Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 25
Auf falschem Boden
ОглавлениеAufatmend legte Sven Andersen sein Werkzeug hin. Mit leuchtendem Blick sah er auf das eben vollendete Werk, das unter seinen Händen aus einem Marmorblock entstanden war. Er warf ein Leinentuch über die lebensgroße Gestalt und trat zu einem der hohen Fenster, durch das klares, helles Mondlicht in sein Atelier drang.
Mit tiefen Zügen sog er die würzige Luft ein. Vor seinen Augen lag ein schöner alter Garten, aus dem lustiges Zwitschern an Andersens Ohr tönte. Am Ende des Gartens, seinem Atelier gegenüber, stand eine hübsche kleine Villa mit einem großen Glasausbau nach der Seite. Dieser Ausbau verriet, dass er gleichen Zwecken diente wie der Raum, in dem sich Andersen befand.
Es war die Wohnung seines Lehrers und Meisters. Professor Rasmussen lebte seit Jahren mit seiner einzigen Tochter Hella in dieser Villa, und Sven Andersen hatte mit Freuden zugegriffen, als vor vier Jahren das kleine Gartenhaus frei wurde. Der Raum im Parterre mit den großen Fenstern wurde sein Atelier, daran stieß eine kleine Kammer, in der allerlei Kram aufbewahrt werden konnte, und ein schmaler Raum, in dem Andersens Diener wohnte und schlief.
Diesen Diener, August Brösselt, hatte der junge Künstler zu sich genommen, weil er im Elend zu verkommen drohte.
Brösselt war hässlich, hatte schiefe Schultern und einen zu großen Kopf. Niemand hatte ihm Beschäftigung geben wollen. Sven Andersen aber hatte Mitleid mit ihm, nahm ihn zu sich, und Brösselt bekleidete nun in einer Person das Amt eines Dieners, Kochs und guten Hausgeistes. Für seinen Herrn hegte er unbegrenzte Dankbarkeit und Verehrung.
Während Andersen am Fenster stand, trat Brösselt ein.
Andersen wandte sich nach ihm um. „Was gibt es, Brösselt?“, fragte er freundlich.
„Ich habe Ihnen ein Bad zurechtgemacht, auch der Kaffee wird gleich fertig sein. Sie müssen sich ein bisschen auffrischen. Der Herr Professor und das gnädige Fräulein wollen gleich nach dem Frühstück herüberkommen.“
Svens Gesicht bekam einen freudigen Ausdruck. „Waren die Herrschaften schon auf?“
„Jawohl, der Herr Professor war schon in seinem Atelier, und das gnädige Fräulein rief ihn gerade zum Frühstück, als ich Ihren Auftrag ausrichtete.“
„Dann räumen Sie schnell hier auf, Brösselt! Wenn der Kaffee fertig ist, bringen Sie ihn nur hinauf.“
Andersen badete und frühstückte, dann ging er wieder in sein Atelier. Auf der Treppe schon kam ihm Brösselt entgegen. „Die Herrschaften kommen!“, meldete er.
Der junge Künstler sah, unten angelangt, durch das offene Fenster in den Garten hinaus. Da kam ein hoch gewachsener Herr mit grauem Vollbart auf dem schmalen Fußweg herangeschritten. Er trug eine Lodenjoppe und einen großen Strohhut. An seiner Seite ging eine junge Dame in einem schlichten weißen Sportkleid, das in anmutigen Falten die reizende Gestalt umfloss.
Auf ihrem lieblichen Gesicht ruhte Sven Andersens Blick mit heißer Innigkeit. Er trat in den Hintergrund des Ateliers, so dass er die Kommenden betrachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
Das Herz klopfte ihm stürmisch in der Brust, als er mit brennenden Augen dem Meister und seiner Tochter entgegensah.
Vor zehn Jahren hatte Professor Rasmussen den jungen Künstler von einer Nordlandreise mit nach Berlin gebracht. Andersen war der Sohn eines schwedischen Bauern, und Rasmussen war durch Zufall auf sein hervorragendes Talent aufmerksam gemacht worden. Kurz entschlossen nahm er ihn mit, und in seiner Schule entfaltete sich das Talent Andersens zu ungeahnter Größe.
Rasmussens Gattin schliff mit zarter Hand die Ecken ab, die den etwas ungelenkten Bauernsohn in Gesellschaft oft anstoßen ließen. Ihr einziges Töchterchen Hella, das damals zehn Jahre alt war, schloss schnell Freundschaft mit dem jungen Mann. Das lustige Kind mit dem langen goldigen Haar erschien ihm wie eine Märchengestalt.
Seine an Schwermut grenzende verschlossene Art flog vor ihrem kindlichen Frohsinn davon wie Schatten von der Sonne. Wenn sie mit ihm scherzte und lachte, konnte er ausgelassen fröhlich sein. Sie betrachtete ihn bald als eine Art großen Bruder, verfügte über ihn mit lächelnder Selbstverständlichkeit und schwärmte gemeinsam mit ihm für den geliebten Vater.
Als nach zwei Jahren Frau Professor Rasmussen starb, war es Sven, der die rechten Worte der Tröstung für das betrübte Kind fand.
Sven betrachtete die kleine Hella wie ein Wesen höherer Art. Er ließ sich von ihr tyrannisieren oder verwöhnen, wie es ihr gerade die Laune eingab, und je älter sie beide wurden, desto tiefer wuchs das blonde Mädchen mit seinem innersten Sein zusammen.
Unmerklich entstand aus diesem Gefühl eine tiefe, heiße Liebe. Er wagte es aber nicht, dieses entzückende Geschöpft mit begehrlichen Gedanken zu streifen, er hatte sich seine naive Bescheidenheit auch dann bewahrt, als schon der Erfolg neben ihm stand.
Rasmussen betrat mit seiner Tochter Andersens Atelier.
„Guten Morgen, Sven, da sind wir, um uns an Ihrem neuesten Werk zu erfreuen.“
Er schüttelte dem jungen Mann herzlich die Hand, und Sven sprach seine Freude aus über das frühe Kommen seiner Gäste.
„Aber Sven, glauben Sie denn, wir hätten es vor Unruhe drüben ausgehalten, wenn wir wissen, da im Gartenhäuschen steht fertig ein neuer Andersen? Wir haben uns kaum Zeit genommen zum Frühstücken. Und nun spannen Sie uns nicht lange auf die Folter! Sie haben Ihre neueste Schöpfung so geheimnisvoll geschaffen – ich bin voll Erwartung“, rief Hella.
Andersen trat an das verhüllte Werk und nahm langsam die Leinenhülle herab. Seine Augen suchten das Gesicht seines Meisters, um darin das Urteil zu lesen, ehe der Mund es verkündete.
Voll und klar fiel das Licht auf das Marmorgebilde.
Eine prachtvolle Männergestalt hatte sich leicht über einen Spaten geneigt, mit dem sie in steiniges Erdreich stach, um eine verkümmerte Pflanze auszuheben, die traurig die Blätter sinken ließ. „Auf falschem Boden“, nannte Sven dieses Werk. Der Vorgang war einfach und leicht verständlich. Ein Gärtner, der ein verkümmertes Pflänzchen in fruchtbares Erdreich pflanzen will, damit es besser gedeihen soll. Aber wie wunderbar war diese Aufgabe gelöst! Der Körper des Mannes schien Leben zu haben, so treu war er der Natur nachgebildet. Der Kopf mit den seltsam sinnenden Zügen hatte entschieden Ähnlichkeit mit dem Antlitz Rasmussens. Genau dieser Ausdruck lag oft in seinen Augen.
Jetzt leuchteten sie freilich in heller Freude. Er erkannte sofort die Ähnlichkeit mit sich selbst, erfasste auch den Gedanken, der dem Werk zugrunde lag. Nicht ohne Absicht hatte es Sven von Anfang an vor seinen Augen verborgen. Es sollte fertig vor ihm stehen, ein Zeichen tiefster Dankbarkeit, dass er, der Gärtner, den jungen Mann aus dem ungünstigsten Boden seiner Heimat in fruchtbares Erdreich verpflanzt hatte. „Auf falschem Boden“ hatte auch Sven Andersen gestanden, ehe ihn Fritz Rasmussen mit sicherem Blick und geschickter Hand dahin verpflanzte, wo sein Talent sich zur höchsten Blüte entfalten konnte.
Lange und eingehend betrachtete Fritz Rasmussen das Werk. Endlich sagte er: „Das mache ich Ihnen nicht nach, lieber Sven. Sie haben Ihren alten Lehrer weit überflügelt. Hier kann ich nur rückhaltlos bewundern.“
Er schüttelte Sven noch einmal die Hand.
Sven trat zu Hella. Er sah, dass ihre Augen feucht waren.
„Lieber Sven, Papa hat Ihnen seine Meinung gesagt, und mir bleibt nur übrig, zuzustimmen. Aber dass Sie wieder die ganze Nacht gearbeitet haben, ist nicht recht von Ihnen. Sie werden sich noch aufreiben.“
Er schüttelte lächelnd den Kopf und streckte mit kraftvollem Ruck beide Arme von sich. „Das hat keine Gefahr, Hella, das zähe schwedische Bauernblut in mir lässt sich nicht so leicht unterkriegen.“ „Trotzdem ist es gut, dass wir jetzt für einige Wochen an die See gehen zur Erholung. Und heute dürfen Sie nichts mehr tun. Sie essen mit uns zu Mittag und begleiten uns dann. Papa und ich wollen heute einen richtigen Bummeltag machen.“
„Daran beteilige ich mich natürlich gern.“
„Ist auch Ihre Pflicht, Sven. Aber nun Ade einstweilen! Ich erwarte Sie mit Papa nachher drüben.“
Damit verabschiedete sie sich von den beiden Herren und ging durch den Garten nach der Villa zurück. In der Küche traf sie eine kleine rundliche Frau mit glatten grau melierten Haaren und freundlichem, frischem Gesicht.
„Liebentrutchen, Sie müssen ein paar Erbsen mehr in den Topf tun. Herr Andersen soll heute Mittag mit uns essen“, sagte Hella und legte ihre Hand vertraulich auf die Schulter der alten Frau.
Frau Liebentrut nickte. „Wird besorgt, Fräulein Hellachen, wird besorgt.“
„Soll ich ein wenig mithelfen, oder schaffen Sie’s allein?“
„Wegen dem einen Gast brauchen Sie die Fingerchen nicht erst schmutzig zu machen. Wenn Anna mit den Zimmern fertig ist, kann sie in die Küche kommen und einen Pudding einrühren; wir müssen doch wenigstens eine süße Speise zum Nachtisch geben.“
„Hm, das ist das wenigste. Es soll ein bisschen festlich werden heute zur Feier des Tages.“
„Wieso Feier des Tages? Hat Herr Andersen Geburtstag? Ach nein, der ist ja erst im Oktober. Was ist denn los, Fräulein Hellachen?“
„Ein neues Werk hat er fertig.“
„Ach so. Ist es denn wieder so eine Frau, eine…“
„Nein, diesmal ist es ein Mann, Liebentrutchen“, erwiderte Hella lachend.
„Hat denn wenigstens der ’nen vernünftigen Rock an?“
„Natürlich.“
„Na, natürlich finde ich das nun gerade nicht. Ich weiß gar nicht, warum der Herr Andersen und auch der Herr Professor die Menschen immer so – so ohne was an machen. Als ob jemand so herumliefe! Bei den Wilden mag das wohl sein, aber bei uns doch gottlob nicht!“
„Liebentrutchen, das verstehen Sie nicht. Der Künstler soll die Schönheit der Natur wiedergeben, wie sie aus des Schöpfers Hand hervorgeht, und nicht die Kleider, die der Schneider herstellt und die oft den menschlichen Körper entstellen.“
„Na ja, na ja, das haben Sie mir schon oft erklärt. Aber ich kann mich nun einmal nicht daran gewöhnen.“
„Armes Liebentrutchen! Und Sie muss das Schicksal nun ausgerechnet in das Haus eines Bildhauers verschlagen.“
„Spotten Sie nur, Fräulein Hellachen. Als ich vor acht Jahren hier herkam, um dem Professor den Haushalt zu führen, da war ich nicht wenig erschrocken, als ich drüben im Atelier all die weißen Gestalten an den Wänden stehen sah. Je, der Schreck, den vergess ich nie! Na, aber fort bin ich doch nicht wieder gegangen, denn der Herr Professor ist ja bis auf die Steinbilder sehr gut, und Sie, Hellachen, Sie waren ein liebes Dingelchen und taten mir so Leid, weil Sie ihre Mutter gerade verloren hatten. Na, da bin ich dann geblieben und hab mich an die Kunst gewöhnt.“ Hella streichelte ihr zärtlich die faltigen Wangen. „So geht es, Liebentrutchen. Wer die Kunst fassen und halten möchte, dem läuft sie manchmal davon, und wer ihr ausweicht, dem hängt sie sich an. Aber nun wollen wir uns nicht länger verplaudern, sonst wird das Essen nicht zur Zeit fertig.“
Als Hella hinausgegangen war, seufzte Frau Liebentrut tief auf. „Das Kind wächst unter den beiden Männern auf wie eine Heide. Es ist ein wahres Wunder, dass sie so brav und lieb ist. Freilich, wenn ich nicht wäre…“
***
Die beiden Badefrauen mit den hellen Kopftüchern und den großen weißen Schürzen standen an der geöffneten Tür der Holzhütte, die das Ende des Badestegs bildete. Von dieser Tür führte eine schmale Holztreppe in das Wasser hinab. Die See flimmerte und glitzerte in der heißen Mittagssonne. Träg wälzten sich die Wellen heran und klatschten an die Treppe und die eingerammten Pfähle, auf denen der Badesteg und die Ankleidekabinen ruhten.
