Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 21
Achtzehntes Kapitel
ОглавлениеWaltraut befand sich nun wieder an Bord eines großen Luxusdampfers. Der Abschied von Saorda und Schlüters war ihr schwer geworden, aber doch nicht so schwer, als wenn sie auch Jan hätte zurücklassen müssen. In den Tagen, die die Reisevorbereitungen ausfüllten, war Jan wenig nach Saorda gekommen. Es galt so vieles zu bedenken, da auch sein Vater mit fortging, dass er wenig Zeit hatte. Von seines Vaters Beichte hatte er Waltraut noch nichts berichtet, er hatte ihr nur gesagt:
»Sobald wir in Ruhe an Bord sind, werde ich dir überraschende Eröffnungen machen können über das, was mir mein Vater mitgeteilt hat. Jetzt nur so viel – ich habe die bestimmte Hoffnung, dass unsere Sache sehr gut steht und dass sich alles harmonisch auflösen wird. Dank meines Vaters Eingreifen wird uns alles viel leichter gemacht werden, mein liebes Herz, du brauchst gar nicht mehr sorgenvoll auszusehen.«
Waltraut hatte natürlich über diese rätselhaften Worte nachgegrübelt. Und nun befand sie sich mit Jan und seinem Vater an Bord und war sehr gerührt, weil die beiden Herren alles taten, was sie ihr an den Augen absehen konnten.
Man hatte sich wohnlich eingerichtet in den Kabinen, und als nun der Dampfer in voller Fahrt war, führte Jan eines Tages nach Tisch Waltraut auf Deck in einen stillen, geschützten Winkel, wo sie ungestört sitzen konnten. Hendrik Werkmeester war in seine Kabine gegangen, um ein Mittagsschläfchen zu halten, was ihm Waltraut gewissenhaft und sorgsam jeden Tag verordnete. Nachdem Jan um Waltrauts Bequemlichkeit liebevoll bemüht gewesen war, setzte er sich zu ihr und nahm ihre Hand. Sie mit seinen zärtlichen Augen ansehend, sagte er:
»Nun, da wir endlich zur Ruhe gekommen sind, mein liebes Herz, sollst du auch erfahren, was Vater mir an jenem Abend, da wir in Saorda unsere Verlobung gefeiert hatten, anvertraut hat. Du wirst von seiner Beichte, von der ich dir mit seiner Einwilligung Kenntnis geben werde, nicht so tief betroffen werden wie ich, aber immerhin mache dich auf eine große Überraschung gefasst.«
Unruhig fragend sah Waltraut in seine Augen. Er sah so ernst und feierlich aus, dass sie merkte, dass es sich um etwas Großes, Wichtiges handeln musste.
»Sprich, Jan, ich fühle, dass du mir etwas zu sagen hast, was dich sehr aufgeregt hat.«
»Ja, Waltraut, es hat mich sehr erregt. Aber wir wollen in Zukunft keine Geheimnisse mehr voreinander haben, und deshalb musst du alles wissen, auch wenn es nicht so wichtig für uns wäre. Wenn ich dir etwas sagen muss, was wie eine Schuld auf meines Vaters Vergangenheit liegt, so muss ich dir auch sagen, dass er mir dadurch nur noch lieber geworden ist, weil er so schwer hat leiden müssen. Und ich könnte es nicht ertragen, wenn du deshalb weniger gut von ihm denken würdest.«
Sie fasste seine Hand.
»Aber, Jan, wie kannst du so etwas denken? Bin ich deinem Vater nicht sehr viel Dank schuldig, schon allein deshalb, dass er dir das Leben gab? Und ich kenne doch deinen Vater. Hat er wirklich etwas getan, was eine Schuld zu nennen ist – wer von uns ist ohne Schuld? Du kannst mir unbesorgt alles sagen, ich werde deinen Vater nicht weniger schätzen, wenn ich alles weiß, dessen bin ich gewiss.«
Er küsste ihre Hand.
»Ich danke dir für diese Worte, mein geliebtes Herz. Und nun höre mich an und erschrick nicht, wenn ich dir das Bedeutungsvollste zuerst sage. Du hast einmal herausgefunden, dass mein Vater und dein Pflegebruder Rudolf einander ähnlich sind und dass ich dieselben Augen habe wie Rudolf. Das ist kein Wunder, denn Rudolf ist mein Bruder, der Sohn meines Vaters aus erster Ehe.«
Waltraut zuckte zusammen. Fassungslos sah sie in seine Augen.
