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Siebentes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Rudolf Werkmeister hatte während der Reise, die ihn von zu Hause fernhalten sollte, bis Waltraut abgereist war, in verschiedenen deutschen Großstädten Geschäfte erledigt. So kam er auch nach Düsseldorf.

Dort wollte er eine befreundete Firma besuchen, deren Inhaber er noch nicht persönlich kannte.

Das Etablissement der Firma Karsten lag etwas abseits von der Stadt, und Rudolf fuhr in einem Mietauto vor, bestellte aber den Wagen ab, weil er nicht wusste, wie lange er aufgehalten werden würde. Er hatte sich gemerkt, dass er nur durch ein kleines Gehölz zu gehen brauchte, um an eine Haltestelle der Elektrischen zu gelangen, wenn er wieder in das Innere der Stadt zurückkehren wollte.

Er wollte sich dem Chef der Firma Karsten melden lassen, aber der Kontordiener sagte bestimmt:

»Sie müssen sich ein Weilchen gedulden, mein Herr, der Chef hat gerade eine Sekretärin rufen lassen, damit sie ein wichtiges Stenogramm aufnimmt. Solange Fräulein Lenz in seinem Privatkontor ist, darf er nicht gestört werden.«

Rudolf hatte nicht Lust, lange zu warten.

»Wird das lange dauern?«

»Gewiss nicht, mein Herr, Fräulein Lenz muss spätestens in einer halben Stunde die Post erledigen, die am Vormittag noch fort soll.«

Rudolf folgte nun dem Diener, und dieser öffnete leise, um nicht zu stören und um zugleich dem Besucher anzudeuten, dass er sich ruhig verhalten müsse, das Vorzimmer des Chefs. Rudolf drückte ihm ein Geldstück in die Hand, und beflissen flüsterte der Diener:

»Bitte, nehmen Sie Platz. Ich bleibe draußen vor der Tür, sobald Fräulein Lenz herauskommt, melde ich Sie dem Chef.«

Rudolf nickte ihm stumm zu und ließ sich in einem Sessel nieder. Er hörte hinter der Tür zu Herrn Karstens Zimmer eine Männerstimme laut diktieren. Der Diktierende musste wohl dabei auf und ab gehen, da seine Stimme einmal näher, einmal weiter klang. Aber Rudolf konnte so ziemlich jedes Wort verstehen, und er dachte lächelnd bei sich, dass Herr Karsten auf diese Weise keine Geschäftsgeheimnisse diktieren dürfe. Bei uns ist das praktischer eingerichtet, da gibt es gepolsterte Doppeltüren, die den Schall dämpfen, dachte er befriedigt.

»Haben Sie das alles, Fräulein Lenz?«, fragte jetzt die Männerstimme.

Und eine weiche, klare Frauenstimme antwortete: »Ja, Herr Karsten.«

»Lesen Sie noch einmal vor.«

Die Frauenstimme las das Diktierte noch einmal vor. Rudolf konnte nicht alles verstehen, anscheinend saß dieses Fräulein Lenz mit dem Rücken zur Tür. Aber plötzlich stockte das Vorlesen, anscheinend mitten im Satz. Rudolf hörte, wie jemand hastig aufsprang und dabei wohl den Stuhl umwarf. Und dann hörte er dieselbe Frauenstimme erregt und energisch sagen:

»Ich verbitte mir das! Ich bin Ihre Sekretärin, nichts weiter, und verlange, dass Sie das respektieren, Herr Karsten.«

Darauf hörte er ein fettes, brutales Lachen.

»Zieren Sie sich doch nicht, und vor allen Dingen schreien Sie nicht so laut, Sie kleines dummes Ding. So ein niedlicher Käfer wie Sie sollte nicht so abweisend sein. Ihr Nacken sah so verführerisch aus Ihrem Halsausschnitt, dass ich ihn küssen musste. Seien Sie doch gescheit, Sie können sich zehnmal besser bei mir stehen, wenn Sie nur wollen.«

»Ich will aber nicht! Bitte, geben Sie mir den Weg frei, ich will hinaus!«

Rudolf hatte sich erhoben und starrte zur Tür. Und nun hörte er die Frauenstimme aufschreien.

