den Auseinandersetzungen der Kirchenreformen und des Investiturstreits ausgegangen: Schon die Autoren der heinrizianischen und gregorianischen „Streitschriften“ haben immer wieder feststellen müssen, dass die jeweils eigenen kirchenrechtlichen und theologischen Argumente auch von der Gegenseite benutzt wurden und dass man sich mit überlieferten Kanones auseinanderzusetzen hatte, die anscheinend der eigenen Position und den dazu herangezogenen Kanones widersprachen. Der Gregorianer Bernold von Konstanz hat erstmals Regeln aufgestellt, um solche Widersprüche aufzulösen. Eine umfassende systematische Sammlung und Sichtung des überlieferten Kirchenrechts wurde dann in mehreren Schritten um das Jahr 1140 oder früher in Bologna erarbeitet. Das nach dem ersten Redaktor, wohl einem Kamaldulensermönch namens Gratian, benannte Decretum Gratiani hat auch die Widersprüche zwischen einzelnen Kanones markiert und versucht, den jeweiligen Geltungsanspruch zu differenzieren und zu eindeutigen rechtlichen Beurteilungen zu gelangen. Ungeklärt sind die Verbindungen zwischen dieser Initiative und dem Studium des römischen Rechts, das seit Beginn des Jahrhunderts ebenfalls in Bologna gepflegt wurde. Die Grundlage der weiteren Ausbildung des römischrechtlichen Studiums bildete das Corpus Iuris civilis des oströmischen Kaisers Justinian (527–565); aus der Glossierung und Kommentierung des Decretum Gratiani entwickelte sich die Wissenschaft vom Kirchenrecht (Kanonistik).
Der neue Ansatz, Widersprüche nicht durch rhetorische Operationen zu harmonisieren, sondern jeweils begründete Entscheidungen zu treffen, wurde gleichzeitig auch auf dem Feld der Glaubensinhalte vorgetragen, mit umfassendem Anspruch von Petrus Abaelardus, dessen Sic et non systematisch einander widersprechende Aussagen der theologischen Tradition zusammenstellte, um eine eigenständige Beurteilung nach den Regeln der Vernunft zu ermöglichen. Abaelard zog damit die weitestgehenden Konsequenzen aus einer methodischen Neuorientierung, die schon zu Ende des 11. Jahrhunderts wirksam geworden war, vor allem in der Schule von Laon mit ihren herausragenden Lehrern Anselm (gest. 1117) und Wilhelm von Champeaux (gest. 1122). In der frühmittelalterlichen Tradition hatte man Fragen der dogmatischen Grundlagen des christlichen Glaubens grundsätzlich dadurch beantwortet, dass man die Aussagen der spätantiken und frühmittelalterlichen Autoritäten zitierte und erläuterte. Für das Verständnis der Autoritäten bediente man sich vor allem der grundlegenden Schulmethoden aus dem Kanon der sogenannten Artes liberales: der Grammatik, die zum sprachlichen Verständnis, und der Rhetorik, die zum Verständnis der Argumentationszusammenhänge führen sollte. Zur methodischen Neuorientierung trug jetzt bei, dass die dritte der Grundlagendisziplinen, die Dialektik, einen größeren Stellenwert erhielt. Dialektik war die Lehre von der logischen Schlussfolgerung. Schon im Umfeld der Schule von Laon wurde dementsprechend darüber gestritten, inwieweit Aussagen der theologischen Tradition nicht nur erklärt, sondern auch selbständig nach den Regeln der Dialektik begründet werden durften.