Der durch Holzpflöcke und starke Taue abgegrenzte Teil leerte sich mehr und mehr. Endlich stiegen auch die letzten herauf, ließen sich die Bademäntel umlegen und warfen die nassen Anzüge ab.
Nur eine machte noch keine Anstalten, sich von dem nassen Element zu trennen. Sie schwamm unter dem abgrenzenden Tau hinweg mit weit ausholenden Stößen in die offene See hinaus.
Die eine der Badefrauen, eine mürrisch aussehende Alte, deren Gesicht wie Bronze unter dem hellen Kopftuch wirkte, setzte die Pfeife an den Mund und ließ einen gellenden Ton über das Wasser schallen, um die Schwimmerin zur Umkehr zu bewegen. Er verfehlte aber seinen Zweck vollständig.
Die Dame schwamm im ruhigem, gleichmäßigem Tempo immer weiter hinaus, der Sandbank zu, die sich wie ein hellgelber Streifen aus dem grüngrauen Wasser erhob. Wieder ein Pfiff – noch einer. Ohne Erfolg.
Die Alte schimpfte grimmig vor sich hin, während die zweite Badefrau die nassen Badeanzüge zum Trocknen über die hölzerne Brüstung des Badestegs hängte. Dann wandte sie sich ihrer Kollegin zu.
„Lass sie doch schwimmen! Die lässt nicht nach, bis sie auf der Sandbank steht. Nachher kommt sie von selber wieder.“
Die andere drehte sich ärgerlich um. „Wenn aber nun was passiert! Unsereins ist dann immer schuld. So ’ne Unvernunft!“
Drüben auf der Sandbank stand indessen die einsame Schwimmerin und winkte mutwillig mit den Händen herüber. Die Sonne schien grell auf die gelbe Badehaube und das lichtblaue Kostüm.
Wieder ertönte ein lang gezogener Pfiff.
Ein jauchzender Ruf scholl als Antwort herüber. Dann spritzte das Wasser empor, und von der Dame war nur noch der Kopf mit der gelben Haube zu sehen. Er bewegte sich jetzt dem Land zu, und es dauerte nicht lange, dann landete sie an der schmalen Holztreppe.
Die Alte stand, jetzt ganz Sanftmut und Liebenswürdigkeit, mit dem Bademantel bereit und sah erwartungsvoll in das lachende Gesicht Hella Rasmussens.
Schnell stieg die jugendschöne Erscheinung aus den Fluten empor und riss mit raschem Griff die Badehaube vom Kopf.
Die Frau legte ihr den Mantel um die zarten Schultern und konnte es nicht unterlassen, einen wohlgefälligen Blick auf die herrliche Gestalt zu werfen. „Hören Sie, Fräulein, so weit dürfen Sie aber nicht wieder hinausschwimmen. Das ist gegen die Verordnung“, sagte sie.
Hella lachte fröhlich auf. „Nicht zanken an solch einem schönen Tag! Es war gar zu herrlich im Wasser, und die See ist ja ganz still! Um mich brauchen Sie sich nicht zu sorgen, ich wage mich nicht weiter, als es meine Kräfte erlauben.“
Sie sprang leichtfüßig über den langen Bastläufer, der den Steg bedeckte, und verschwand in ihrer Kabine.
Nach kaum zehn Minuten trat sie angekleidet wieder heraus, reichte den Badefrauen ein Trinkgeld und lief mit schnellen Schritten über die schmalen Laufbretter am Strand entlang. Es war schon fast menschenleer um sie her, da die Mittagszeit herangekommen war. Die Strandhütten waren alle verlassen, bis auf eine, in der Professor Rasmussen mit Sven saß, um auf Hella zu warten.
„Nun, ihr seid doch nicht etwa eingeschlafen?“, rief Hella. „Es ist ja unheimlich still in eurem Zelt!“
Rasmussen drehte sich nach ihr um. „Ein Wunder wäre das nicht, du Wasserratte. Sven und ich sind schon über eine Stunde fertig und warten hier in der Sonnenglut auf dich. Und Hunger haben wir auch.“
„Armer Papa, armer Sven! Seid nicht bös, es war so einzig schön heut im Wasser! Aber nun schnell nach Hause, damit ihr zu eurem Recht kommt! Sven, helfen Sie mir, Papa fortbringen, er sieht ja schon ganz schwach aus vor Hunger.“
„Mach dich auch noch lustig über uns! – So halten Sie ihr doch auch eine Strafpredigt, Sven!“
Andersen hatte seinen Blick weltvergessen auf dem reizenden Mädchen ruhen lassen. Jetzt richtete er sich aus seiner Versunkenheit auf und sagte lächelnd: „Ich habe gern gewartet. Wenn es Ihnen nur gefallen hat, Hella.“
Die junge Dame schob ihren Arm in den des Vaters. „Deine Hilfstruppen sind auf meiner Seite, Papa.“ „Das hätte ich voraussehen können, Sven, ist ja immer auf deiner Seite.“
„Aus Überzeugung und angeborener Galanterie. Nicht wahr, Sven?“
„Gewiss“, bestätigte er lächelnd.
Die drei schritten nebeneinander her.
In der Waldstraße hatten sie eine nette Pension gefunden. Hella bewohnte mit ihrem Vater im Parterre zwei freundliche Zimmer, die durch eine breite Veranda verbunden waren, während Svens Zimmer im ersten Stock lag.
Nach Tisch, als sie mit ihrem Vater allein war, sagte Hella lächelnd zu ihm: „Weißt du, Papa, Sven ist doch ein guter Mensch, er brächte es nie fertig, mir ein einziges böses Wort zu sagen.“ Sie sah dabei mit den schönen klaren Augen zu Rasmussen auf. Es waren merkwürdige Augen, blau und tief wie ein Bergsee und dabei offen und frisch.
Rasmussen blickte ernst in diese blauen Sterne. „Du hast Recht, Hella, Sven ist ein guter Mensch, und dir könnte er schon gar nicht weh tun. Er hat dich lieb.“
„Ich ihn auch, Papa, ich könnte ihn nicht lieber haben, wenn er mein Bruder wäre.“
Rasmussen strich ihr sinnend über das Haar. Er hegte tief in seinem Herzen schon seit langer Zeit einen Lieblingswunsch. Es wäre ihm eine innige Freude gewesen, wenn Sven und Hella, seine beiden liebsten Menschen, sich eines Tages fürs ganze Leben zusammenfinden wollten. Dass von Svens Seite diesem Wunsch nichts entgegenstand, hatte er schon längst erkannt. Ebenso sicher wusste er aber auch, dass Hellas Herz noch unberührt geblieben war und dass sie Sven gegenüber ganz unbefangen fühlte. In ihrem Herzen nahm er eben die Stelle eines Bruders ein, sie dachte gar nicht daran, dass es anders sein könnte.
Und ihr Vater wusste, dass es nicht ratsam war, diese Unbefangenheit zu stören. Erwachte ihr Herz eines Tages und wandte sich Sven zu, dann würde er glücklich sein und wissen, dass sein Kind an dem treuesten, edelsten Herzen geborgen war. Sprach es aber für einen anderen, so würde er sich darin fügen müssen. Frei sollte sie wählen dürfen, unbeeinflusst durch seine Wünsche.
Da klopfte es an die Tür. Sven öffnete sie gleich darauf und sah ins Zimmer hinein. „Kommen Sie mit in den Wald, Hella, oder ziehen Sie es vor, zu Hause Siesta zu halten?“, fragte er.
„Natürlich komme ich mit, Sven. Solange Papa sein Mittagsschläfchen hält, ist es doch gräulich langweilig hier – gleich bin ich bereit.“
Sie ging in ihr Zimmer hinüber. „Wann sollen wir zurück sein, Herr Professor?“
Rasmussen sah nach der Uhr. „Jetzt ist es gleich drei Uhr – sagen wir also um vier, dann wandern wir gemeinsam ins Forsthaus.“
„Schön, abgemacht.“
Hella trat, zum Ausgehen fertig, wieder ein. Sie küsste ihren Vater zum Abschied.
„Auf Wiedersehen, Papa, und gute Ruhe.“
„Um vier Uhr holt ihr mich also ab.“
Sie nickte ihm lächelnd zu und ging neben Sven davon.
Rasmussen sah den beiden nach, wie sie die Straße hinaufliefen und dann in den Wald einbogen.
Hella plauderte munter mit ihrem Begleiter. Es fiel ihr nicht auf, dass er nur wenig sprach. Sie war es gewöhnt, dass er meist schweigsam war, und achtete nicht darauf.
Sven sah mit eigenartigem, träumerischem Ausdruck auf seine reizende Begleiterin. Es war ihm eine tiefe Freude, sie neben sich zu haben, ihre weiche Stimme zu hören, ihre Nähe zu fühlen. Zuweilen zuckte ein glühendes Verlangen in ihm auf, ihr zu zeigen, wie es um ihn stand. Aber wenn dann ihre klaren Augen so unbefangen zu ihm aufsahen, drängte er dieses Verlangen immer wieder zurück. Nicht um die Welt hätte er sie erschrecken mögen. Und die Angst, dass sie ihn zurückweisen könnte und er dann auf das beglückende Zusammenleben mit ihr und ihrem Vater verzichten müsste, zwang ihn doppelt zur Ruhe und Vorsicht.
„Aber Sven, was machen Sie wieder für ein finsteres Gesicht!“, sagte Hella plötzlich. „Ihre Stirn gleicht einer dunklen Wetterwand, und um den Mund zuckt es wie Donner und Blitz. Warum sehen Sie nur immer so böse aus, Sven? Wer Sie nicht so gut kennt wie Papa und ich, hält Sie für einen hässlichen Werwolf.“
In seinem Gesicht zuckte es. Hässlich? Er wusste, dass er hässlich war, wenigstens in Hellas Augen. Und sie liebte nur das Schöne!
Um nur etwas zu erwidern, sagte er lächelnd: „Lassen Sie die Leute von mir denken, was sie Lust haben, Hella, mir liegt nichts dran! Wenn nur Sie den alten, hässlichen Sven ein wenig gern haben!“
Wenn sie nicht so völlig arglos gewesen wäre, hätte sie die atemlose Spannung bemerken müssen, die aus seinen Worten herausklang. So legte sie sinnend den Finger an das feine Näschen und sah ihn prüfend an. „Alt und hässlich? Lassen Sie mal sehen, Sven! Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Zweiunddreißig.“
„Hm, ein ehrwürdiges Alter – elf Jahre älter als ich. Alt stimmt also. Nun Punkt zwei: hässlich?“
Mit mutwilligem Ausdruck betrachtete sie eine Weile sein Gesicht.
„Nein, schön sind Sie nicht“, sagte sie endlich ehrlich. „Da Sie nicht eitel auf Ihr Äußeres sind, wird Sie das nicht weiter kränken. Ihre Stirn ist zu wuchtig, die Nase entschieden zu groß, der Mund zu streng. Viel zu streng und zu herb. Da kommt der ganze schwedische Bauerntrotz zum Ausdruck. Das Kinn ist zu breit, nein, ein Adonis sind Sie wirklich nicht, Sven, und wenn Ihre schönen grauen Augen nicht wären mit dem warmen, guten Ausdruck, dann stünde es noch schlimmer.“
Er seufzte tief auf, scheinbar scherzhaft, aber ihre Worte gingen ihm tiefer, als er sich den Anschein gab. „Also ein hoffnungsloser Fall“, sagte er leise.