»Lassen Sie mich los, Sie sind ein Unverschämter, lassen Sie mich los, oder ich rufe laut um Hilfe!«

Darauf ein unterdrücktes Murmeln einer Männerstimme, ein Keuchen und Stöhnen, als finde ein Kampf statt.

Rudolf trat an die Tür heran. Dieser Herr Karsten schien seinen Untergebenen wie ein Pascha gegenüberzustehen. Er überlegte, ob er sich einmischen solle, ob er da wirklich einer bedrohten Frau zu Hilfe kommen müsse. Aber ehe er sich noch schlüssig war, wurde von drinnen die Tür aufgerissen. Rudolf wich unwillkürlich zur Seite zurück. Eine schlanke Frauengestalt erschien auf der Schwelle, das Gesicht zu dem Zimmer zurückgewandt. Und mit bebender Stimme sagte Fräulein Lenz: »Ich wäre auch ohnedies nach diesem Vorkommnis um keinen Preis in Ihrem Hause geblieben. Lieber verhungern! Die Ohrfeige haben Sie verdient. Ich kündige meine Stellung sofort!«

Und an Rudolf vorbei eilte ein schlankes, junges Mädchen mit einem vor Entrüstung und Aufregung geröteten Gesicht. Im Zimmer hatte Rudolf für einen Moment einen dicken Herrn stehen sehen, der sich die Wange hielt, die wahrscheinlich als Quittung für seine Unverschämtheit soeben geohrfeigt worden war.

Hastig hatte Fräulein Lenz die Tür hinter sich ins Schloss gezogen und eilte nun durch das Vorzimmer davon. In diesem Moment sah sie Rudolf stehen. Eine noch dunklere Röte stieg in ihre Wangen, und ihre Lippen zuckten vor verhaltenem Weinen. Nervös an ihrem Haar ordnend, lief sie hinaus.

Mitleidig sah ihr Rudolf nach. Das arme Ding schien ernstlich bedroht gewesen zu sein, sie hatte offenbar eine böse Szene hinter sich. Eine Schmach war es für diesen Herrn Karsten, dass er seine Machtstellung seinen Angestellten gegenüber missbrauchte. Die Ohrfeige, die ihm dies energische Fräulein Lenz verabfolgt hatte, war eine sehr verdiente.

Ehe er sich noch ganz klar werden konnte über das, was er ungewollt erlauscht hatte, trat der Kontordiener ein. Diensteifrig sagte er: »Jetzt werde ich Sie melden, der Chef ist allein, Fräulein Lenz hat ihn soeben verlassen.«

Rudolf hielt ihn einen Moment fest.

»Dieses Fräulein Lenz ist die Sekretärin des Herrn Karsten?«

Der Diener zuckte die Achseln.

»Gewesen! Sie hat mir eben gesagt, dass sie entlassen worden sei.«

»So mitten im Monat?«

»Ich verstehe das auch nicht! Sie war sehr aufgeregt und weinte. Es hat wohl etwas gegeben. Natürlich, eine gut bezahlte Stellung verliert man heute nicht gern, wo alles eingeschränkt wird. Aber sie muss sich doch wohl etwas haben zuschulden kommen lassen, sonst brauchte sie sich doch nicht mitten im Monat fortschicken zu lassen.«

Rudolf hätte ihm am liebsten gesagt:

»Sie hat den Chef geohrfeigt, weil er unverschämt geworden ist, deshalb hat er sie entlassen.« Aber er hielt sich zurück. Das alles war so schnell gekommen, dass er sich noch gar nicht hatte klar werden können, ob es irgendeine Stellungnahme für ihn in dieser Angelegenheit gab. Der Diener hatte ihn gemeldet, und Rudolf trat ein. Er war nicht ganz sicher, ob ihn Herr Karsten hatte im Vorzimmer stehen sehen, als Fräulein Lenz die Tür geöffnet hatte. Aber die Art und Weise, wie ihn Herr Karsten begrüßte, bewies ihm, dass er keine Ahnung hatte, dass Rudolf die eben stattgefundene Szene, in der er eine so üble Rolle gespielt hatte, miterlebt hatte.

