Читать книгу Die Sternstunden der Deutschen - Guido Knopp - Страница 6

Die Sternstunden der Deutschen

Оглавление

Über sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Deutschen endlich wieder einen guten Ruf in aller Welt. Man glaubt uns, dass wir unsere Lektion aus Diktatur, aus Krieg und Holocaust gelernt haben. Wir wissen aber auch, dass die deutsche Geschichte nicht nur aus zwölf Jahren Naziherrschaft besteht. Es gab eine reiche Geschichte davor und eine gute Geschichte danach. Es gab traurige Momente – und wahre Sternstunden. Doch welches sind die »Sternstunden der Deutschen«? Was sind die bewegendsten Momente unserer mehr als tausendjährigen Geschichte? Die schönsten, spannendsten und identitätsstiftenden Augenblicke, die uns geprägt haben?

Die Antworten auf diese Fragen sind so vielfältig wie die Deutschen selbst. Nicht allein politische Ereignisse wie der Fall der Mauer, Stauffenbergs Attentat auf Hitler oder Brandts Kniefall in Warschau haben sich tief ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, sondern auch emotionale Momente wie die »Heimkehr der Zehntausend«, der letzten Kriegsgefangenen aus sowjetischem Gewahrsam, der Besuch von John F. Kennedy in Berlin oder der mutige Widerstand von Hans und Sophie Scholl.

1955

Auch bahnbrechende wissenschaftliche Leistungen – denken wir an Einstein, Planck oder Röntgen – sowie Erfindungen »Made in Germany« wie das Automobil, Gutenbergs bewegliche Lettern oder das Schmerzmittel Aspirin stehen vielen Deutschen vor Augen, wenn sie an die großen Momente ihrer Geschichte denken. Dazu kommen sportliche Höhepunkte wie das »Wunder von Bern«, Schmelings K.-o.-Triumph über Joe Louis oder der Wimbledonsieg von Boris Becker.

2006

Aber auch wenn in diesem Buch viele erlebte Momente versammelt sind, an die sich viele Menschen noch erinnern können – wie die deutsche Wiedervereinigung, die Wahl Kardinal Ratzingers zum Papst oder den fröhlichen Patriotismus im Umfeld der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 -, so stellen doch gerade auch Ereignisse aus früheren Jahrhunderten wichtige Ankerpunkte unserer Identität dar.

800

Es beginnt mit Karl dem Großen – kein »Deutscher« im heutigen Sinne, der dennoch eine wichtige Vorstufe dessen schuf, was später zum Reich der Deutschen wurde. Im Jahr 800 ließ sich der Frankenkönig vom Papst zum »Römischen Kaiser« krönen. Er regierte ein Reich, das von der Nordsee bis nach Italien reichte, vom Atlantik bis an die Elbe. Unter seinen Nachfolgern zerfiel das Imperium in ein West- und in ein Ostreich – Kern der heutigen Nationalstaaten Frankreich und Deutschland.

Anderthalb Jahrhunderte später verstanden sich die vier Ur- Stämme auf deutschem Boden – Baiern, Franken, Schwaben und Sachsen – erstmals als eine Schicksalsgemeinschaft: Im Widerstand gegen eine aggressive Macht vereint, schlugen sie unter Führung von Otto I. die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg. Bedrohung von außen eint. Eine wichtige Wegmarke im Jahr 955, denn anders als zum Beispiel den Briten und Franzosen gelang es den Deutschen lange nicht, in einem geeinten Staat zu leben. Immer gab es Kräfte, die mal spalteten, mal einten. Nie aber war der Zentralismus stark. Diese föderale Eigenmacht besteht im Grunde bis heute und ist eine deutsche Besonderheit.

955

Von Anfang an war Deutschland ein Land der Stämme und Regionen, die eifersüchtig auf ihre Eigenständigkeit achteten. Aber die Vielfalt machte eben auch den kulturellen Reichtum Deutschlands aus. So waren es nicht zuletzt die kleineren, wenig mächtigen Fürsten, die durch Förderung der Künste entscheidend dazu beitrugen, dass Deutschland zum Land der »Dichter und Denker« wurde.

Im 16. Jahrhundert war es ein einfacher Mönch, der wie kein anderer die Deutschen geeint und geteilt hat: Martin Luther. Es begann mit einer Revolte im Zeichen des Glaubens. »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, soll er ausgerufen haben, als er 1521 in Worms den Widerruf seiner Thesen verweigerte. Doch auch politisch katapultierte der Reformator die Deutschen in ein neues Zeitalter. Am Ende stand ein neues Selbstgefühl der Deutschen als Nation, aber auch ihre Spaltung im Glauben – katholisch oder evangelisch.

Dass sich Luthers neuartige Gedanken rasend schnell ausbreiten konnten, verdanken wir der wohl wirkungsmächtigsten von zahlreichen in Deutschland gemachten Erfindungen: Gutenbergs Buchdruck mit wiederverwendbaren Bleilettern und Druckformen. Die Reformation war die erste Auseinandersetzung der Weltgeschichte, die von der Publizistik entscheidend bestimmt wurde. Und Johannes Gutenberg selbst wurde von US-Journalisten zum »Mann des Jahrtausends« gekürt.

