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ZUM BEGRIFF DER MENSCHENWüRDE Dietmar von der Pfordten
Die Menschenwürde als Grundbegriff von Ethik und Recht I. Einleitung
ОглавлениеDie Menschenwürde ist als Begriff sehr spät aufgetaucht, hat sich mittlerweile aber vor alle Menschenrechte geschoben. Sie ist zum obersten Gebot der Moral sowie vieler Verfassungen und internationaler Vereinbarungen geworden. Verletzungen der Menschenwürde wie Folter, Sklaverei, Zwangsarbeit und Erniedrigung sind global geächtet, wenn auch noch nicht vollständig verschwunden. Warum hat die Menschenwürde diese besondere Stellung erlangt? Was ist überhaupt die Menschenwürde? Und wodurch wird sie verletzt?
Wort und Begriff der Würde erscheinen im Gegensatz zu vielen anderen Worten und Begriffen der Ethik nicht schon in der griechischen, sondern erst in der römischen Antike, und zwar in dem lateinischen Ausdruck „dignitas“. Dieser bezeichnete die Würde als äußere, veränderliche Eigenschaft der herausgehobenen sozialen, vor allem politischen Stellung, etwa die Würde eines römischen Konsuls, Senators oder Patriziers; also den besonderen sozialen Rang einer Person und dann auch das entsprechende Verhalten sowie die erwartete Behandlung durch andere.1 Cäsar hat bspw. den römischen Bürgerkrieg um seiner von ihm behaupteten dignitas geführt.
Cicero hält fast überall in seinen Schriften an diesem weniger anspruchsvollen altrömischen Begriffsverständnis fest, versteht die dignitas dann aber an einer Stelle in der Schrift „De officiis“ nicht mehr im Sinn einer äußeren sozialen Stellung, sondern sehr viel anspruchsvoller im Sinne einer inneren, im Kern unveränderlichen, allgemeinen Eigenschaft des Menschen.2 In den folgenden Jahrhunderten wurde dieser anspruchsvollere Begriff der Menschenwürde vor allem durch die christliche Philosophie und Theologie gefestigt, und zwar mit Rekurs auf die Schöpfung des Menschen durch Gott nach seinem Ebenbild sowie die auf Vernunft und die Freiheit des Menschen.3 Anders als der Begriff der Menschenrechte ist der Begriff der Menschenwürde dann in der Neuzeit zunächst nicht im angelsächsischen und französischen Denken bedeutsam geworden, sondern in der italienischen Renaissance sowie in Deutschland bei Samuel v. Pufendorf4 und insbesondere Immanuel Kant.5
Auch die politische und rechtliche Entfaltung des Menschenwürdebegriffs setzte sehr spät ein. In den klassischen Menschenrechtserklärungen des 18. und 19. Jahrhunderts war die Menschenwürde noch nicht enthalten. Sie erscheint in rechtlichen Texten erst am Beginn des 20. Jahrhunderts, und zwar zunächst nur vereinzelt und kaum wirkungsmächtig, etwa in Art. 151 I der Weimarer Verfassung des Deutschen Reichs 6 von 1919 und in der Präambel der Verfassung der Republik Irland von 1937. Die Menschenwürde gewinnt eine herausragende politische und rechtliche Bedeutung erst durch ihre Voranstellung in der Charta der Vereinten Nationen von 1945 und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der UN von 1948 sowie für Deutschland außer in der Widerstandsbewegung des Kreisauer Kreises 1943/44 und in einzelnen Landesverfassungen vor allem in Artikel 1 Absatz I des deutschen Grundgesetzes (GG) von 1949: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Katalysator für den politischen und rechtlichen Siegeszug des Menschenwürdebegriffs kurz vor und nach 1945 waren also vor allem die Erfahrungen mit den großen staatlichen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, insbesondere denen des Nationalsozialismus und des Kommunismus bzw. Sozialismus. Seitdem ist die Menschenwürde in viele Verfassungen sowie regionale und internationale Pakte und Deklarationen aufgenommen worden. Mit Artikel 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2000 hat sie auch in der Europäischen Union die Spitzenstellung in der Normhierarchie errungen.
Sowohl die Geistes- als auch die Rechts- und Verfassungsgeschichte der Menschenwürde unterscheiden sich im späten Bewusstwerden und der spät erreichten Vorrangstellung also fundamental von derjenigen der einzelnen Menschenrechte, etwa der Religionsfreiheit.
Sachlich muss man vor dem Hintergrund dieser historischen Entwicklung zwischen wenigstens vier (Teil-)Begriffen der Menschenwürde unterscheiden: einer „großen (intrinsischen)“, einer „kleinen (extrinsischen, kontingenten)“, einer „mittleren“ und einer „ökonomischen“ Würde. Bei der großen (intrinsischen) Menschenwürde handelt es sich um eine nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen. Diese große Menschenwürde lässt sich – so der hier entfaltete Vorschlag – am besten als Selbstbestimmung über die eigenen Belange verstehen. Mit der kleinen (extrinsischen, kontingenten) Menschenwürde ist dagegen die nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen gemeint, wie sie auf eine herausgehobene soziale Position eingeschränkt bereits mit dem lateinischen Ausdruck dignitas bezeichnet wurde. Als Grenzfall der kleinen Würde kennt man seit Pufendorf noch eine mittlere Würde. Auch sie bezieht sich auf die äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen, betont aber die natürliche und damit im Prinzip unveränderliche Gleichheit dieser sozialen Stellung. Schließlich forderten im 19. Jahrhundert insbesondere Vertreter der sozialistischen Bewegung, etwa Lassalle, ein „menschenwürdiges Dasein“.7 Damit wurde die Verwirklichung ökonomischer bzw. materieller Voraussetzungen der Menschenwürde verlangt. Man kann insofern abkürzend von einer „ökonomischen“ Würde sprechen, genauer von einer „ökonomischen Würdebedingung“. Diese vier (Teil-)Begriffe der Würde werden im Folgenden näher analysiert.