Er begrüßte Rudolf mit einer gutgespielten Jovialität und fragte, ob er ihn habe warten lassen; Rudolf erwiderte, dass er gerade gekommen sei, als eine junge Dame das Vorzimmer in sichtlicher Erregung verlassen habe.

Herr Karsten warf sich in die Brust.

»Ja, ja, Sie wissen, mein lieber Herr Werkmeister, man hat so seinen Ärger mit dem Personal. Es war meine Sekretärin, die ich Knall und Fall habe entlassen müssen.«

Rudolf biss sich auf die Lippen.

»Dann muss sie sich wohl etwas haben zuschulden kommen lassen.«

Herr Karsten nickte empört.

»Jawohl, unverschämt ist sie geworden – Gehorsamsverweigerung, verstehen Sie.«

Rudolf musste an sich halten, damit er sich nicht verriet.

»Glauben Sie, dass sie deshalb die junge Dame fristlos entlassen können?«

Karsten lachte hart und brutal auf.

»Junge Dame, seien Sie so gut, diese kleinen Mädels gebärden sich schon viel zu viel als Damen. Man muss ihnen das nicht erst noch weismachen. Übrigens war sie mit ihrer Entlassung einverstanden.«

»Soso! Übrigens, wenn es dieselbe Dame ist, die in letzter Zeit Ihre Korrespondenz mit uns geführt hat, so scheint sie sehr tüchtig zu sein. Sie hat einen sehr guten Stil und eine äußerst präzise Sachlichkeit.«

»Nun ja, sie beherrscht auch die englische und französische Sprache perfekt in Wort und Schrift, und ich werde so leicht nicht wieder eine so tüchtige Kraft bekommen, aber – das kann man sich doch nicht gefallen lassen, dass solche Mädel frech werden. Aber nun lassen wir das, mein lieber Herr Werkmeister, ich denke, wir haben Wichtigeres zu besprechen. Es freut mich, dass ich Ihre persönliche Bekanntschaft endlich einmal machen kann.«

Es wurden nun streng geschäftliche Dinge besprochen, und als Rudolf sich dann sofort nach Erledigung derselben entfernen wollte, sagte Herr Karsten:

»Bleiben Sie noch lange in Düsseldorf?«

»Nur bis morgen.«

»Dann könnten wir doch den Abend zusammen verleben. Es würde mir eine Ehre und ein Vergnügen sein, wenn Sie heute Abend bei uns speisen würden. Meine Frau würde sich sehr freuen.«

»Leider muss ich danken, ich habe eine Verabredung.«

Karsten lachte, ein hässliches, zynisches Lachen.

»Aha! Weiß schon! Familiensimpelei ist nicht Ihr Fall. Im Vertrauen, meiner auch nicht. Wenn ich Sie in eine nette lustige Gesellschaft einführen soll –«

»Nein, nein, wie gesagt, ich habe schon etwas anderes vor.«

Karsten blinzelte ihm zu.

»Was Nettes natürlich? Da bin ich auch gern dabei, wenn es nicht stört.«

Rudolf hätte am liebsten der Ohrfeige, die Herr Karsten von seiner tapferen Sekretärin erhalten hatte, seinerseits noch eine zweite hinzugefügt. Aber er musste sich darauf beschränken, höflich ablehnend zu sagen:

»Sie irren, es ist nichts Nettes, was ich vorhabe, sondern eine ganz seriöse Angelegenheit, die es mir nicht gestattet, Ihre Gesellschaft zu genießen.«

Er hatte zwar absolut nichts vor, aber er sehnte sich begreiflicherweise nicht danach, die Gesellschaft dieses Mannes, der sich ihm, ohne es zu wissen, in einem so üblen Lichte gezeigt hatte, länger als unbedingt nötig zu ertragen. Und so verabschiedete er sich kurz und verließ das Geschäftshaus Karsten.