»Jan! Wie könnte denn das sein? Dein Vater ist doch Holländer und Rudolfs Vater war ein Deutscher und ist seit langen, langen Jahren tot. Er ist vor meines Vaters Augen in einen Abgrund gestürzt.«
»Und seine Leiche ist nie geborgen worden, weil er sich retten konnte. Mein Vater ist geborener Deutscher und hieß Heinrich Werkmeister. Erst als er bei seiner Verheiratung holländischer Staatsangehöriger wurde, übersetzte er seinen Namen in die holländische Sprache und nannte sich Hendrik Werkmeester.«
Waltraut presste die Hände an die Schläfen.
»Jan – Jan – das ist doch –, das ist so ungeheuerlich, so unfassbar, ich kann das nicht verstehen. Dein Vater – der Freund meines Vaters, den er so lange Jahre schmerzlich betrauert hat? Und Rudolf – Rudolf –, sein Sohn, ich fasse das nicht!«
»Lass dir alles erklären, Waltraut! Ich habe dir meines Vaters Tagebuch mitgebracht, es ist für mich geschrieben und für Rudolf, auch für deinen Vater. Und nun sollst auch du es lesen, Vater will es so, damit dir alles klar wird. Der Umstand, dass sich unsere Herzen in Liebe fanden, hat meinen Vater veranlasst, um unser aller Glück zu retten, das Geheimnis seiner Existenz zu lüften und mir seine Beichte schon bei Lebzeiten abzulegen. Er will deinen Vater wiedersehen, will endlich auch seinem Sohn Rudolf sagen dürfen, wie sehr er ihn liebt und wie schmerzlich es ihm war, für ihn als ein Toter zu gelten. Und vor allen Dingen will er deinem Vater Gelegenheit geben, sein Gelübde zu halten. Er gelobte, dich dem Sohn seines Freundes zur Frau zu geben – ich aber bin auch meines Vaters Sohn –, verstehst du nun, dass ich so voll Zuversicht bin?«
Waltraut war sehr blass geworden und drückte die Hände erregt zusammen.
»Ja – o ja –, jetzt verstehe ich, was dein Vater damit sagen wollte, dass wir uns angehören dürfen, ohne dass mein Vater sein Gelübde zu brechen braucht. Aber sonst verstehe ich nichts von alledem.«
»Wenn du Vaters Beichte gelesen hast, wirst du alles verstehen und wirst begreifen, was er für ein Opfer bringt, um seine Söhne glücklich zu machen. Denn mit meinem Glück steht auch das Rudolfs auf dem Spiel. Und das wird dich befähigen, ihn milde zu beurteilen; hier, nimm dies Tagebuch und lies es durch, ich lasse dich so lange allein. Es ist kurz und knapp gehalten, ausführlich nur da, wo es sein musste. Aber erschütternd ist es, von Anfang bis zum Ende. Die Qual eines ganzen Lebens liegt darin. Ich nehme dort drüben Platz, Liebling, bis du fertig bist, du brauchst mir dann nur einen Wink zu geben, dann bin ich wieder bei dir. Du sollst das Tagebuch ungestört durchlesen.«
Er küsste ihre Hand, legte ihr das Buch auf den Schoß und strich ihr liebevoll über die Wange. Dann ging er langsam davon und nahm etwas entfernt von ihr Platz.
Waltraut öffnete mit bebenden Händen Hendrik Werkmeesters Tagebuch und las und las, mit klopfendem Herzen und in tiefster Erregung. Alles wurde ihr nun klar, und die erschütternde Selbstanklage Hendrik Werkmeesters, all seine furchtbaren Nöte und Kümmernisse, die verzweifelte Sehnsucht nach seinem ältesten Sohne, die er nicht stillen durfte, weil er sich selbst aus der Reihe der Lebenden gestrichen hatte, das alles ließ nichts anderes als tiefstes Mitleid in ihr aufkommen. Und als sie fertig war, winkte sie Jan zu, der sie verstohlen mit tiefer Unruhe beobachtet hatte. Sie streckte ihm beide Hände entgegen, und heiße Tränen rannen über ihre Wangen.
»Jan, lieber Jan, dein armer Vater!«, sagte sie mit bebender Stimme.