1848

Ausgerechnet ein fremder Kaiser trieb die Deutschen Anfang des 19. Jahrhunderts schließlich zur Einigung: Frankreichs Jahrhundertherrscher Napoleon – auch wenn dies vor allem geschah, um den Korsen loszuwerden. Doch erst in der Revolution von 1848 hatten die Hoffnungen auf Einheit und Freiheit Chancen auf Verwirklichung. Das Parlament in der Frankfurter Paulskirche war die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland – auch wenn es an seiner selbst gestellten Aufgabe scheiterte.

Nach diesem Versuch der »Einheit von unten« kam es nun zur »Einheit von oben«. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck ebnete den Weg zum ersten deutschen Nationalstaat – ohne wirkliche Demokratie. Der Kanzler stabilisierte das neue Reich mit seiner Sozialgesetzgebung, der Keimzelle unseres heutigen Sozialstaats. Die »Gründerjahre« um die Jahrhundertwende waren auch eine Zeit der Entdeckungen und Erfindungen, in der deutsche Forscher Weltruf erlangten.

1944

In den folgenden Jahren wurden die »Sternstunden« weniger; der Zusammenbruch der Weimarer Republik, die schwere Wirtschaftskrise, all dies ebnete den Weg für den Beginn der dunkelsten Phase der deutschen Geschichte, der Zeit des »Dritten Reiches«. Doch selbst in dieser Zeit der Schande gab es Tage, die uns heute Halt geben. Der 20. Juli 1944 ist ein solcher Tag. Getragen wurde er von wenigen: Es waren tragisch verkannte Helden ohne Anhänger, angetrieben nur von ihrem eigenen Pflichtgefühl.

Nach dem Selbstmord des Tyrannen waren die meisten Deutschen subjektiv nicht in der Lage, sich als »Befreite« zu empfinden. Die Mehrheit sah den 8. Mai 1945 als Stichtag des Zusammenbruchs, der Niederlage. Doch die Geschichte ist imstande, manchmal erst nach Jahren, subjektive Meinungen, Gefühle und Empfindungen von Zeitgenossen souverän zu überwinden und das Gegenteil zu überliefern. Objektiv gesehen, sagt uns die Geschichte heute, war es eine wirkliche Befreiung.

1945

Im Kalten Krieg war Deutschland ein potentielles Pulverfass. Und dennoch: Die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war trotz der bitteren Teilung ganz gewiss die bislang beste, die glücklichste Phase der deutschen Geschichte. Das mag absurd erscheinen, doch es ist so. Denn ein 25-Jähriger, der 1945 mit heilen Knochen aus dem Krieg kam und im Westen Deutschlands lebte, hatte Chancen wie keine Generation vor ihm: vom Nullpunkt an, aus Trümmern eine neue Welt, ein neues Land zu schaffen, in dem über fünfzig Jahre Frieden, Freiheit und Wohlstand herrschten.

1953

»Freiheitliche Demokratie« und »Westbindung« – keiner seiner Nachfolger stellte die von Adenauer ausgebauten Fundamente der alten Bundesrepublik in Frage. Im Rückblick haben selbst die schärfsten Widersacher eingeräumt, dies sei der einzig mögliche Weg zur Einheit gewesen – auch wenn die Teilung so für mehr als eine deutsche Generation zur schmerzlichen Tatsache wurde. Wäre der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 geglückt, wäre wohl schon damals die Wiedervereinigung möglich geworden. Doch der Aufstand scheiterte, weil die Sowjetpanzer rollten. Dennoch können wir stolz sein auf die Menschen, die ihr Leben einzusetzen wagten gegen eine Staatsmacht, die die Freiheit unterdrückte. So blieben beide deutschen Staaten an der Nahtstelle der Blöcke mehr als vier Jahrzehnte atomare Geiseln ihrer jeweiligen Vormacht. Ihr Territorium war das potentielle Schlachtfeld eines nuklearen Holocaust. Dass den Deutschen das erspart geblieben ist, dass der Kalte Krieg am Ende überwunden wurde und dass Deutschland 1989/90 neu vereint und frei geworden ist – das ist ein Glück und eine Gnade der Geschichte.

1989/90

Wir, die Bürger des geeinten Deutschland, haben allen Grund zur Dankbarkeit und Freude. An unseren Grenzen stehen heute keine Gegner, keine Feinde, sondern Nachbarn, Partner, Freunde. Wir sind, zum ersten Mal in der Geschichte, umgeben von Verbündeten. Europa funktioniert nicht ohne das geeinte Deutschland. Und genauso wenig ist auch Deutschland ohne das Bekenntnis zu Europa überlebensfähig. Wir, die Europäer, sind am Ende alle aufeinander angewiesen, ob wir wollen oder nicht. Das ist die Botschaft der deutschen Geschichte – und ihrer Sternstunden.

Die Sternstunden der Deutschen

Подняться наверх