Als er wieder im Freien war, hob sich seine Brust, als könne er endlich wieder frei atmen. Und während er langsam zu dem kleinen Gehölz schritt, hinter dem, wie er wusste, die Haltestelle der Elektrischen war, dachte er an das arme Fräulein Lenz, und er überlegte, ob diese nicht eine passende Sekretärin für seinen Pflegevater sein würde. Die nötigen Fähigkeiten hatte sie entschieden, und es wäre vielleicht ein gutes Werk gewesen, ihr gerade jetzt eine gute Stellung zu verschaffen.

Ehe er noch mit diesem Gedanken im Reinen war, hatte er das Gehölz erreicht, und plötzlich stockte sein Fuß. Da drüben auf einer Bank saß eine schlanke Frau, die sich anscheinend ganz allein hier wähnte, denn sie hatte das Gesicht im Taschentuch vergraben und schien haltlos zu weinen.

Als er näher kam, wollte ihm scheinen, als müsse dieses weinende weibliche Wesen dasselbe Fräulein Lenz sein, das Herr Karsten auf so ungewöhnliche Weise entlassen hatte. Die Tapferkeit ihrer Empörung war anscheinend einer tiefen Verzagtheit gewichen.

Rudolf konnte nun überhaupt keine Frau weinen, kein hilfloses Wesen leiden sehen, ohne dass alle ritterlichen Instinkte in ihm wach wurden. Es war ihm unmöglich, teilnahmslos vorüberzugehen, und zugleich hielt er es für einen Wink des Schicksals, dass er Fräulein Lenz noch einmal begegnete. Er blieb dicht neben ihr stehen, zog den Hut und fragte artig:

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Ein erschrockenes, tränenüberströmtes Gesicht sah zu ihm auf. Es war wirklich Fräulein Lenz. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, ich danke – ich –, mir ist nur nicht ganz wohl.«

»Eben deshalb sollten Sie meine Hilfe annehmen.«

Sie sah ihn genauer an und wurde plötzlich dunkelrot.

»Waren Sie nicht im Vorzimmer des Herrn Karsten?«

Er neigte den Kopf.

»Ja, und ich glaube, dass ich so ziemlich genau weiß, was zwischen Ihnen und Ihrem Chef vorgegangen ist. Sie sind sehr tapfer gewesen, Fräulein Lenz, und die Ohrfeige hat Herr Karsten verdient.«

Wieder schoss dunkle Glut in ihr Gesicht. Sie trocknete hastig ihre Tränen und sagte voller Empörung:

»Ganz gewiss hat er sie verdient, aber für mich war es furchtbar, dass ich mich nicht anders wehren konnte. Und meine Stellung bin ich nun ebenfalls los.«

»Eine so tüchtige Persönlichkeit wie Sie findet schnell wieder eine andere Stellung.«

Traurig schüttelte sie den Kopf.

»Es gibt nicht viel Möglichkeiten in dieser Zeit. Und dass ich hier in Düsseldorf keine Stellung mehr bekommen werde, dafür wird Herr Karsten schon sorgen. Es kommt ihm auf eine Unwahrheit nicht an, wenn er mich hier unmöglich machen kann. Ich aber kann mich nicht verteidigen, ich stehe ganz allein im Leben, und ich würde auch nicht über meine Lippen bringen, weshalb ich diese Stellung aufgeben musste, schon nicht, weil ich Frau Karsten schonen möchte, die immer sehr freundlich zu mir gewesen ist und die schon ohnedies in ihrer Ehe nicht auf Rosen gebettet ist.«

Rudolfs Teilnahme für die junge Dame wurde immer größer. Ihre letzten Worte verrieten ihm eine vornehme Gesinnung. Sie schien jetzt ihre Ruhe und Festigkeit wiedergewonnen zu haben, und er konnte nun erst beurteilen, was für ein reizendes Gesicht sie hatte. Ihre Züge waren fein geschnitten, und die großen braunen Augen blickten rein und stolz. Und ohne noch lange zu zögern, fragte er plötzlich: »Würden Sie ein Engagement nach Hamburg annehmen?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Nach Hamburg?«

»Ja.«

Sie atmete tief auf, es klang wie ein letztes, verhaltenes Schluchzen.