Sie lachte herzlich. „Wie Sie das sagen! Ich glaube wahrhaftig, Sie sind eitler, als Sie sich den Anschein geben.“
„Sehr eitel. Ich gäbe viel darum, schön zu sein, so schön, dass Sie mir den ersten Preis zuerteilen.“
„Ach nein, bleiben Sie lieber wie Sie sind! Ich müsste mich an den schönen, neuen Sven erst wieder gewöhnen. Der alte hässliche ist mir lieb und vertraut seit meinen Kindertagen. – Aber um auf etwas anderes zu kommen: Haben Sie unseren neuen Hausgenossen schon gesehen? Heute Mittag ist er eingetroffen, ich sah ihn ankommen.“
„Ich bin ihm auf der Treppe begegnet, als ich herunterkam.“
„Haben Sie ihn angesehen?“
„Ja.“
„Ist er nicht bildschön? Ich war ganz entzückt von ihm. Schwarzes Haar, blaue Augen, ein klassisches Profil, schlank, elegant. Er war wundervoll anzusehen – wie eine Offenbarung der Schönheit. Das Herz ist mir aufgegangen bei seinem Anblick. Ach, Sven, von allen schönen Dingen auf der Welt ist doch ein schöner Mensch das herrlichste.“
„Wenn sich eine schöne Seele dazugesellt – sicher.“
„In einem so vollkommenen schönen Äußeren muss auch eine schöne Seele wohnen.“
„Zuweilen ist es anders.“
„Ach, verderben Sie mir mit Ihren Zweifeln nicht die Freude an diesem Mann! Ich wünsche nur, dass er mir bei Tisch gegenübersitzt, damit ich ihn mit Muße betrachten kann. Lockt es Sie nicht, diesen Kopf zu modellieren?“
„Ich sah den jungen Herrn nur flüchtig, und mir ist nichts an ihm aufgefallen, als dass er sehr elegant aussah. Das Gesicht schien mir ein wenig nichts sagend.“
„Ach, das ist hässlich von Ihnen, mir die Freude an ihm zu verderben.“
Er fasste ihre Hand und sah sie ernst und bittend an. „Hella, lieber tät ich mir selbst ein Leid, als Ihnen bewusst etwas zu zerstören, das Ihnen Freude macht.“
Sie lächelte schnell versöhnt. „So ernst war es ja auch nicht gemeint.“
***
Am nächsten Tag bei der Mittagstafel hatte Hella wirklich den neuen Gast sich gegenüber. Er wurde ihnen als Herr Boßneck vorgestellt und entpuppte sich als ein höflicher, angenehmer Gesellschafter.
Nach Tisch hatte man eine Segelfahrt geplant nach einem der benachbarten Fischerdörfchen. Rasmussen verzichtete deshalb auf seinen Mittagsschlaf und ging mit Hella und Sven langsam dem Strand zu.
Von der Landungsbrücke herüber erscholl ihnen bereits das Glockenzeichen entgegen, das verkündete, dass die Fischer die Segelboote zur Abfahrt bereit machten. Auf dieses Zeichen kamen von allen Seiten Badegäste herbei, die sich an den gemeinsamen Segelfahrten beteiligen wollten.
Als die drei die Landungsbrücke betraten, fuhren bereits die ersten Boote ab. Sie sahen eine Weile dem Treiben zu und nahmen dann im letzten Boot Platz.
Sven legte Hella sorgsam ihren Mantel um die Schultern, denn es wehte eine erfrischende Brise über das Wasser, und setzte sich dann ihr gegenüber. Rasmussen nahm neben seiner Tochter Platz. Das Boot war nicht so stark besetzt wie die anderen.
Als die Fischer abstoßen wollten, kam mit eiligen Schritten noch ein einzelner Herr die Treppe herab. Nach einem kurzen Zuruf sprang er mit einem eleganten Satz ins Boot und verneigte sich grüßend gegen die Insassen.
Sven sah zu Hella hinüber. Ihr Gesicht hatte sich mit heller Röte überzogen, und ihr Blick haftete voll Entzücken an dem zuletzt Angekommenen. Es war Herr Boßneck. Er trug einen weißen Anzug, der vorzüglich saß und den Bronzeton seines Gesichts vorteilhaft zur Geltung brachte. Er war groß und schlank, trug das dunkle Haar kurz geschnitten und sah wirklich bildschön aus.
Seine blauen Augen senkten sich sofort eroberungslustig in die Hellas.
Hella errötete und wandte sich zur Seite. Nach einer Weile sah sie jedoch, wie magisch angezogen, wieder zu ihm hinüber und begegnete seinem faszinierenden Blick von neuem.
Sven presste in jähem Schmerz die Lippen fest aufeinander. Er hatte nur zu deutlich diese Blicke gesehen, und sein Herz zog sich in dumpfem Bangen zusammen.
Die Möglichkeit, sie zu verlieren, stieg wie ein Schreckgespenst vor ihm auf, und der große, starke Mann schüttelte sich wie im Fieber, wenn er sich ausmalte, dass jener glatte, glänzende Salonmensch mit dem frechen Erobererblick ein Recht erhalten könnte, Hella in die Arme zu schließen.
Vor seinen Augen stiegen blutrote Nebel auf, seine Zähne schlugen wie im Frost aufeinander, und er verlor sich in einem Gefühl wahnsinniger Angst. Er wusste kaum mehr, wo er war.
In diesem Augenblick trat Boßneck zu ihm und sagte: „Gestatten Sie, dass ich neben Ihnen Platz nehme?“
Sven fuhr auf wie aus einem schweren Traum und rückte zur Seite.
Und dann saßen sie nebeneinander und hatten Hellas liebliche Erscheinung sich gegenüber. Boßneck begann sofort eine Unterhaltung, an der sich Sven, Hella und Rasmussen beteiligten, und als man in dem Fischerdörfchen gelandet war, bat Boßneck liebenswürdig, sich den Herrschaften anschließen zu dürfen. Rasmussen erteilte ihm unbefangen die Erlaubnis dazu.
So suchten sie gemeinsam ein Gasthaus auf. Hella war zuerst etwas befangen, aber bald plauderte sie angeregt mit dem neuen Bekannten.
Franz Boßneck fand, dass sie eine amüsante junge Dame war, die ihre schönen Augen vorzüglich zu gebrauchen verstand. Er hielt für Koketterie und Berechnung, was der innerste Ausdruck ihres unverbildeten Charakters war.
Mit Kennerblicken überflog er wieder und wieder Hellas reizvolle Erscheinung. Die feinen Rundungen der schlanken Gestalt, die in dem elegant geschnittenen weißen Rock und der luftigen weißen Bluse voll zur Geltung kamen, dünkte ihm das Schönste, das er je gesehen hatte. Der feine Kopf mit der eigenartigen Frisur, die das üppige Goldhaar zur Geltung brachte, wurde so stolz und frei getragen, dass es Franz Boßneck schwer wurde, seine Fassung zu bewahren. Ein süßer kleiner Flirt gehörte ja zu einem Aufenthalt im Seebad, aber diese entzückende Blondine war ganz dazu geeignet, sein flatterhaftes Herz zu beschäftigen.
Es war ohnedies sein letzter Ausflug ins Land der Freiheit. Ein väterliches Machtwort hatte ihm das Ende der goldenen Tage verkündet. Vorbei sollte es sein mit all den schönen Dingen, die das Leben für ihn lebenswert machten. Er sollte heimkehren in die kleine, stille Stadt, in der sein Vater einer großen Fabrik vorstand. Der Vater brauchte seine Hilfe. Bisher hatte er sein Leben nur dem Genuss geweiht, war aus einer Großstadt in die andere gegangen, aus einem Badeort in den anderen. Nun sollte es aus sein, und zu allem Schlimmen kam noch der Umstand, dass man ihm angedeutet hatte, dass man auch bereits eine Frau bereithielt, deren Geldsäcke mit den seinen harmonierten.
Aber nur nicht daran denken jetzt, wo diese herrliche Blume neben ihm blühte! Genießen wollte er bis zur letzten Stunde und sich an dem süßen Reiz berauschen, den das schöne Mädchen neben ihm entfaltete.
Ein heißer Blick in Hellas Augen schloss seinen Gedankengang, ein Blick, wie er aus Männeraugen noch nie in ihre unberührte junge Seele gedrungen war.
***
Franz Boßneck war der einzige Sohn seines Vaters und besaß nur noch eine Schwester. Er hatte bisher wenig mehr geleistet, als seines Vaters Geld unter die Leute zu bringen. Unter dem Vorwand geschäftlicher Studien hatte er auf seines Vaters Wunsch im In- und Ausland all den Firmen einen Besuch abgestattet, die mit der Fabrik in geschäftlicher Verbindung standen. Er hatte dabei nichts zu tun, als sich überall von der liebenswürdigsten Seite zu zeigen, und seine geläufige Kenntnis der englischen und französischen Sprache kamen ihm dabei sehr zustatten.
Der Inhaber der Firma Ernst Boßneck, sein Vater, hatte nicht mit den nötigen Mitteln zu einem noblen Auftreten gegeizt. So sparsam, fast geizig der alte Herr auch sonst war, hier galt es, den Glanz der Firma zu zeigen, und außerdem schmeichelte es seiner Eitelkeit, einen Sohn zu haben, dessen blendendes Äußere von allen Seiten gepriesen wurde.
Aber nun hatte ihn dieser Spaß Geld genug gekostet. Jetzt sollte es einen anderen Ton geben. Franz sollte nun endlich an ernste Arbeit denken und den Vater entlasten. Es war hohe Zeit, dass er lernte, sich ernsthaft im Leben zu bestätigen. Der Vater schrieb seinem Sohn in diesem Sinn und deutete ihm gleichzeitig an, dass er bald heiraten solle. Er sei neunundzwanzig Jahre alt, und Elsa Kleefeld, die Tochter des Stadtrats, sei die passende Frau für ihn.
Durch Berta, Franz’ Schwester, die eine Freundin Elsas sei, wisse man, dass er dort nur anzuklopfen brauche. Elsa schwärmte für ihn, und die beiderseitigen Eltern seien darüber einig, dass die Verhältnisse ausnehmend gut zusammenstimmten.
Franz hatte darauf geantwortet, dass er wohl einsehe, es sei Zeit für ihn, seinem Vater an die Hand zu gehen, so wenig ihm auch der Gedanke an das stille Leben daheim behaglich sei. Aber was sein müsste, ließe sich nicht ändern. Er sei bereit, heimzukommen, man möge ihm nur noch gestatten, sich einige Wochen in einem Seebad zu erholen, er habe noch an den Folgen eines Katarrhs zu leiden.
Dieser Katarrh hatte natürlich nie bestanden und wurde nur als Mittel zum Zweck benutzt.
Den Heiratsplan seines Vater hatte er jedoch vorläufig abgelehnt. Elsa Kleefeld sei durchaus nicht sein Geschmack. Sie habe, so viel er sich erinnern könne, ein blasses, gedunsenes Gesicht, eine Hakennase und sei klein und dick. Außerdem scheine sie einfältig und albern zu sein. Er sei ja nicht abgeneigt, zu heiraten, wenn es einmal sein müsste, aber es gäbe doch noch andere Mädchen, deren Verhältnisse zu den seinen passten. Im Übrigen habe das Zeit, bis er nach Hause käme.
Für diese Antwort hatte der alte Herr Boßneck nur ein mitleidiges Lächeln, während seine Frau unverblümt der Meinung Ausdruck gab, dass Elsa zwar wirklich keine Schönheit, dafür aber leichter lenkbar sei. Und darauf kam es Frau Emilie Boßneck besonders an.
Sie war eine mittelgroße, hagere Person mit glatt gescheiteltem grau meliertem Haar. Sie trabte von früh bis spät im ganzen Haus herum und gönnte weder sich noch ihrer Tochter oder gar den Dienstboten eine Minute Ruhe.
Sehr zeitig trat sie früh aus dem Schlafzimmer, und kaum hatte sie das Frühstück eingenommen, ging es mit einer Wichtigkeit an die täglich wiederkehrenden häuslichen Geschäfte, als wenn das Wohl und Wehe ganz Europas davon abhängig wäre. Ihr geistiger Horizont war äußerst beschränkt. Lektüre gab es weder für sie noch für ihre Tochter, sie wurde als unnütze Zeitverschwendung angesehen. In ein Theater zu gehen, galt beinahe als unmoralisch.
In ihren Mußestunden liebte es die Frau, in dem großen hellen Wohnzimmer am Fenster zu sitzen und zu häkeln. Ihr gegenüber am anderen Fenster saß dann ihre Tochter Berta und häkelte auch.
Berta war das verjüngte Abbild ihrer Mutter. Ebenfalls hager und spitz, war sie mit ihren vierundzwanzig Jahren schon verblüht. Ihre Augen blickten kalt und stumpf, und der blasse Mund, der ganz hübsch geschnitten war, bekam einen hässlichen Zug durch das Herabziehen der Mundwinkel. Obwohl sie die Tochter des „reichen Boßneck“ war, hatte sich noch kein ernsthafter Bewerber um ihre Hand gefunden.
Einmal, vor Jahren, hatte sie sich in einen hübschen Buchhalter ihres Vaters verliebt. Damals hatte sie sich zu einer Tat aufgeschwungen, an die sie jetzt noch nicht ohne Schaudern denken konnte. Sie war zu ihrem Vater gegangen, hatte ihm ihre Liebe gestanden und um seine Einwilligung zur Verbindung mit dem Buchhalter gebeten.