Er setzte sich wieder zu ihr und küsste ihre Hände, immer wieder, mit großer Zärtlichkeit.
»Mein Liebling, mein gütiges, liebes Herz, wie danke ich dir, dass du solche Worte, solche Tränen für meinen Vater fandest.«
»Kann man denn anders, Jan, wenn man weiß, was er gelitten hat?«
In diesem Augenblick erschien Hendrik Werkmeester. Er sah auf die beiden jungen Menschen, sah sein Tagebuch in Waltrauts Händen und wollte stumm davongehen. Aber da sprang Waltraut auf, warf sich an seine Brust und küsste ihn innig auf den Mund, während ihr noch immer die Tränen aus den Augen stürzten. Das war das erste Mal, dass sie eine solche Liebkosung für den alten Herrn hatte.
Er stand erschüttert, kämpfte heldenhaft gegen die Rührung, die in ihm aufstieg, und sagte leise, mit unterdrückter Erregung:
»Mein Töchterchen! Willst du nun noch immer mein Töchterchen werden, nun, da du alles weißt?«
Sie sah mit feuchten Augen zu ihm auf.
»Du bist meines Jans Vater, und ich weiß nun, weshalb du immer so düster und still warst. Du bist nun meinem Herzen noch viel nähergekommen, ich habe dich lieb, nicht nur, weil du Jans Vater bist, sondern auch, weil du so viel Schmerzen tragen musstest. Was du gefehlt hast, tatest du aus deiner großen Liebe für Rudolfs arme Mutter.«
Er drückte sie an sich und sah tief bewegt zu seinem Sohn hinüber, der auch mit seiner Rührung kämpfen musste.
»Wie macht ihr mir meine Buße so leicht! Gottes Segen über euch beide, meine lieben Kinder. Jan, du bekommst einen warmherzigen, goldenen Menschen zur Frau! Und du, mein Töchterchen, wirst du mir eine Fürsprecherin sein bei meinem Sohn Rudolf? Dann wird auch er mir verzeihen.«
Sie konnte nun wieder lächeln.
»Gib Rudolf dein Tagebuch, lieber Vater, dann brauchst du keinen Fürsprecher, und Rudolf wird dir seine Liebe und Verzeihung nicht versagen, dafür kenne ich ihn.«
Sie setzten sich nun zusammen, es war inzwischen lebhafter auf Deck geworden, aber sie achteten nicht darauf. Die drei Menschen saßen so ganz mit sich allein beschäftigt, dass sie für nichts Sinn und Aufmerksamkeit hatten.
Von diesem Tage an war Waltrauts Verhältnis zu Jan und seinem Vater noch viel inniger geworden. Alle drei wetteiferten miteinander, sich etwas zuliebe zu tun. Jan fand bald seine gute Laune wieder und ließ es nicht zu, dass die weichmütige Stimmung lange anhielt. Immer wieder brachte er Waltraut zum Lachen und nötigte auch seinem Vater immer wieder ein befreites Lächeln ab.
Es war eine wundervolle Reise für alle drei, die ihnen zeit ihres Lebens als ein herrliches Erlebnis im Gedächtnis blieb.
Eifrig berieten sie immer wieder, was nach ihrer Ankunft in Hamburg geschehen sollte.
Waltraut glaubte fest, dass entweder ihr Vater oder Rudolf sie in Bremerhaven von Bord abholen würde, und es wurde beschlossen, dass Waltraut sich dann den Anschein geben solle, als sei sie allein angekommen. Die beiden Herren wollten sich von ihr zurückhalten, und zwar mit demselben Zuge nach Hamburg fahren, aber nicht mit Waltraut zusammen im Kupee. In Hamburg wollten die Herren in den »Vier Jahreszeiten« Wohnung nehmen. Waltraut sollte vermeiden, mit ihrem Vater über die ganze Angelegenheit zu reden. Falls er selber davon anfing, sollte sie ihn bitten, ihr einige Tage Zeit zu lassen. Schon am andern Morgen wollte dann zuerst Jan Georg Roland aufsuchen und alles in die Wege leiten.
Und so geschah es auch.
Georg Roland holte wirklich seine Tochter vom Dampfer ab. Vater und Tochter umarmten sich herzlich, und Georg Roland hatte keine Zeit, sich die anderen Passagiere anzusehen, zumal sich die beiden Herren vorsichtig zurückhielten.