Als „Vater“ der Scholastik wird häufig Anselm von Canterbury (1033–1109) bezeichnet, der vor seiner Berufung zum Erzbischof die Klosterschule im normannischen Le Bec leitete. Zu seinen Schülern dort zählte der gleichnamige spätere Leiter der Schule von Laon. Anselm von Canterbury wahrte den Vorrang der tradierten Glaubensüberzeugungen; seine Formel vom „Glauben, der den Verstand befragt“ (fides quaerens intellectum), geht davon aus, dass den Glaubensinhalten eine Rationalität eigen ist, die durch methodische Anwendung der Vernunft gewissermaßen zwangsläufig aufgedeckt werden kann. In seinem „Proslogion“ bestimmt er Gott als „das, über welches hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“; dieser Begriff Gottes schließt dessen Existenz ein, denn der Begriff eines möglicherweise nicht existierenden Gottes ließe sich noch durch den Begriff des existierenden Gottes übertreffen. In der Philosophiegeschichte bis zur Neuzeit ist diese Beweisführung als „ontologischer Gottesbeweis“ rezipiert oder verworfen worden; Anselm ging es allerdings nicht darum, dem Zweifler die Existenz Gottes zwingend zu beweisen. Sein Ziel war es vielmehr, die im Glauben gegebene Selbstverständlichkeit Gottes adäquat im Bereich des vernunftgemäßen Denkens zu artikulieren. Ähnlich ist auch seine berühmte „Satisfaktionslehre“ zu beurteilen, die versucht, die Menschwerdung Gottes als ein Geschehen mit vernunftgemäßer Notwendigkeit zu begreifen, dabei aber das christliche Gottesbild und das Heilsgeschehen voraussetzt. Die menschliche Sünde, so Anselm, stellt eine Verletzung der Ehre Gottes dar, für die der Mensch keine adäquate Genugtuung (satisfactio) leisten kann; das kann nur der Mensch gewordene Gott selbst durch seinen Tod. Anselms Überlegungen gehen von den zeitgenössischen Ehrvorstellungen aus, die der Ehre eine objektive Qualität zumessen; in diesem Zusammenhang ist eine Kompensation zwingend erforderlich, der Geschädigte kann darauf nicht verzichten, ohne sich selbst weiter zu beschädigen.
In der Satisfaktionslehre zeigt sich besonders deutlich, in welchem Ausmaß Anselms Denken von den Inhalten des Glaubens ausging und versuchte, die Einheit von Glauben und Vernunft, Wirklichkeit und Denken zu wahren. Demgegenüber setzte die weitere Entwicklung des philosophisch-theologischen Denkens bei der allgemeinen Form methodischer Beweisführung an, die sich auf ganz unterschiedliche Inhalte anwenden ließ. Dafür verantwortlich war die zunehmende Rezeption der Dialektik, vermittelt durch die logischen und hermeneutischen Schriften des Aristoteles, von denen einzelne in den lateinischen Übersetzungen der Spätantike bekannt waren, andere aber erst im 12. Jahrhundert in die lateinische Sprache übersetzt und als Logica nova rezipiert wurden. Das führte in den Schulen des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts zur Ausbildung der quaestio als der grundlegenden Form wissenschaftlichen Fragens der Scholastik. Alle denkbaren Gegenstände des Wissens und damit auch die Inhalte des Glaubens konnten in der Form jeweils konträrer Aussagen der Autoritäten dargestellt und durch logische Beweisführung zur Klärung gebracht werden. Nicht diese Methode, sondern ihre Anwendung auf zentrale Dogmen des Glaubens wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts von kirchlichen Autoritäten inkriminiert. Wie Abaelard wurde auch Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154), Leiter der einflussreichen Domschule von Chartres, vor französischen Synoden angeklagt; beiden wurde der Vorwurf gemacht, die Trinitätslehre durch ihre jeweilige methodische Darstellung verkürzt und diesen zentralen Glaubensinhalt ihrem Vernunftanspruch unterworfen zu haben. Aber auch persönliche und wissenschaftliche Rivalitäten haben jeweils eine Rolle gespielt. In beiden Fällen wurde schließlich die Autorität des Bernhard von Clairvaux ins Spiel gebracht, um gegen Abaelard die zweimalige Verurteilung, gegen Gilbert zumindest eine Anklage durchzusetzen.
Nicht mit gleichen existenziellen Konsequenzen, aber doch mit gleicher Ernsthaftigkeit und persönlicher Konfrontationsbereitschaft wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein philosophischer Streit ausgetragen, der eine schon länger in den Schulen diskutierte Frage aufgriff: der Universalienstreit. Dabei ging es letztlich am konkreten Fall der Allgemeinbegriffe um das Verhältnis zwischen den logischen Kategorien und der Wirklichkeit. Während die Realisten, etwa der von Abaelard angegriffene Pariser Magister Wilhelm von Champeaux, den Allgemeinbegriffen wie z.B. dem Begriff „Mensch“ eine eigene Wirklichkeit zuerkannten, blieben diese für die Nominalisten bloße Laute des physischen Sprechens. Dazwischen stand die Position der Konzeptualisten (z.B. Abaelard), die den lautlichen Ausdruck über seine Bezeichnungsfunktion mit den bezeichneten Dingen der Wirklichkeit vermittelten.