Boßneck hatte seine Tochter kalt lächelnd angesehen – der Blick ließ ihr noch heute in der Erinnerung das Blut erstarren –, hatte mit verächtlicher Miene auf ihre Stirn getippt und gesagt: „Du bist wohl krank? Geh an deine Arbeit und schlag dir solche Dummheiten aus dem Kopf!“
Der hübsche Buchhalter wurde entlassen. Damit war der einzige Roman ihres Lebens abgetan gewesen.
Ihr Vater behandelte sie zur Strafe für ihre Kühnheit, ihm einen armen Schwiegersohn zuzumuten, wie Luft. Sie kam sich ganz entartet vor und war froh, als der Vater endlich wieder mit ihr sprach. Seitdem wartete sie stumpfsinnig auf einen anderen Freier. Zwischen Luftmaschen und Stäbchen stieg manchmal etwas wie Sehnsucht empor nach einem, der den Platz des Buchhalters in ihrem mehr und mehr verknöchernden Herzen hätte einnehmen können, aber es kam keiner, der sie zur Frau begehrte. Ein Armer hätte es nicht sein dürfen, und ein Reicher suchte sich eine andere Frau.
Trotzdem wäre es ihr nie eingefallen, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen. Sie war von klein auf in strengster Unterwürfigkeit erzogen worden. Der Despotismus ihres Vaters erstickte jede Willensregung. So wurde sie ein kleinlich denkendes Frauenzimmer, das hämisch und verächtlich auf alles herabsah, was ihr enger Ideenkreis nicht fassen konnte.
Ihres Lebens genussreiche Stunden waren die, die sie mit gleichgesinnten Seelen am Kaffeetisch verbringen konnte. Jede Woche wurde ein so genanntes Kaffeekränzchen abgehalten, woran Mutter und Tochter teilnahmen.
Was im Laufe der Woche im Städtchen passierte, wurde da erbarmungslos durchgehechelt, und wehe dem Armen, dem man Sünd und Fehl nachweisen konnte! Wehe auch dem, der anders zu sein wagte als die anderen – er wurde gerichtet ohne Gnade.
Die Familie Boßneck bewohnte ein geräumiges zweistöckiges Haus, das heißt, eigentlich nur das Parterre und die erste Etage. Die zweite Etage stand vorläufig noch leer, sie sollte später Franz Boßneck zur Wohnung dienen, wenn er verheiratet war.
Das Haus lag mit seiner nüchternen, mit grauer Ölfarbe gestrichenen Fassade direkt an der Straße. Die Fensterscheiben standen genauso regelrecht nebeneinander wie drinnen die Möbel. Nichts störte die schnurgeraden Linien, kein noch so kleines Ornament.
Hinter dem Haus lag ein ziemlich großer Garten. Er war zum größten Teil mit nützlichen Gewächsen bepflanzt. Ein Gemüsebeet reihte sich an das andere. Ringsum am Zaun standen Beerensträucher, und einige schöne große Obstbäume streckten in regelmäßigen Entfernungen ihre fruchtbeladenen Äste aus. In einem Eckchen stand sogar eine schöne große Linde. Darunter war eine Laube aufgebaut, und um die Laube herum gruppierten sich einige kleine Beete mit Sommerblumen und ein paar Rosenstöcken.
Frau Emilie Boßneck zog ihren ganzen Bedarf an Küchengemüsen in diesem Garten, und ebenso stand das ganze Jahr nur Kompott von selbst gezogenem Obst auf dem Tisch. Darauf war sie sehr stolz. Eine gute Küche wurde allerdings geführt. Dafür sorgte schon der Hausherr. Er liebte eine gute Tafel, wie er für sich überhaupt alle erreichbaren Genüsse in Anspruch nahm. Er hielt sich gute Weine, rauchte feine Zigarren, reiste so oft ihn die Lust ankam, in die nächste Großstadt, und über das, was er dort trieb, redete er niemals.
In diesem Milieu war Franz Boßneck aufgewachsen. Dahin würde er in Kürze zurückkehren, um in die Fabrik einzutreten und Elsa Kleefeld zu heiraten. Davon war nicht nur Frau Boßneck felsenfest überzeugt, sondern auch Mutter Kleefeld, die an einem der nächsten Nachmittage auf das Haus der Familie Boßneck zusteuerte. Frau Emilie und Berta hatten sich gerade mit der Häkelarbeit am Fenster niedergelassen, als sie kam. Sie nickte schon von draußen den beiden zu und trat ein. Frau Emilie legte ihre Arbeit zur Seite und ging dem Besuch entgegen. Die kleine Frau war außer Atem und musste, nachdem sie mit einem Stöhnen in den nächsten Stuhl gesunken war, erst eine Weile verschnaufen, ehe sie reden konnte.
Berta begrüßte sie mit einem artigen „Guten Tag, Tante Kleefeld!“, und zog sich dann zurück. Tante Kleefeld nickte ihr, noch immer atemlos, zu und wischte sich mit dem Tischtuch die großen Schweißperlen von dem dicken roten Gesicht.
„Diese Hitze, liebe Emilie, diese Hitze!“, klagte sie und sah wie um Erbarmen flehend in das unbewegte Gesicht der Frau Boßneck.
„Soll ich dir ein Glas Limonade hereinbringen lassen, liebe Friederike?“
„Nein, ich danke dir, es geht schon besser. Bei euch ist es ja schön kühl. Aber nun erst guten Tag, meine liebe Emilie. Wie geht es bei euch? Was macht der Franz?“
„Er ist noch auf vier Wochen an die Ostsee, um sich von einem Katarrh zu kurieren. Nachher kommt er für immer nach Hause.“
„Na, gottlob, dass ihr ihn dann wiederhabt! Was mich heute zu dir führt, hängt damit zusammen. Du weißt doch, das die Bürgermeisters Marie kurz vor der Hochzeit gestorben ist?“
„Natürlich, die ganze Stadt weiß es ja, warum soll ich es nicht wissen?“
Frau Kleefeld nickte lächelnd. „Eben, es ist ja natürlich, dass du es weißt. Nun denke, der Herr Bürgermeister war heute Mittag bei uns, um zu fragen, ob es wahr wäre, dass unsere Elsa nächstens den Franz heiraten wolle. Die Ausstattung seiner verstorbenen Tochter, die noch beim Möbelhändler stehe, sei für ihn doch nun nutzlos und überflüssig geworden, ob wir sie nicht für unsere Elsa kaufen wollten, wir sollen sie um dreißig Prozent billiger bekommen.“
„Das ist ja ein günstiges Angebot.“
„Nicht wahr? Aber wir können doch die Möbel nicht unterbringen! Deshalb wollte ich fragen, ob ihr sie nicht in Franz’ künftige Wohnung stellen wollt. Ihr habt ja die zweite Etage leer stehen.“
„Ich will es meinem Mann sagen, liebe Friederike, er mag darüber entscheiden. Mir selbst wäre es allerdings lieber, wenn wir die Möbel kaufen würden.“
„Wenn ihr wollt – uns ist das schon auch recht. Es ist nur, dass die günstige Gelegenheit ausgenutzt wird.“
„Natürlich, mein Mann wird sicher darauf eingehen. Ich werde ihm heute Abend Bescheid sagen.“
„Tue das, Emilie. Und nun will ich wieder gehen. Wo ist Berta, das gute Kind? Ich will ihr Adieu sagen.“
Frau Boßneck rief ihre Tochter herbei, und dann verabschiedete sich „die gute Tante Kleefeld.“
Mutter und Tochter sahen der kleinen Gestalt vom Fenster aus nach, dann setzten sie ihre Handarbeit fort.
Als abends Ernst Boßneck von dem Möbelangebot erfuhr, machte er ein undurchdringliches Gesicht und sagte kurz: „Ich werde die Angelegenheit ordnen.“
Einige Tage später wurden die Möbel wirklich in der zweiten Etage aufgestellt.
***
Franz Boßneck hatte sich mehr und mehr an Rasmussen und seine Tochter angeschlossen und ließ sich durch Sven Andersens zurückhaltendes Wesen nicht irremachen. An allen Ausflügen beteiligte er sich und wusste sich immer geschickt an Hellas Seite zu bringen.
Das junge Mädchen ließ sich von seiner einschmeichelnden Liebenswürdigkeit ganz gefangen nehmen, und es entging weder ihm noch Sven, dass ihre Augen aufleuchteten, wenn er erschien, dass sie unruhig und zerstreut blickten, wenn er seine Aufmerksamkeit von ihr abwandte.
Franz wusste sich auch bei Rasmussen in Gunst zu setzen durch sein artiges Benehmen. Nur Sven konnte seine Abneigung gegen ihn nicht bezwingen. Er misstraute diesem glatten, gewandten Salonmenschen, und der Ton, den er Hella gegenüber anschlug, schien ihm nicht ehrerbietig genug. Er, der das junge Mädchen stets wie ein Wesen höherer Art vergöttert hatte, konnte nicht verstehen, dass ein Mann in dieser tändelnden, selbstgefälligen Art mit ihr verkehrte.
Dass Rasmussen so gar nichts merkte, war ihm unverständlich. Am liebsten hätte er ihm in heißer Angst zugerufen: „Schütze dein Kind, es droht ihm Gefahr!“ Aber dann kam er sich selbst lächerlich vor. Was für ein Recht hatte er auch, sich einzumischen! Hella schien glücklich zu sein in ihrer Glückseligkeit wie eine Blume.
Das merkte Franz Boßneck auch. Es machte ihn warm, dieses süße, holde Mädchen. Er fand, dass ein ganz eigenartiger Reiz ihre Person umschwebte, und Augen konnte sie machen – Augen! Das Blut jagte ihm schneller durch die Adern, wenn er daran dachte.
Und Hella? Sie stattete den Mann, der ihre unberührte Seele im Flug gefangen genommen hatte, mit allem Großen und Schönen aus, das sie selbst empfand. Sie hielt ihn für den edelsten und besten aller Männer und gab sich willig dem Zauber hin, den seine werbende Blicke auf sie ausübten.
Dass Sven wortkarger und finsterer war als je, merkte sie kaum. Was galt ihr jetzt Sven, was die ganze Welt? Für sie gab es nur einen einzigen Menschen, dem ihr ungeteiltes Interesse gehörte, und das war Franz Boßneck.
Der junge Mann wusste ganz genau, was er Hella war, und an ihrer Innigkeit entzündete sich sein Herz mehr und mehr. Es kamen Stunden, in denen er mit Schrecken daran dachte, dass dieser süße Traum von Liebe bald ausgeträumt sein sollte. Schon war die Hälfte der noch gewährten Frist verstrichen – noch zwei Wochen, dann sollte er sich von dem süßen Mädel trennen und sich mit einer Elsa Kleefeld vermählen.
Aber musste denn diese Trennung sein?
Er wusste, dass Rasmussen zwar kein reicher Mann war, dass er aber in guten, durchaus geordneten Verhältnissen lebte.
Wenn er nun seines Vaters Plan mit Elsa durchkreuzte und sich hier einfach mit Hella Rasmussen verlobte?
Ein unbehaglicher Schauer lief ihr bei dem Gedanken an seines Vaters Zorn freilich den Rücken hinunter. Aber wenn er seine Verlobung von hier aus meldete, dann hatte sich die erste Wut schon ausgetobt, bis er nach Hause kam. Mündig war er längst, und wie ein dummer Junge brauchte er sich schließlich auch nicht mehr behandeln zu lassen. Der vollendeten Tatsache gegenüber war sein Vater doch machtlos.
Er würde ihm zwar, so weit er ihn kannte, mit Enterbung drohen und damit, dass er ihm keine Existenzmittel gewähren würde, aber an der Ausführung dieser Drohung würde ihn schließlich sein eigener Stolz hindern, er würde niemand merken lassen wollen, dass ihm Franz das Heft aus der Hand genommen hatte.
Am besten war’s, Franz Boßneck ließ seinen Vater gar nicht erst zu einer Drohung kommen. Wenn er ihm einfach erklärte, er habe sich mit Hella Rasmussen verlobt, bitte um Verzeihung, dass er es gegen seinen Willen tat, werde aber um keinen Preis von ihr lassen – was wollte der Vater dann tun? Man konnte vielleicht diplomatischerweise noch hinzufügen, dass man auch dann nicht von diesem Verlöbnis zurücktrete, wenn der Vater etwa seine Hand abziehen wolle. In diesem Fall werde sich Professor Rasmussen ein Vergnügen daraus machen, dem jungen Paar die nötigen Existenzmittel zur Verfügung zu stellen. Famos, das musste wirken! Die Eitelkeit seines Vaters würde es nicht zulassen, dass sein Sohn sich von einem Fremden unterhalten ließ!