Ohne auf die eigentliche Frage zu kommen, fuhren Vater und Tochter nach Hamburg. In Hamburg auf dem Bahnhof wurden sie von Rudolf erwartet. Weder Rudolf noch sein Pflegevater merkten, dass sie von zwei Herren aufmerksam beobachtet wurden, die sich aber in nötiger Entfernung hielten. Nur Waltraut wusste es und warf einen verstohlenen Blick auf Jan und seinen Vater, die sich in der Menge verloren.
Zu Hause angekommen, nahm Waltraut mit ihrem Vater und Rudolf das Abendessen ein. Auch jetzt wurde nur von gleichgültigen Dingen geredet. Waltraut merkte aber, dass der Vater verhinderte, dass sie mit Rudolf auch nur kurze Zeit allein blieb. Aber Rudolfs Händedruck, sein beruhigender Blick sagten ihr, dass sie auf ihn rechnen konnte. Sie zog sich, Müdigkeit vorschützend, sehr zeitig auf ihr Zimmer zurück und fand auf ihrem Toilettentisch einen Brief von Rudolf mit folgendem Inhalt:
»Meine liebe, liebe Schwester! Es steht zu befürchten, dass Vater uns eine Aussprache unter vier Augen unmöglich machen wird, bevor er nicht mit uns die brennende Frage erörtert hat. Deshalb muss ich Dir auf diesem Wege das Nötigste mitteilen. Sei ganz unbesorgt, obwohl Vater von unserer Entlobung nichts wissen will, obwohl er mir das Wort abgeschnitten hat, als ich nochmals auf die Angelegenheit zurückkommen wollte, sodass ich ihm noch nicht einmal sagen konnte, dass auch mein Herz inzwischen eine andere Wahl getroffen hat, werde ich die Angelegenheit in kurzer Zeit zu einem für Dich günstigen Ende bringen. Ich werde mich einfach mit Lore Lenz trauen lassen, ohne Vater vorher etwas davon zu sagen. So wird er vor eine vollendete Tatsache gestellt. Ich werde schon morgen oder übermorgen unser Aufgebot bestellen und Vater erst beichten, wenn wir verheiratet sind. So wird all sein Groll auf mich gelenkt, und Du wirst keine Unannehmlichkeiten und Kämpfe mehr haben. Sollte Vater also mit Dir über diese Angelegenheit reden wollen, so wehre dich nicht gegen seinen Willen, bitte Dir nur einige Wochen Bedenkzeit aus. Alles andere überlasse mir, und sei ganz unbesorgt. Erhalte mir Deine schwesterliche Liebe, was auch kommen mag, und nimm meine Lore schwesterlich an Dein Herz. Ihr müsst Euch bald kennenlernen. Alles andere später. In brüderlicher Treue!
Rudolf.«
Mit einem gerührten Lächeln sah Waltraut auf seinen Brief hinab. Guter, lieber Rudolf, er wollte für sie in die Schanze springen und alle Pfeile mit seiner eigenen Brust auffangen, wollte allen Groll des Vaters auf sich lenken, um ihr gründlich zu helfen. Das sah ihm ähnlich. Sie schrieb sogleich mit fliegender Hand:
»Mein lieber, lieber Bruder! Es wird alles anders kommen, als Du denkst, Du wirst Dich nicht für mich zu opfern brauchen, und ich hoffe, dass ich mit Vaters Erlaubnis auf Deiner Hochzeit tanzen kann. Heute nur so viel: Wappne Dich, mein lieber Bruder, Dir steht eine große Überraschung, eine große Freude, aber auch eine große Erregung bevor. Weiter darf ich Dir nichts verraten. Morgen um diese Zeit wird wohl schon alles entschieden sein, und hoffentlich zu unseren Gunsten. Ich kam nicht allein von Ceylon, der Mann, den ich liebe, und sein Vater begleiteten mich und werden morgen Vater aufsuchen. Unternimm also vorläufig noch nichts, aber tausend Dank für Deine gute Absicht, Dich für mich zu opfern. Es wird nicht nötig sein. Grüße mir Deine Lore! Einen schwesterlichen Kuss von Deiner Schwester Waltraut.«
Dieses Briefchen faltete Waltraut eng zusammen und verließ leise damit ihr Zimmer. Sie huschte auf dem dicken Teppichläufer zu der anderen Seite des Hauses, wo Rudolfs Schlafzimmer lag, und klopfte leise in einer besonderen Art an seine Tür, wie sie früher immer geklopft hatte, wenn sie eine Verabredung hatten und einander mitteilen wollten, dass sie fertig seien. Rudolf hörte das Klopfen und öffnete schnell und leise. Waltraut schob ihm stumm den Brief in die Hand und legte den Finger auf die Lippen. Dann eilte sie wieder davon.