»Wenn ich dort ein Engagement finden würde, warum sollte ich es nicht annehmen. Mich hält hier nichts. Aber wer sollte mich in Hamburg engagieren?«

»Ich, wenn Sie gestatten.«

Ungläubig sah sie zu ihm auf.

»Sie?«

»Ja!«

»Ich glaube, Sie belieben zu scherzen.«

»Nein, nein, es ist mein Ernst. Wir können so tüchtige Kräfte wie Sie sehr gut gebrauchen.«

Fräulein Lenz steckte energisch ihr Taschentuch in eine kleine Handtasche, die sie nun von der Bank aufnahm. Dann richtete sie sich empor und sah ihn ernst und forschend an.

»Ich weiß nicht, wer Sie sind, mein Herr, und ich befinde mich in einer sehr peinlichen Situation. Wenn ich Ihnen auch glauben wollte, dass Sie Ihr Angebot ehrlich meinen, so muss ich Sie doch fragen, wie Sie mich so ohne Weiteres engagieren wollen und woher Sie wissen wollen, dass ich eine tüchtige Kraft bin.«

Er musste ein wenig lächeln.

»Mir gegenüber brauchen Sie keine Kampfstellung einzunehmen, Fräulein Lenz. Ich bin Rudolf Werkmeister, Prokurist der Firma Roland in Hamburg.«

Ein Staunen lag in ihrem Blick.

»Verzeihen Sie, das konnte ich nicht wissen. Diese Firma hat einen guten Ruf in der ganzen Welt, glaube ich. Aber ich muss doch wieder fragen, woher wissen Sie, dass ich eine tüchtige Kraft bin?«

Wieder lächelte er leise.

»Sie führen doch schon seit längerer Zeit die Korrespondenz mit uns, mir haben Ihre Briefe sehr gefallen, weil sie einen guten Stil haben und sehr sachlich gehalten sind, sowie viel Verständnis der Branche verraten. Außerdem hat mir Herr Karsten, sehr widerwillig zwar, bestätigen müssen, dass Sie eine sichere englische und französische Korrespondentin sind. Hauptsächlich das Englische ist uns wichtig. Mein Pflegevater, der Chef der Firma Roland, sucht seit Langem schon eine Sekretärin, die ihn entlasten soll. Für ihn möchte ich Sie engagieren, und er wird ohne Weiteres dies Engagement bestätigen.«

Sie war nun sehr blass geworden vor innerer Erregung, und mit bebenden Lippen stieß sie hervor:

»Ich weiß nicht, womit ich Ihr Vertrauen verdient habe.«

»Aber ich weiß es. Ich wäre Ihnen schon vorhin in Ihrer unangenehmen Lage gern zu Hilfe gekommen, da ich im Vorzimmer mit anhören musste, wie Sie attackiert wurden. Aber ich wusste nicht recht, ob meine Hilfe wirklich erwünscht war – in solchen Fällen kann man hinter geschlossenen Türen nicht urteilen. Es hat mir nachher leidgetan, dass ich zu spät kam. Aber um Ihnen, die ich bei dieser Gelegenheit als eine so tapfere und ehrenhafte junge Dame kennengelernt habe, jetzt noch zu Hilfe zu kommen, ist es nicht zu spät. Nochmals ganz ernsthaft, wenn Sie nach Hamburg kommen wollen, werde ich Ihnen die Stellung als Sekretärin bei meinem Pflegevater verschaffen, obwohl mir Herr Karsten vorlügen wollte, dass er sie plötzlich entlassen musste, weil Sie unverschämt und frech geworden seien.«

Ein bitteres Lächeln umspielte ihren Mund.