Franz kannte seinen Vater ganz genau, und ein gewisser Trotz gegen die Bevormundung wallte in ihm auf. Er beschloss, sich Hella gegenüber keinen Zwang mehr aufzuerlegen, er musste sie besitzen, zu sehr hatte er sich in ihre Reize verstrickt.
Nach solchen Stunden voll kühner Pläne kamen jedoch auch wieder andere voll nüchterner Überlegung. Er beschloss dann, Knall und Fall abzureisen, sie nicht mehr zu sehen und sie zu vergessen. Aber dann genügte eine kurze Begegnung, und das Feuer loderte wieder auf.
Rasmussen hatte Sven und Boßneck zu einer Dampferfahrt aufgefordert. Hella sollte zurückbleiben, weil sie leicht seekrank wurde und sich keinen Genuss von der Fahrt versprach. Sven hatte sofort zugesagt, Boßneck aber lehnte ab mit der Begründung, dass er Bekannte aufsuchen wolle, die in einem Nachbarort Ferien machten.
Das war aber nur ein Vorwand, um mit Hella allein bleiben zu können.
Als die junge Dame vom Baden in die Strandhütte zurückkam, fand sie dort Franz Boßneck, der sie mit heißem Blick begrüßte.
Sie errötete tief und sagte hastig: „Ich denke, Sie sind längst unterwegs! Papa und Herr Andersen sind mit dem ersten Dampfer schon fort.“
„Ich weiß es, gnädiges Fräulein. Ich traf die Herren kurz vor der Abfahrt auf der Landungsbrücke, als ich fortfahren wollte.“
„Und weshalb haben Sie das nicht getan?“
„Ist es Ihnen so unangenehm, mich noch hier zu finden?“
„O nein, im Gegenteil. Das heißt – ich wundere mich nur, dass Sie Ihren Plan nicht ausgeführt haben.“
„Sie würden sich nicht wundern, wenn Sie mir ins Herz blicken könnten.“
Hella hatte auf der anderen Seite der Hütte Platz genommen. Sie stützte den Kopf in die Hand und sah hinaus aufs Meer, ohne zu antworten.
„Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten, oder schicken Sie mich fort?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich schicke Sie nicht fort“, sagte sie leise.
Er ergriff ihre Hand und küsste sie mit heißen Lippen. Sie zuckte unmerklich zusammen und zog die Hand zurück. Er sah unverwandt zu ihr hinüber, seine Augen redeten eine kühne, verlangende Sprache. Es wurde ihr bang unter diesen Blicken.
Um ihrer Verlegenheit Herr zu werden, fragte sie nach einer Pause: „Warum reden Sie nichts?“
„Weil alle Worte zu arm sind, um Ihnen zu sagen, was ich empfinde.“
„Erzählen Sie mir etwas von Ihren Angehörigen!“, bat sie ablenkend.
Er nahm den leichten Sommerhut ab und fuhr sich mit der schmalen Hand durchs Haar. „Da gibt es nicht viel zu erzählen, gnädiges Fräulein“, sagte er abwehrend. Das Thema war nicht nach seinem Sinn. Diese kostbare Stunde des Alleinseins konnte doch wahrhaftig besser ausgenutzt werden als durch Familiensimpelei.
„Ist Ihre Schwester schön?“
„Nein, schön ist meine Schwester nicht, und erzählen kann ich Ihnen auch nicht viel von ihr. Sie lebt ihr stilles, schlichtes Leben daheim im Elternhaus, und ich war viel auf Reisen. Da sind wir uns ein wenig fremd geworden.“
„Das wird ja nun besser werden, wenn Sie wieder zu Hause sind“, sagte Hella tröstend.
„Gewiss. Aber nun lassen sie uns von etwas anderem reden, gnädiges Fräulein. Wissen Sie, was meine Familie von mir wünscht?“
„Nun?“
„Ich soll heiraten.“
Hellas Herz schlug rebellisch und jagte ihr das Blut ins Gesicht. „Und Sie – was sagen Sie dazu?“, fragte sie leise.
Er sah sie an, und unter seinem Blick vertiefte sich die Röte. „Erst war mir der Gedanke sehr unsympathisch, aber jetzt – jetzt wüsste ich eine, die mich sehr beglücken könnte, wollte sie meine Frau werden.“
Er sagte die letzten Worte mit unterdrückter Stimme und senkte seine glühenden Blicke vielsagend in ihre Augen.
Ein plötzliches Bangen nahm sie gefangen, eine Angst, dass er weiterreden könnte. Sie sprang auf. „Ich muss nach Hause, um mich umzukleiden, es ist bald Tischzeit.“
Er erhob sich gleichfalls. Dass sie ihm auswich, verstärkte nur sein Begehren. „Darf ich Sie begleiten?“
„Wenn Sie nichts Besseres vorhaben.“
„Etwas Besseres sicher nicht.“
Sie schritten schweigend eine Weile nebeneinander her. Er betrachtete sie verstohlen. Wie sie, den Kopf ein wenig geneigt, ein Bild der Anmut und Lieblichkeit, an seiner Seite dahinging, hätte er einer Welt zu trotzen gewagt, wenn er sie hätte in die Arme schließen dürfen. Seine Lippen brannten vor Sehnsucht nach den ihren.
Hella hatte sich so weit gefasst, um ein gleichgültiges Gespräch beginnen zu können.
Er ging nur ungern darauf ein, musste sich aber fügen. Da sie vermied, ihn anzusehen, war es ihm auch nicht möglich, die Macht seiner Augen auf sie einwirken zu lassen.
Als sie sich zu Hause schnell von ihm verabschiedete, hätte er sie am liebsten zurückgehalten. Aber sie war ihm entschwunden, ehe er seine Absicht ausführen konnte.
Bei Tisch begrüßten sie sich nur stumm und nahmen an dem allgemeinen Gespräch der übrigen Gäste teil.
Nachmittags blieb Hella zu Hause. Sie sah von der Veranda aus, dass Franz Boßneck sehnsüchtig die Fenster ihrer Wohnung streifte, aber sie rührte sich nicht in ihrem Versteck, und er ging langsam davon, dem Wald zu.
Hella ahnte nicht, dass er sich im Schutz dichten Strauchwerks wenige Schritte weiter auf eine Bank setzte und von da aus das Haus beobachtete. Sie versuchte zu lesen, aber ihre Gedanken irrten von dem Buch ab. Warum hatte sie sich törichterweise zur Einsamkeit verurteilt und ihn auch?
Sicher hatte er seinen Ausflug nur aufgegeben, um mit ihr zusammen sein zu können. Es war nicht recht von ihr, ihm so absichtlich auszuweichen.
Warum tat sie es? Warum folgte sie nicht ihrem sehnsüchtigen Herzen, das ihr gebot, an seiner Seite zu bleiben?
Solche Gedanken kreuzten ihr Hirn, und endlich sprang sie auf, um an den Strand hinabzugehen. Sie hielt es hier auf der stillen Veranda nicht mehr aus. Der Anblick ihres geliebten Meeres würde Ruhe und Frieden in ihre Brust zurückbringen.
Sie verließ das Haus. Langsam wanderte sie zum Strand hinunter und ging auf die Landungsbrücke hinaus.
Sie lehnte sich über die Brüstung und sah traumverloren über das Wasser. Die See war ruhig geworden. Wild rüttelten die Wellen an den mächtigen Pfosten, die die Brücke trugen.
Lange stand sie so versunken, ohne sich zu bewegen.
Sie ahnte nicht, dass Franz Boßneck ihr gefolgt war und sich nicht weit von ihr auf einer der Bänke niedergelassen hatte, die ringsum an der Brüstung angebracht waren.
Er warf prüfende Blicke um sich. Die Landungsbrücke war leer. Auch am Strand war es still. Nur wenige Menschen lagen dort im warmen Sand, und einige Gruppen spielender Kinder wateten im Wasser und suchten Muscheln. Er war also so gut wie allein mit Hella.
Mit glühenden Augen sah er zu ihr hinüber. Sie wurde unruhig, als fühlte sie diese Blicke, und wie von einer inneren Macht getrieben, wandte sie sich langsam um und sah erbebend in seine Augen hinein.
Sein Blick hielt sie fest, sie rührte sich nicht. Es war ihr unmöglich, sich diesem leidenschaftlich werbenden Blick zu entziehen. Widerstandslos gab sie sich dem Einfluss hin, der er durch seine Blicke auf sie ausübte. Er sprach kein Wort, um den Zauber nicht zu brechen. Langsam erhob er sich und trat auf sie zu.
In diesem Moment tönte plötzlich ein vielstimmiger Schrei vom Strand zu ihnen herüber. Sie schraken zusammen und wandten langsam und zögernd die Blicke voneinander.
Am Ufer standen einige Frauen und rangen die Hände. Auf dem Wasser trieb ein keines Ruderboot, und darin saßen zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren, und streckten Hilfe flehend die Arme aus.
Die Kinder hatten das Boot, das ruhig im Sand lag, mit vereinten Kräften ins Wasser hinausgeschoben. Zwei von ihnen hatten sich in das Boot gesetzt, und nun war es von der Strömung erfasst, so weit hinausgetrieben, dass die beiden Kinder nicht heraus konnten.
Auf ihre erschreckten Rufe wurden die plaudernden Mütter der Kinder aufmerksam und sie hatten die Schreckensschreie ausgestoßen.
„Die Kinder werden immer weiter hinausgetrieben, das gibt ein Unglück bei der stürmischen See“, rief Hella besorgt.
Franz Boßneck fasste ihre Hand. „Lassen Sie das doch jetzt, gnädiges Fräulein! Man wird das Boot zurückholen, da ist nichts zu befürchten.“
Er versuchte, sie abzulenken, aber Hella hörte das Jammern der Frauen und Kinder und strebte von ihm fort.
„Wer soll es denn zurückholen? Die Fischer sind alle draußen, kein einziger Mann ist drüben am Strand zu sehen. Mein Gott, die Kinder treiben immer weiter hinaus!“
Sie lief eilig davon, der Stelle zu, wo die Frauen standen. Franz folgte ihr unmutig.
„Man muss Hilfe aus dem Dorf herbeirufen“, sagte er. „Beruhigen Sie sich doch, gnädiges Fräulein!“
„Das dauert viel zu lange – o Gott, die armen Mütter!“
„Sie hätten besser auf ihre Kinder aufpassen sollen, dann wäre das nicht geschehen“, sagte er böse. „Für solche Vorwürfe ist es nun zu spät.“
Sie waren inzwischen der Gruppe jammernder Frauen nahe gekommen. Eine stürzte händeringend Franz entgegen. „Helfen Sie, retten Sie, mein Herr“, rief sie ihm zu.
Auch die anderen Frauen umringten ihn bittend.
Nur Hella sagte nichts. Bleich, mit zusammengepressten Lippen sah sie ihn mit großen Augen an. Es lag etwas Zwingendes in ihrem Blick.
Franz richtete sich entschlossen auf. „Schaffen Sie Ruder herbei!“, rief er den Frauen zu, und während einige davonliefen, um seinem Befehl nachzukommen, schob er, von den Frauen unterstützt, eines der noch im Sand liegenden Ruderboote ins Wasser.
Hella war mit leuchtendem Blick den davoneilenden Frauen nachgelaufen. Ihr fiel ein, dass das Bootshaus geschlossen war. Dicht neben der Tür hatte sie jedoch oft im Vorbeigehen ein kleines Fenster bemerkt, durch das man die Ruder in der Ecke des Bretterhäuschens lehnen sah. Sie kam gerade zurecht, um den ratlos die geschlossene Tür anstarrenden Frauen zu helfen. Mit einer Kinderschaufel schlug sie kurz entschlossen das Fenster ein und zog durch die entstandene Öffnung zwei Ruder heraus. Eilends wurden sie zum Boot geschafft, das inzwischen flottgemacht worden war. Franz sprang hinein. Er warf einen Blick auf Hella zurück und sagte lächelnd: „Beruhigen Sie sich! Ich bringe die Kinder zurück!“
„Gott mit Ihnen!“, rief sie ihm zu und sah ihn an, dass ihm das Herz stürmisch klopfte.
Franz versuchte zunächst vergeblich, an das Boot heranzukommen. Es erwies sich als schwieriger, als er gedacht hatte. Er musste äußerst vorsichtig zu Werk gehen, denn schließlich brachte das eine Boot das andere noch zum Umschlagen.
Er fluchte einige Male vor sich hin und zog dann einen Moment die Ruder ein. Wenn er nur ein Stück Tau zur Hand gehabt hätte, um es den Kindern zuzuwerfen, dann wäre es eher möglich gewesen, die Boote so aneinander zu bringen, dass er hinüber- oder die Kinder herüberklettern konnten.
Der kleine Junge schien seinen Gedankengang zu erraten. „Ich habe Schnur in der Tasche!“, rief er Boßneck zu.
„Na, dann raus damit! Behalt das eine Ende in der Hand und wirf mir das andere zu!“
Schnell folgte der Knabe seinem Befehl. Die Schnur war zum Glück stark und lang genug.