Rudolf schloss die Tür hinter sich und las, was ihm Waltraut geschrieben hatte. Besorgt schüttelte er den Kopf. Würde das gut gehen? Waltraut schien aber so zuversichtlich. Was meinte sie mit der großen Überraschung und Freude, die ihm mit einer großen Erregung bevorstehen sollte?
Er zerbrach sich darüber den Kopf, ohne zu einem Resultat zu kommen.
Am anderen Morgen traf Waltraut mit dem Vater und Rudolf im Frühstückszimmer zusammen, und es war, als sei sie gar nicht fort gewesen. Alles ging im alten Gange, und der Vater berührte mit keinem Wort Waltrauts Reise und was damit zusammenhing. Es war, als wolle er alles totschweigen. Natürlich sprach auch Waltraut nicht davon. Rudolf erhob sich dann zuerst, um noch einmal auf sein Zimmer zu gehen. Der Vater und Waltraut blieben allein. Endlich erhob sich Georg Roland und trat zu Waltraut heran, hob ihr Köpfchen empor und sah sie mit einem bekümmerten Blick an.
»Wir wollen gar nicht mehr davon sprechen, mein Kind, was du an Rudolf geschrieben hast. Das wollen wir nur als eine Verirrung ansehen. Ich lasse dir Zeit, damit fertigzuwerden, einige Wochen sollst du ganz unbehelligt bleiben, aber dann hoffe ich von dir zu hören, dass du deinen Vater nicht in die Notwendigkeit versetzen wirst, sein Gelübde zu brechen, dass er in schwerer Herzensnot abgelegt hat. Ich gelobte, dich dem Sohne meines Freundes Heinrich Werkmeister zur Gattin zu geben – vergiss das nicht, mein Kind.«
Sie sah ihn mit feuchten Augen an, sah, wie er litt, und ahnte, warum er dies Gelübde getan; denn Hendrik Werkmeester hatte ihr das Verständnis dafür erschlossen. Sie fasste seine Hand und drückte ihre Lippen darauf.
»Lass mir Zeit, lieber Vater, und sorge dich nicht, es wird alles gut werden, ich will dich gewiss nicht betrüben«, sagte sie.
Er atmete erleichtert auf und nickte ihr zu, schon ganz überzeugt, dass sie sich fügen würde. Bedeutend leichteren Herzens ging er hinaus, im Vestibül mit Rudolf zusammentreffend. Sie fuhren nun beide ins Geschäft und sprachen unterwegs nur über geschäftliche Dinge. Im Geschäft angekommen, begaben sie sich jeder in sein Kontor. Als Georg Roland durch sein Vorzimmer ging, sah er Lore Lenz schon an ihrem Platze.
»Guten Morgen, Fräulein Lenz!«
»Guten Morgen, Herr Roland.«
»Meine Tochter ist gestern angekommen.«
Mit warmer Teilnahme sah sie zu ihm auf.
»Das wird eine große Freude für Sie sein, Herr Roland.«
Er nickte ihr zu.
»Nun hoffe ich, Sie bald einmal in meinem Hause zu sehen; wenn meine Tochter in den nächsten Tagen hierherkommt, werde ich Sie mit ihr bekanntmachen.«
Ein leiser, beklommener Seufzer entfloh Lores Lippen.
»Das wird mir eine große Ehre und Freude sein.«
Er nickte ihr nochmals zu und sagte, sein Kontor betretend:
»Wenn ich Sie brauche, werde ich klingeln.«
Lore sah einen Moment hinter ihm her und seufzte wieder, diesmal tief und schwer.
Bald darauf kam Rudolf, wie jeden Morgen, um mit seinem Vater die Posteingänge zu besprechen. Er legte ihr den gestern Abend von Waltraut erhaltenen Brief auf den Schreibtisch.