»Das sieht ihm ähnlich. Diese Lüge wird er überall verbreiten, und Sie können mir glauben, dass mich danach so bald niemand beschäftigen würde.«

»Sie sehen, dass es mich nicht abgeschreckt hat.«

»Weil Sie gottlob ein Zufall zum Zeugen gemacht hat. Wäre das nicht der Fall gewesen, wie hätten Sie dann ahnen können, dass meine sogenannte Unverschämtheit nichts anderes war als Notwehr, als ein Akt der Selbstverteidigung. Ja, ich habe Herrn Karsten ins Gesicht geschlagen, weil er mich in seine Arme riss und mir unverschämte Anträge machte. Er wollte mich trotz meiner Gegenwehr auf den Mund küssen – da schlug ich zu, damit er mich losließ.«

»Bravo! Sie haben recht getan! Also, wollen Sie nach Hamburg kommen?«, fragte er, sie mit einem warmen Blick ansehend.

Die Farbe war wieder in ihr Gesicht gekommen. Sie sah ihn mit ihren schönen braunen Augen an, dass ihm ganz seltsam ums Herz wurde.

»Darf ich das wirklich annehmen? Gibt es wirklich so edle, hilfsbereite Menschen?«

Er lachte. Es war, als wolle er eine in ihm aufsteigende Befangenheit fortlachen.

»Das ist weder sehr edel noch sehr hilfsbereit, ich kapere einfach für unsere Firma eine tüchtige Arbeitskraft.«

Sie reichte ihm impulsiv die Hand.

»Ich danke Ihnen, oh, ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Und wenn es wirklich sein darf – mit tausend Freuden nehme ich diese Stellung an, und ich will mir viel Mühe geben, Sie und Ihren Herrn Pflegevater zufriedenzustellen.«

Mit festem Druck nahm er ihre Hand.

»Abgemacht, Fräulein Lenz. Bitte melden Sie sich am 15. Oktober bei der Firma Roland. Reisevergütung wird Ihnen gern zugebilligt. Aber vielleicht bedürfen Sie auch eines Vorschusses, da Sie Ihr Domizil wechseln müssen, ich werde Ihnen einen Scheck ausschreiben.«

Sie hob bittend die Hand.

»Nein, ich danke, das ist nicht nötig, ich habe kleine Ersparnisse und werde damit auskommen. Wenn mir die Reisekosten später vergütet werden, nehme ich das dankbar an.«

»Das ist selbstverständlich. Sie bringen bitte dann der Ordnung halber Ihre Zeugnisse mit, für meinen Pflegevater.«

»Gewiss, Herr Werkmeister.«

»Sind Sie geborene Düsseldorferin?«

»Nein, ich bin in Elberfeld geboren und habe dort die Schule besucht. Bis zum Tode meiner Eltern habe ich in Elberfeld gelebt. Mein Vater war bei einer Elberfelder Zeitung Druckereifaktor. Da ich sein einziges Kind war, hat er mir eine gute Erziehung zuteilwerden lassen können. Ich habe die Schule bis zur mittleren Reife besucht und gute Zeugnisse gehabt. So gelang es mir, gleich eine gute Stellung in Elberfeld zu bekommen. Aber diese Firma geriet infolge der Inflation in Konkurs und wurde aufgelöst, und so verlor ich diese Stellung. Da meine Eltern inzwischen gestorben waren, ging ich nach Düsseldorf, wo ich bei der Firma Karsten ein Engagement gefunden hatte. Aus meiner ersten Stellung habe ich ein sehr gutes Zeugnis, und ein solches kann mir auch Herr Karsten nicht vorenthalten.«

»Das wird er auch nicht tun. Und was Sie mir sagen, genügt. Es ist also abgemacht, ich erwarte Sie am 15. Oktober. Und – warten Sie einen Moment – ich will Ihnen die Adresse eines Hamburger Pensionats geben, in dem zuweilen Angestellte von uns wohnen und gut aufgehoben waren. Es liegt in der Nähe unseres Geschäftshauses.«

Er notierte ihr die Adresse auf ein Blatt seines Notizbuches und überreichte es ihr.