„Binde dein Ende an den Eisenhaken, und dann setzt euch und haltet euch an den Bänken fest“, kommandierte Franz. Als das geschehen war, zog Boßneck das Boot langsam heran.
„Nun schnell herüber!“, rief er. „Aber Vorsicht, dass ihr nicht ins Wasser fallt!“
Die Kinder gehorchten, eines dem anderen helfend, und es gelang ihnen, glücklich herüberzukommen.
Mit zusammengebissenen Zähnen tauchte Franz die Ruder wieder ins Wasser. Er hatte sich bei seinem Rettungswerk die Hand verletzt. Sie blutete und tat höllisch weh. Trotzdem gelang es ihm, das Boot in kurzer Zeit sicher ans Ufer zu bringen.
Jubel empfing ihn. Hella drängte sich mit stürmischer Begeisterung an ihn heran, bebend vor Aufregung und Freude. Als sie seine blutende Hand sah, fasste sie danach und zog sie, alles vergessend, an ihre Lippen und küsste sie.
Es durchzuckte ihn wie ein Schlag, als er den heißen Mund auf seiner Hand fühlte. Alles vergessend, legte er seinen Arm um sie. „Hella, süße Hella!“
Sie sah zu ihm auf mit einem Blick unverhohlener Liebe und wehrte ihm nicht, als er seine Lippen auf die ihren presste.
Franz ließ dem ersten Kuss schnell noch einen zweiten folgen. Dann sagte er leise: „Willst du mein werden, Hella?“
„Ich will“, antwortete sie einfach.
Er führte sie fort aus dem sie umringenden Kreis. Die beiden geretteten Kinder und ihre Mütter wollten ihnen mit ihren Dankesbezeigungen den Weg versperren. Er wehrte sie lachend ab und ging Arm in Arm mit Hella davon.
„Deine arme Hand!“, sagte sie mit bebender Stimme.
„Die wird schnell wieder heil, aber mein Herz nicht, süße Zauberin. Sag, dass du mich liebst!“
„Ich liebe dich, weil du gut und edel bist – und so schön.“
„Du bist tausendmal schöner, Hella. Ganz toll bin ich in dich verschossen.“
„Sag nicht so“, bat sie, „es klingt so – so leichtfertig und nichts sagend.“
„Närrchen, liebes, es ist doch ganz gleich, wie man es nennt. Jedenfalls sitzt mir die Liebe zu dir fest im Herzen – so fest – ich hätte nicht geglaubt, dass ich so verliebt sein kann.“
Nun gingen sie schweigend nebeneinander bis nach Hause. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, hielt er sie fest.
„Nun gibt mir erst den richtigen Verlobungskuss“, sagte er und presste sie so fest in seine Arme, dass ihr die Sinne fast vergingen. Fast schmerzhaft brannten seine Küsse auf ihren Lippen, und das Blut sauste ihr in den Ohren.
***
Als Rasmussen am Abend zu seiner Tochter ins Zimmer trat, flog sie auf ihn zu. „Papa, lieber Papa!“, rief sie innig und umfasste seinen Hals mit ihren Atmen.
Er lachte. „Hast du mich so sehnsüchtig erwartet, Herzblatt?“
„Ja, ich habe dir so viel zu sagen.“
Er strich ihr lächelnd das Haar aus der Stirn. „Du glühst ja wie im Fieber, Kind. Was hat dich so erregt?“
„Komm, setzt dich erst zu mir, Herzensvater, dann sollst du es hören!“
Sie setzten sich nebeneinander auf den Diwan. Hella fasste des Vaters Hand und sah ihm offen ins Gesicht.
„Papa, ich habe mich heute Nachmittag mit Franz Boßneck verlobt. Morgen kommt er, um mit dir zu sprechen.“
Rasmussen war zusammengezuckt, in seinem Gesicht veränderte sich kein Zug, nur ernst sah er aus, sehr ernst. „Wie ist das so schnell gekommen, mein Kind?“, fragte er sanft.
Hella berichtete in unzusammenhängenden Worten die Erlebnisse des Tages. Still hörte er ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Unverwandt sah er in ihre glückstrahlenden Augen.
Hella war sein höchstes Gut, das er neben seiner Kunst besaß. Sein Leben war so sehr mit dem ihren verwoben, dass ihr Glück das seine war. Mit ihrer Verlobung zerstörte sie ihm zwar seinen Herzenswunsch, aber was lag daran, wenn sie nur glücklich wurde.
Hella war mit ihrem Bericht zu Ende, nichts hatte sie dem geliebten Vater verschwiegen. Nun sah sie ihn erwartungsvoll an.
„Hast du ihn denn so lieb, mein Kind, dass du ihm in seine Heimat folgen willst? Du kennst ihn erst so kurze Zeit!“
„Ich glaube, ich liebte ihn vom ersten Tag an, Papa. Er ist so gut, so edel!“
„Kind, wir wissen noch sehr wenig von ihm.“
„Du mochtest ihn doch auch gleich.“
„Das ist recht wenig, wenn man es von einem Menschen sagt, dem man sein höchstes Gut anvertrauen soll. Er ist ein angenehmer Gesellschafter, aber näher gekommen sind wir uns in der kurzen Zeit nicht. Was mir meine Menschenkenntnis von ihm verriet, war nicht unvorteilhaft für ihn, nur das eine glaubte ich zuweilen zu empfinden: Art von unserer Art scheint er nicht zu sein.“
„Du musst bedenken, dass er einer Kaufmannsfamilie entstammt, er ist in anderen Kreisen aufgewachsen. Und nun sag mir, ob du uns deine Einwilligung gibst?“
„Deinem Glück will ich nicht im Wege stehen, mein Kind. Wenn du ihn so liebst, dass du ihn nicht lassen kannst, dann in Gottes Namen.“
„Aber du bist nicht froh darüber, Vater?“
Er lächelte wehmütig. Mit welchem Jubel hätte er ihre Hand in die Sven Andersens gelegt! Dieser Traum war nun vorbei, und sein junger Freund würde schwer daran tragen, dass er Hella aufgeben musste. Das wusste er.
Hella sah angstvoll zu ihm auf.
Da bezwang er sich. „Verlangst du denn, dass ich mich gleich freuen soll, wenn du von mir gehen willst? Du musst mir Zeit lassen, mich an den Gedanken zu gewöhnen. Aber sei unbesorgt, darüber komme ich schon hinweg. So lange in deinen Augen das Glück lacht, werde ich immer zufrieden und froh sein!“
„Lieber, lieber Papa!“
„Mein geliebtes Kind!“ Er küsste sie auf die Stirn. „Mögest du glücklich werden. – Und nun will ich hinübergehen und mich umkleiden. Sven wollte noch ein Stündchen herunterkommen. Du rufst mich, wenn er kommt?“
„Ja, Papa.“
Er ging ins Nebenzimmer, und Hella setzte sich hinaus auf die erleuchtete Veranda.
Sinnend blickte sie vor sich hin. Ein wenig war sie doch enttäuscht von der Art, wie ihr Vater die Nachricht von ihrer Verlobung aufgenommen hatte. Es war ihr nicht entgangen, dass ihn rechte, innige Freude nicht beseelte. Das tat ihr Leid und warf einen leichten Schatten auf ihre Glückseligkeit.
Sie war so versunken, dass sie gar nicht gewahrte, dass Sven Andersen zu ihr heraustrat.
„Guten Abend, Hella“, sagte er.
Sie schrak zusammen und lächelte dann über sich selbst. Sie erhob sich und reichte ihm die Hand. „Guten Abend, Sven. Kommen Sie, nehmen sie Platz!“
Sven setzte sich auf die Verandabrüstung und lehnte seinen Kopf an die grün umrankte Steinsäule, die das Dach der Veranda stützte. Hella griff über den Tisch hinüber nach seiner Hand. „Sven, Sie sind mir immer ein treuer Freund, fast ein Bruder gewesen. Sie sollen nach Papa der Erste sein, der erfährt, dass ich mich heute Nachmittag mit Franz Boßneck verlobt habe.“
Seine Hand zuckte jäh aus der ihren. Er sprang auf. Hella konnte deutlich erkennen, wie sich sein Gesicht verfärbte, wie sich darin ein so qualvoller Zug ausprägte, dass sie in der warmen Sommerluft zusammenschauerte.
Angstvoll sah sie zu ihm auf. Es war, als sei plötzlich alle Freudigkeit, alle Glückseligkeit aus ihrem Dasein geschwunden. Ein heißes, schmerzhaftes Gefühl, das sie nicht verstand, presste ihr die Brust zusammen, eine unbestimmte Ahnung, als habe plötzlich etwas Wunderbares ihren Weg gestreift und sei, noch ehe sie es fassen konnte, unwiederbringlich verloren gegangen. Sie war sich nicht klar über das, was in ihr vorging, und sah mit Bestürzung in das vor Schmerz erstarrte Gesicht des Mannes. Ein Gefühl heißer Angst um ihn ließ sie erzittern.
„Sven!“, rief sie leise.
Ihre Stimme brachte Andersen zur Besinnung. Mit Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung bezwang er das lähmende Entsetzen, das ihn gefangen hielt. Sein Gesicht verlor den versteinerten Ausdruck, nur in den Augen blieb ein Blick, den Hella von dieser Stunde an nie wieder vergessen konnte.
Sven war Herr über sich geworden. Mit erzwungenem Lächeln sagte er: „Sie haben mich so überrascht, dass ich sprachlos war, liebe Hella. Ich wünsche Ihnen Glück Zu diesem Schritt, der Ihr Leben in ganz andere Bahnen lenkt.“
Seine Stimme klang ihm selbst fremd.
Sie dankte ihm mit wenigen Worten und ging, um ihren Vater zu rufen. Er sah ihr nach, bis sie im Haus verschwunden war. Dann sprang er plötzlich mit einem Satz über die Verandabrüstung in den stillen dunklen Garten. Mit erloschenen Augen sah er zu dem wundervollen Sternenhimmel auf. Warum hatte das Schicksal das zugelassen? Warum hatte er das Herz dieses Mädchens jenem Mann zugewandt, der sie vielleicht nicht zu würdigen verstand? Warum hatte die Natur nicht ihm, dem hässlichen Sven, die schönen Züge verliehen, die Hellas schönheitsdurstige Seele entflammte? Warum?
Er ließ die Arme schlaff herabsinken und schritt müde auf dem schmalen Kiesweg auf und ab. Da sah er Rasmussen auf die Veranda heraustreten und sich suchend umsehen.
„Wo stecken Sie denn, Sven?“
„Hier im Garten, Herr Professor!“
„Was treiben Sie da unten?“
„Der Sternenhimmel lockt mich, man sieht ihn von hier aus viel schöner.“
„Dann komme ich zu Ihnen. Wir können ja zusammen noch ein wenig Astronomie treiben.“
Er schritt die wenigen Stufen hinab, die in den Garten führten, und schob seinen Arm unter den Sven Andersens. Schweigend schritten sie eine Weile auf und ab. Dann sagte Rasmussen: „Hella hat Ihnen mitgeteilt, dass sie sich verlobt hat?“
„Ja.“
Der alte Herr ahnte, welch herbe Entsagung hinter diesem kurzen „Ja“ verborgen war. Er presste Svens Arm fest an sich. „Nun werden wir zwei bald allein sein, Sven. Unser Sonnenschein wird uns verlassen. Wir wollen es gemeinsam tragen, mein lieber junger Freund.“
„Wenn sie nur glücklich wird, dann ist es gut.“
„Wenn, ja, wenn! Sven, mir ist das Herz ein bisschen schwer. Ich mag meinem Kind mit Schwarzseherei das Glück nicht trüben, aber ich fürchte, sie passt nicht zu ihrem Verlobten.“
„Und dennoch wollen Sie Ihre Einwilligung geben?“
„Ja, dennoch. Sehen Sie, wenn ich sie ihr jetzt verweigern sollte – sie würde es grausam finden und mich nicht verstehen. Ich kann ja nichts gegen den jungen Mann vorbringen. Entweder würde sie ihm trotz meiner Weigerung angehören, oder sie würde mir gehorchen und entsagen. In beiden Fällen wäre ihr Glück zerstört. So bleibt mir nur übrig, mein Jawort zu geben. Das lässt wenigstens die Möglichkeit offen, dass sie dennoch glücklich wird. Ich hatte andere Hoffnungen – sie sind gestorben an diesem Abend.“
„Manches Schöne stirbt – uns bleibt unsere Arbeit, unsere Kunst! Herr Professor, mich zieht es in mein Atelier, lassen Sie mich heimkehren, morgen schon, ich halte das Stillsitzen nicht mehr aus!“
Rasmussen sann eine Weile nach. Dann sagte er bittend: „Bleiben Sie, wenigstens noch einige Tage, Sven! Ich weiß, dass ich damit ein großes Opfer von Ihnen verlange, aber Sie müssen bedenken, Ihre plötzliche Abreise würde auffallen. Bleiben Sie wenigstens, bis wir einen passenden Ausweg gefunden haben.“
„Sie haben Recht, ich habe es nicht überlegt. Ich bleibe.“
„Danke, lieber Freund.“
***
Die Familie Boßneck saß beim Morgenkaffee. Das Familienoberhaupt, Herr Ernst Boßneck, war ein mittelgroßer wohlbeleibter Mann mit einem etwas gedunsenen roten Gesicht und einer mächtigen Glatze, die von einem kärglichen Streifen grauer Haare umgeben war.