»Zu deiner Orientierung, Lore! Vorläufig unternehmen wir also noch nichts. Ich schreibe dir noch heute. Hast du mich lieb?«
»Du weißt es, von ganzem Herzen, Rudolf!«
»Bald sollst du von aller Heimlichkeit erlöst werden, ich weiß, du leidest darunter. Sei tapfer!«, flüsterte er ihr zu.
Mit ihrem lieben, vertrauenden Blick sah sie ihn an.
Er ging zu seinem Vater hinein und besprach mit ihm die Post. Als er den Vater verließ und gerade wieder durch das Vorzimmer ging, trat der Kontordiener ein:
»Herr Werkmeister, es ist ein Herr im Wartezimmer, der Herrn Roland in einer wichtigen Angelegenheit sprechen möchte. Wird Herr Roland jetzt zu sprechen sein?«
Rudolf ahnte, wer der Besucher sei.
»Hat der Herr seine Karte abgegeben?«
»Ja«, erwiderte der Diener und reichte Rudolf eine Visitenkarte. Dieser sah darauf nieder.
»Jan Werkmeester.«
Mit einem seltsamen Gefühl sah Rudolf auf diese Karte hinab.
»Ich werde meinem Vater den Besuch gleich selbst melden, warten Sie einen Augenblick.«
Rudolf ging wieder zu seinem Vater hinein.
»Vater, es wünscht dich jemand in dringender Angelegenheit sofort zu sprechen. Darf ich den Herrn hereinführen lassen?«
»Was will er denn?«, fragte Georg Roland, nicht sehr begeistert aufsehend.
»Es muss sehr dringend sein – hier ist seine Karte.«
Und er legte Jans Karte vor den Vater hin.
Der las, stutzte und sah verwirrt zu Rudolf auf.
»Jan Werkmeester? Das ist doch der Holländer, der in Schlüters Hause verkehrte.«
»Scheint so, Vater!«
»Ich bin nicht zu sprechen«, stieß der alte Herr erregt hervor.
Rudolf sah ihn bittend an.
»Es ist doch wohl besser, Vater, wenn du ihn anhörst, das muss doch schließlich geschehen.«
Der alte Herr zog die Stirn nervös zusammen und sah Rudolf unruhig forschend an.
»Was will er denn? Das ist doch verdächtig. Wie kommt der plötzlich hierher, so zu gleicher Zeit mit Waltraut? Du kannst dich darauf verlassen, das ist der Mensch, in den sich Waltraut verliebt hat. Er soll sich nach Ceylon zurückscheren und meine Tochter ungeschoren lassen und mich auch.«
»Es ist aber doch auf alle Fälle besser, Vater, wenn du ihn anhörst, dann wirst du wenigstens klarsehen können.«
Eine Weile überlegte der alte Herr, dann richtete er sich entschlossen auf.
»Gut, du hast recht. Ich werde ihm den Standpunkt gehörig klarmachen. Lass ihn herein. Aber bitte, lass draußen die Doppeltür schließen, damit Fräulein Lenz nicht hört, wenn wir hier etwas laut werden.«
Rudolf legte beschwörend die Hand auf seinen Arm.
»Ich bitte dich um Ruhe und Mäßigung, in deinem eigenen Interesse.«
Georg Roland biss die Zähne zusammen. Dann sagte er mit verhaltener Erregung:
»Ruhig soll man bleiben, wenn man so viel Aufregung hat? Aber ich werde mich beherrschen, so gut es gehen will.«
»Soll ich nicht bei dir bleiben, wenigstens draußen im Vorzimmer?«
»Nein, nein, wenn ich dich brauchen sollte, bist du ja schnell herbeigerufen. Ich gedenke, mit diesem Mijnheer Werkmeester schnell fertigzuwerden. Also geh und lasse ihn hereinführen.«
Rudolf ging hinaus und gab dem Diener Weisung. Dann beugte er sich zu Lore hinab.
»Lore, der Herr, der jetzt zu meinem Vater gerufen wird, ist der Mann, den meine Schwester liebt und dem wir demzufolge unser Glück mit verdanken, sieh ihn dir genau an. Und wenn er drinnen ist, bei meinem Vater, schließe bitte die Doppeltüren.«
Lore war ein wenig blass geworden und nickte ihm zu. Rudolf ging nun schnell davon.