»So, Fräulein Lenz. In einigen Tagen bin ich wieder in Hamburg und werde meinem Pflegevater sofort Bericht erstatten. Und nun haben Sie wieder ein bisschen Mut, es sind nicht alle Menschen so schlecht wie Herr Karsten«, sagte er lächelnd.

Er reichte ihr die Hand zum Abschied und zog den Hut.

»Ich bin so glücklich und so dankbar, Herr Werkmeister, und hoffe nur, dass ich Ihnen diese Dankbarkeit werde beweisen können.«

Ihr noch einmal ermutigend zunickend, ging er davon, und ein Lächeln flog über sein Gesicht, als er sich überlegte, auf wie seltsame Art dies Engagement zustande gekommen war.

Lore Lenz aber sah wie im Traume hinter ihm her und ging dann auch langsam davon, ihrer Wohnung zu.

Rudolf hatte noch an demselben Abend an seinen Pflegevater geschrieben und ihm mitgeteilt, dass er eine außerordentlich tüchtige Sekretärin für ihn engagiert habe, die bisher bei der Firma Karsten angestellt gewesen sei. Sie werde am 15. Oktober antreten, und er werde Weiteres nach seiner baldigen Rückkehr berichten.

Er hatte damit vermeiden wollen, dass sein Pflegevater vielleicht zufällig jetzt eine andere Sekretärin engagieren würde.

Als Rudolf dann nach einigen Tagen nach Hause kam, war Georg Roland auch gerade erst von Bremerhaven zurückgekommen, wohin er Waltraut bis an Bord des Dampfers begleitet hatte. Neben anderen geschäftlichen Dingen wurde nun auch von den beiden Herren das Engagement von Fräulein Lenz besprochen.

»Ich ergriff die Gelegenheit, dir diese tüchtige Kraft zu sichern, um so lieber, als ich das junge Mädchen dadurch für die ungerechte Entlassung entschädigen konnte«, sagte Rudolf.

Georg Roland nickte ihm zu.

»Du hast recht gehandelt, und ich bin sehr froh, dass ich eine Sekretärin bekomme. Da sie schon bei Karsten war, ist sie ja auch mit der Art unserer Geschäfte bekannt, was mir nur lieb sein kann.«

»Das dachte ich auch. Und nun, da alles Geschäftliche erledigt ist – wie hat Waltraut den Abschied überstanden?«

Der alte Herr seufzte tief auf.

»Leicht ist er für uns beide nicht geworden. Und obwohl Waltraut unter dem Schutze des Justizrats reist, mache ich mir doch Sorgen.«

»Der Justizrat ist aber doch ein energischer und zuverlässiger Beschützer.«

»Immerhin, es gibt auf Reisen Dinge, gegen die kein Mensch ein ausreichender Schutz ist.«

»Solche Dinge gibt es nicht nur auf Reisen, lieber Vater. Schließlich sind wir überall von Gefahren umgeben. Du musst dich nicht zu sehr sorgen und dir sagen, dass Waltraut nichts geschehen wird, was ihr nicht vom Schicksal vorausbestimmt ist.«

»Du bist Fatalist?«

»Jeder Mensch sollte das im gewissen Sinne sein, dann sparte man sich manche unnötige Sorge.«

»Aber wir werden Waltraut beide sehr vermissen.«

»Das ist gewiss, Vater, aber du musst bedenken, dass sie mit dieser Reise das Richtige fand, um uns über den Übergang hinwegzuhelfen.«

»Und hast du dich nun schon mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass Waltraut deine Gattin wird?«

Rudolf zögerte eine Weile. Plötzlich sah er vor seinen geistigen Augen zwei feuchtschimmernde samtbraune Augen, und die Augen Waltrauts waren blau.

»Es geht nicht so schnell, Vater. Man löscht nicht in wenig Wochen aus, was man lange Jahre für einen Menschen empfunden hat. Ich sehe noch immer in Waltraut viel mehr meine Schwester als meine Braut.«

»Nun, das wird sich mit der Zeit ändern, bei gutem Willen.«

»Der gute Wille ist bestimmt vorhanden, Vater.«

Danach kamen die Herren wieder auf die Geschäfte zu sprechen.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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