Er sah mit seinen kalten, stechenden Augen zuweilen ungeduldig über seinen Kneifer hinweg nach der Tür. Die Zeitung, die er in der Hand hielt, schien seine Aufmerksamkeit nicht ganz zu fesseln.
Seine Frau und seine Tochter, beide schon mit der Häkelarbeit in den rastlosen Händen, saßen ihm stumm gegenüber.
Gesprochen wurde nie ein Wort, da der Hausherr am Kaffeetisch seine Zeitung und die angelangte Post zu lesen pflegte.
Heute musste er etwas länger als sonst auf seine Briefe warten, und das genügte schon, ihn zu verstimmen. Schließlich konnte er sich nicht mehr halten, seine Hand sauste wütend auf den Tisch herab, so dass die beiden Frauen erschrocken zusammenfuhren.
„Zum Henker, wo bleibt denn heute die Post!“, schrie er sie an.
Seine Frau erhob sich, um vom Fenster aus Umschau nach dem Postboten zu halten. „Er kommt eben“, sagte sie kurz.
Gleich darauf brachte ein Dienstmädchen die Postsachen herein und legte sie vor ihrem Herrn auf den Tisch.
Boßneck faltete seine Zeitung zusammen. Dann sah er die Briefe durch. Geschäftliche Mitteilungen legte er nach der Lektüre beiseite. Eine Verlobungsanzeige warf er, ohne ein Wort zu sagen, seiner Frau zu, ebenso die Offerte einer Konservenfabrik.
Zuletzt nahm er einen Brief zur Hand, der die Handschrift seines Sohnes trug. Er öffnete ihn genauso geschäftsmäßig wie die anderen und entfaltete ihn. Beim Lesen kam jedoch Leben in sein Gesicht. Es rötete sich beängstigend, und die Stirn zog sich finster zusammen.
„So ein Lump! So ein Nichtsnutz und Tagedieb!“, brüllte er. „Das ist ja um aus der Haut zu fahren! Mir das! Ich werde ihm das Handwerk legen, dem frechen Patron. Er soll mir kommen, der unverschämte Bengel! Das wollen wir denn doch erst sehen, diese Flausen treib ich ihm aus, dem Schafskopf!“
Seine Frau hatte einen scheuen Seitenblick auf den Brief geworfen. Sie erkannte die Schrift. Ängstlich sah sie dann wieder auf den Wütenden.
„Was ist denn geschehen, Ernst?“, fragte sie beklommen.
Er lachte höhnisch auf. „Wirst deine helle Freude haben. Dein sauberer Herr Sohn hat uns eine nette Überraschung bereitet. Verlobt hat er sich. Eine Künstlertochter wahrscheinlich Hungerleidertochter. Die schlaue Person hat sich da einen fetten Bissen kapern wollen. Aber das dulde ich nicht! Was fällt diesem Bengel ein! Wir suchen ihm hier eine feine Partie aus, er braucht sich nur ins warme Nest hineinzusetzen. Statt es uns zu danken, will er so einen Schlapphutsprössling in unser ehrbares Heim bringen. Das ist himmelschreiend.“
Während er seiner Frau diese Worte zuschrie, war sie blass geworden. Ihr kaltes, unbewegtes Gesicht bekam einen Zug der herbsten Abwehr.
„Darf ich den Brief lesen?“, fragte sie.
„Natürlich – lies nur die erbaulichen Ausführungen deines Herrn Sohns!“, höhnte er.
Sie nahm das Schreiben mit bebenden Händen. Franz schrieb sehr vernünftige, wohlüberlegte Worte, und so verknöchert war das Herz dieser Frau denn doch noch nicht, dass sie nicht einigen Eindruck machten. Aber sie wehrte sich gegen diese Weichheit. Vor ihrer kleinlichen Seele stand drohend ein Schreckgespenst, das alle guten Regungen im Keim erstickte. Was würden die Leute dazu sagen? Vor allem Kleefelds? Man würde in der Stadt die Köpfe zusammenstecken und über diese Verlobung spotten. Und in allen Kränzchen würden die Boßnecks den Gesprächsstoff bilden. Wenn es nur wenigstens keine Künstlertochter wäre, wahrscheinlich so ein schlampiges, verrücktes Frauenzimmer mit männlichen Manieren und frechem Auftreten, wie die Kunstreiterin, die im vorigen Jahr mit einem Zirkus ins Städtchen gekommen war! Es lief ihr kalt über den Rücken, als sie sich das ausmalte.
Fassungslos ließ sie das Schreiben sinken und sah zu ihrem Mann hinüber.
„Reizend, nicht wahr? Ich gratuliere zu der neuen Schwiegertochter“, sagte er ironisch.
„Ich kann es noch gar nicht fassen“, murmelte sie.
„Natürlich nicht. Euer Spatzengehirn fasst nie etwas, was über eure Kochtöpfe hinausgeht. Mir ist die Geschichte sofort klar gewesen. Der Esel ist einfach einer Kokotte ins Netz gelaufen. Aber zum Glück bin ich noch da. Ich werde ihm schon heimleuchten, dem Tölpel!“
„Ach Gott, was werden nur Kleefelds dazu sagen, Ernst?“
Er sah sie schweigend an. Seine kleinen, stechenden Augen funkelten wie die eines Raubtiers.
„Die arme Elsa!“, wagte nun auch Berta zu sagen.
„Halt deinen Mund und mach, dass du rauskommst, ich habe mit der Mutter zu reden!“
Die Eltern blieben, nachdem sich Berta entfernt hatte, eine Weile stumm.
Endlich sagte die Frau beklommen: „Vielleicht lässt sich diese Verlobung wieder lösen. Er hat sich doch ohne deine Einwilligung gebunden.“
„Wenn das deine ganze Weisheit ist – damit ist es Essig. Franz ist mündig, und gesetzlich kann ich ihm nichts anhaben, das liest du ja schon in seinem Brief.“
„Aber er ist doch Elsa so gut wie versprochen.“
„Quatsch mir doch nicht immer mit eurer Elsa dazwischen! Würde mich ja auch nicht gerade verlocken, sie zur Frau zu nehmen. Wahrscheinlich hat er sich umso leichter fangen lassen, weil er sich vor einer Verbindung mit der albernen Gans graulte. Zeig mir den Wisch her, ich will ihn in Ruhe noch einmal lesen!“
Seine Frau reichte ihm den Brief. Er trat damit ans Fenster und las ihn nochmals durch.
Lieber Vater, liebe Mutter!
Ihr werdet das, was ich euch mitzuteilen habe, nicht gerade freudig aufnehmen. Ich bin mir voll bewusst, dass ich euch Ärger bereiten werde, aber seid überzeugt, dass ich nicht anders handeln kann. Ich habe mich heute mit Fräulein Hella Rasmussen, der Tochter des Bildhauers Professor Fritz Rasmussen, verlobt. Seid mir nicht böse, aber ich konnte euren Wunsch, Elsa Kleefeld zu heiraten, nicht erfüllen. Die junge Dame ist mir, so viel ich mich ihrer erinnern kann, sehr unsympathisch. Fräulein Rasmussen aber hat alle Vorzüge des Geistes und des Körpers und ist als einzige Tochter eines bekannten Künstlers auch nicht unvermögend. Wir lieben uns und bitten um eure Einwilligung zu unserer Verlobung. Ich werde sonst in allem deinen Wünschen nachkommen, lieber Vater. Du sollst dich nicht über mich zu beschweren haben.
Ich weiß, dass du nichts unversucht lassen wirst, diese Verlobung zu lösen, deshalb – nur um dir Unruhe und Aufregung zu ersparen – teile ich dir mit, dass alles vergeblich wäre, was du in diesem Sinn unternehmen wolltest. Selbst wenn du mir in Zukunft alle Existenzmittel verweigern würdest und mir dein Haus verschließen wolltest, würde ich nicht von Hella lassen. Ihr Vater liebt sie so sehr, dass er uns ohne Zögern die nötigen Mittel bewilligen würde zu unserem Unterhalt, bis ich selbst eine Existenz geschaffen hätte. Wenn der erste Zorn bei dir verraucht ist, wirst du einsehen, dass mein Vorgehen nicht so schlimm ist, und wirst uns dein Jawort nicht vorenthalten. Ich bitte dich noch einmal herzlich darum. Nur eins will ich gleich noch bemerken, unsere Hochzeit will ich nicht lange hinausschieben, ich werde mit meinem Schwiegervater den Termin auf Ende September festsetzen.
Zum Schluss noch einmal: Verzeiht mir und gebt euren Segen eurem herzlich grüßenden Sohn Franz.
Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, warf er ihn in einem neuen Wutanfall auf den Boden und trat mit den Füßen darauf herum. Dann ging er nachdenklich hin und her, hob nach einer Weile den Brief wieder auf und las ihn nochmals.
Endlich sagte er mit verbissenem Grimm: „Gar nichts ist da zu machen. Er hat die Sache fein am Schnürchen und bindet mir einfach die Hände. Da steckt natürlich das Lumpenpack dahinter. Professor! Bah, so schimpfen sich alle, die Herren Künstler, ich kenne das. Und so etwas soll ich in meine Verwandtschaft aufnehmen!“
Wieder griff er nach dem Brief, wieder las er ihn durch, um einen Punkt zu entdecken, wo er den Hebel hätte ansetzen können. Vergebens.
„Nichts, rein nichts kann ich dagegen tun, ich muss mich einverstanden erklären.“
„Aber Ernst, was sagen wir nun Kleefelds?“
„Die Wahrheit natürlich, dass sich unser Herr Sohn hat einfangen lassen und für die liebe Elsa dankt. Eine schöne Wut werden die haben.“
„Dass ich das erleben muss“, jammerte die Frau. „Die Leute werden mit den Fingern auf uns zeigen.“
„Dass ihr Weiber an das Nebensächlichste immer zuerst denkt! Mir ist die Geldfrage am wichtigsten.“
„Wenn ich nur erst wüsste, was wir jetzt mit den Möbeln anfangen sollen!“
„Herrgott, das ist doch klar! Wir haben sie für unseren Sohn gekauft und in die Wohnung gestellt, die er beziehen wird, wenn er heiratet. Der Kaufvertrag ist von mir für meinen Sohn abgeschlossen, von einer Frau ist darin keine Rede gewesen. – Meinen Hut, meinen Stock! Ich will sofort zu Kleefelds gehen und Ihnen die Sache unterbreiten. Dann hab ich das hinter mir. Und dann werde ich meinem Herrn Sohn ein Briefchen schreiben, dass ihm die Augen übergehen.“
***
Wenn Hella geahnt hätte, welche Szenen die Nachricht von ihrer Verlobung hervorrief, wie schwer wäre ihr das Herz geworden!
Doch sie ahnte nicht, was ihr bevorstand, und einstweilen schwamm sie in Glück und Wonne. Franz Boßneck hatte, nachdem er abends den Brief an seinen Vater zur Post beförderte, die Nacht sehr ruhig geschlafen. Am nächsten Vormittag ließ er sich zu passender Stunde bei Professor Rasmussen melden und hielt in aller Form um die Hand Hellas an.
Rasmussen hatte dem jungen Mann gegenüber Platz genommen, und hörte ruhig seinen Antrag an. Die großen, machtvollen Künstleraugen ruhten ernst und forschend auf dem Gesicht Boßnecks.
Als Franz zu Ende war, sagte er freundlich: „Meine Tochter hat mir gestern Abend bereits Mitteilung von dem Vorgefallenen gemacht. Sie sagen mir, Sie lieben meine Tochter, und Hella liebe Sie. Das ist wohl die Hauptsache. Machen Sie mein Kind glücklich! Sie werden Hellas vollen Wert erst erkennen, wenn Sie mit ihr zusammenleben. Es ist nicht väterliche Eitelkeit, wenn ich Ihnen versichere, dass mein Kind viele Vorzüge und wenige Fehler ihres Geschlechts besitzt.“
Franz hatte mit leiser Ungeduld zugehört und erwiderte aufamtend: „Sie können versichert sein, Herr Professor, dass ich schon jetzt Hellas Vorzüge voll zu würdigen verstehe. Ich werde mich bemühen, sie so glücklich zu machen, wie sie es verdient.“
Rasmussen reichte ihm die Hand. „Ich danke Ihnen für diese Worte. Und nun zu einem anderen Punkt. Wie werden sich Ihre Eltern zu dieser etwas plötzlichen Verlobung stellen?“
Franz sah angelegentlich auf seine Schuhspitzen hinab. „Ich habe meinen Eltern noch gestern Abend brieflich Mitteilung gemacht. Da es der Wunsch meines Vaters war, dass ich mich bald verheirate, zweifle ich nicht, dass ich die Einwilligung erhalte. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie zugleich bitten, unsere Hochzeit nicht lange hinauszuschieben. Ich trete jetzt nach meiner Heimkehr in die Fabrik meines Vaters ein und stehe dadurch ohnedies vor einem neuen Lebensabschnitt. Es wäre mir sehr erwünscht, gleich von Anfang an eine Lebensgefährtin zur Seite zu haben.“
„So bald schon wollen Sie mir mein Kind entführen? Haben Sie an einen bestimmten Termin gedacht?“
„Ich schrieb meinen Eltern, dass ich Sie bitten wollte, Ende September unsere Hochzeit festzusetzen.“
„Das wäre in kaum einem Vierteljahr. Viel Zeit bleibt mir da freilich nicht, mich an den Gedanken der Trennung zu gewöhnen. Aber mag es sein. Hier meine Hand, lieber Franz, ich hoffe, in Ihnen einen guten Sohn gefunden zu haben.“
Mit festem Druck umschloss er Boßnecks Hand. Die beiden Augenpaare trafen ernst ineinander. Vor dem festen, vertrauten Blick zuckten Boßnecks Lider ein wenig hoch, doch er hielt den Blick aus.
Unbekümmert genossen die Verlobten die ersten Tage ihres jungen Glücks. Franz wies den Gedanken an daheim ebenso energisch von sich wie Hella den an Sven Andersen und sein sonderbares Benehmen am Abend ihres Verlobungstags.
Sven selbst zog sich so viel wie möglich von dem Brautpaar zurück. Er konnte den Anblick der beiden nicht ertragen.
Hella war im Stillen froh darüber. Es war ihr peinlich, wenn Franz in Svens Gegenwart zärtlich zu ihr war, sie küsste und liebkoste. Ein rätselhaftes Unbehagen beherrschte ihr ganzes Wesen, solange sie mit Franz zusammen in Svens Nähe war.
Sahen sie sich zuweilen in Abwesenheit des Bräutigams, dann verkehrten sie freundlich und herzlich wie früher miteinander. Trotzdem war Hella wie von einem Zwang befreit, als Sven abreiste.
Am Tag nach Svens Abreise traf endlich ein Brief seines Vaters bei Franz ein. Mitbegreiflicher Hast öffnete er ihn und überflog gespannt das Schreiben. Es lautete:
Mein Sohn!
Ich muss mich allerdings überwinden, dir diesen Namen zu geben. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich einen Sohn habe.
Dein Brief mit der Ankündigung deiner übereilten Verlobung liegt vor mir. Ich muss ihn wieder und wieder lesen, um mich zu überzeugen, dass ich nicht träume.
Ich möchte dich bestimmen, diesen verrückten Schritt rückgängig zu machen – zu deinem Besten, denn ich bin überzeugt, du bist einer Kokotte ins Garn gegangen.
So leichtfertiges Künstlervolk passt nicht zu unserer soliden, ehrlichen Art. Lass dir raten und kehr um!
Solltest du darauf bestehen, dieses Mädchen zu heiraten, so richte dir alles ein, wie du willst. Deine Wohnung ist bereit, und auch die Möbelausstattung ist schon beschafft. Wir erhielten ein günstiges Angebot, hofften damals freilich, Elsa Kleefeld würde deine Frau werden. Du hast uns diese Hoffnung zuschanden gemacht.
Ich denke, dass du dich nun in Zukunft befleißigst, in allen Stücken unsere Zufriedenheit zu erringen. Du bist uns viel schuldig geworden durch deinen Leichtsinn. Deine Mutter ist krank vor Ärger und Aufregung, aus diesem Grund dürfte es besser sein, du hältst uns deine Braut vorläufig fern. Wir müssen uns erst an den Gedanken gewöhnen. Am besten ist es, du richtest es ein, dass wir eine Zusammenkunft bis zur Hochzeit vermeiden. Ich könnte nicht für mich garantieren. Und da es so weit gekommen ist, dass mein Sohn lieber Eltern und Vaterhaus lassen will als diese fremde Person, so ist es für beide Teile besser, wir sehen uns vorher nicht.
Wenn du Ende September durchaus heiraten willst, so tue es. Deine Mutter wird dafür sorgen, dass dein neuer Hausstand ein ordentlicher und geregelter wird, denn deine Braut, die sicher in einer sogenannten genialen Umgebung groß geworden ist, wird wenig genug davon verstehen. Da ist es schon besser, wenn Mutter die Zügel in die Hand nimmt, bis deine Frau gelernt hat, was Ordnung ist.
Ich ersuche dich, sobald als möglich heimzukehren, damit du in der Fabrik eingearbeitet bist, wenn du Hochzeit hältst. Eine lange Hochzeitsreise nimm dir nicht etwa vor. Es darf nicht von neuem ein Bummelleben anfangen, das mache auch deiner künftigen Frau klar. Damit schließt für heute dein Vater
***
Franz triumphierte. Er hatte seinen Vater überlistet.
Nun konnte er Rasmussen und Hella sagen, dass seine Eltern einverstanden wären. Alles andere war Nebensache.
Er erzählte seiner Braut und ihrem Vater, dass seine Mutter leider erkrankt wäre und deshalb seine Angehörigen vorläufig auf eine Zusammenkunft mit Hella und ihrem Vater verzichten müssten. Zur Hochzeit kämen sie aber bestimmt, und bis dahin ließen sie herzlich grüßen.
Rasmussen und Hella waren zu ehrliche Naturen, um hinter diesen Worten Winkelzüge zu vermuten. Sie bedauerten sehr, dass die Mutter krank war, und Hella schrieb einen liebenswürdigen, warmherzigen Brief an ihre Schwiegereltern, der auch nach einiger Zeit von ihrem Schwiegervater mit einigen Worten beantwortet wurde, in denen er darauf hindeutete, dass seine Frau nicht wohl genug wäre, ihr wieder zu schreiben. Er selbst habe wenig Zeit zu Privatkorrespondenz, solange Franz ihn nicht entlastete.
Daraufhin entschloss sich Franz, seinen Urlaub um einige Tage abzukürzen, obwohl es ihm nicht leicht wurde, aus dem Arm der Liebe in die kühle Atmosphäre des Vaterhauses zurückzukehren.
Man vereinbarte, gemeinsam aufzubrechen. Franz sollte in Berlin einen Tag Station machen, um Rasmussens Heim kennen zu lernen, ehe er heimfuhr.
Es wurden Zukunftspläne geschmiedet. Hella war enttäuscht, als ihr Franz die Eröffnung machte, dass seine Eltern bereits die Möbel gekauft hätten. Sie hatte sich darauf gefreut, alles selbst auszusuchen und ihrem Schönheitssinn folgen zu dürfen.
Ihrem Vater schien ein anderer Punkt bedenklich. Es gefiel ihm gar nicht, dass seine Tochter mit ihren künftigen Schwiegereltern zusammen in einem Haus wohnen sollte. Das tat selten gut. Er fragte seinen Schwiegersohn, ob sich das nicht ändern lasse.
Der junge Mann verneinte ganz entschieden. „Das kann ich meinen Eltern nicht antun, lieber Schwiegerpapa, sie würden es weder verstehen noch verzeihen, wenn ich jetzt plötzlich erklären wollte, die Wohnung, die seit Jahren für mich bestimmt ist, sei mir mit einem Mal nicht angenehm. Wir bewohnen die zweite Etage und können uns dort ebenso gut isolieren, wie wenn wir in einem anderen Haus wohnten.“
***
Sven Andersen stand in seinem Atelier vor einem nassen Tonklumpen, um daraus ein neues Werk erstehen zu lassen. Sein Modell, ein schlankes, sehr junges Mädchen, war eben von ihm entlassen worden und machte sich hinter einer spanischen Wand zum Fortgehen fertig. Dann trat es einen Augenblick neben ihn und sah mit kritischen Augen auf das, was Sven heute geschaffen hatte.
„Adieu, Herr Andersen!“, sagte es.
„Adieu, Fräulein Linda“, rief er zerstreut, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. „Bitte morgen Früh pünktlich!“
„Darauf können Sie sich verlassen. Wann kommt eigentlich Professor Rasmussen zurück?“
„In zwei bis drei Tagen.“
„Danke. Das ist gut.“
„Wollen Sie etwas von ihm?“
„Ich nicht, aber mein jüngster Bruder steht ihm doch immer Modell und zuweilen auch mein Vater. Da merken wir natürlich gleich, wenn der Herr Professor fort ist. Das ist ein Ausfall in unserer Einnahme.“
„Natürlich, das vergaß ich. Nun aber adieu, Fräulein Linda.“
„Adieu.“
Sie ging. Draußen vor der Tür traf sie August Brösselt. Sie nickte ihm freundlich zu.
Er schritt neben ihr durch den Garten, um ihr das Tor aufzuschließen. Dann ging er langsam wieder durch den Garten zurück und betrat das Atelier.
„Herr Andersen!“
„Was ist los, Brösselt.“
„Wollen Sie nun nicht erst ein bisschen essen?“
„Später. Ich habe jetzt keine Zeit.“
„Aber das geht doch nicht. Seit heute Morgen haben Sie keinen Bissen zu sich genommen.“
„Ich habe keinen Hunger.“
„Und ich habe so ein delikates Hühnchen für Sie gebraten und frischen Salat dazu gemacht. Es wird verderben, wenn es noch länger stehen muss.“
„Sie sind ein Quälgeist, Brösselt!“
„Es ist schon alles zurechtgestellt, Herr Andersen. Sie brauchen sich nur hinzusetzen und zu essen. Ich feuchte inzwischen den Ton an. Sie verlieren wirklich nicht viel Zeit.“
Sven trat lächelnd von seiner Arbeit zurück. „Dann muss ich wohl nachgeben. Sie lassen mir ja doch eher keine Ruhe.“
Brösselt strahlte. Sorgsam hüllte er den Tonklumpen in nasse Tücher und folgte dann seinem Herrn, der sich oben bereits die Hände gewaschen hatte und am Tisch saß.
Brösselt servierte flink und sah befriedigt zu, wie es seinem Herrn schmeckte.
„Übermorgen kommt der Herr Professor zurück, Herr Andersen.“
„Hat er seine Ankunft schon gemeldet?“
„Ja, Frau Liebentrut hat es mir vorhin erzählt. Der Bräutigam vom gnädigen Fräulein kommt auch mit, aber nur auf einen Tag.“
Sven schob den Teller von sich. Sein Gesicht hatte sich verdüstert.
„Sind Sie schon satt, Herr Andersen? Sie haben ja kaum die Hälfte gegessen.“
„Das andere lassen Sie sich schmecken, Brösselt.“
„Ich habe schon gegessen.“
„Dann machen Sie damit, was Sie wollen.“
Die letzten Worte sprach Sven ungeduldig und rau. Brösselt sah ihn bestürzt an und machte ein betrübtes Gesicht.
Das tat Andersen Leid. Was konnte der arme Kerl dafür, dass ihm der Gedanke an Boßneck die Stimmung verdarb? „Ich kann es auch heut Abend kalt essen, Brösselt. Machen Sie nur nicht gleich wieder so unglückliche Augen!“
Brösselt lächelte schon wieder.
Sven ging in sein Atelier zurück. Er nahm aber die feuchten Tücher nicht von seiner Arbeit herab. Langsam schritt er auf und ab. Die Falte auf seiner Stirn hatte sich vertieft, und der herbe Zug um den Mund verriet Gram. Die Augen, sie sonst durch ihr strahlendes Leuchten die scharfen Linien seines Gesichts gemildert hatten, blickten trübe.
Wie schwer hatte er mit seiner Liebe, mit seinem Schmerz gerungen, seit er nach Berlin zurückgekommen war! Das Leben schien ihm hier noch unerträglicher, hier, wo jeder Winkel, jeder Gegenstand in irgendeiner Beziehung zu Hella stand.
Schaute er in den Garten hinaus, so schien ihm Hellas lichte Gestalt entgegenzuschweben, stand er vor seiner Arbeit, glaubte er, ihre klare Stimme zu hören. Wenn er hinüberblickte nach Rasmussens Wohnhaus, suchte sein brennender Blick die Fenster ihres Zimmers, als müsste jeden Augenblick ihr goldblonder Kopf erscheinen. Und so ging es mit allem. Immer unfassbarer erschien es ihm, dass das nun alles vorbei sei, dass Hella für alle Zeit aus seinem Leben verschwinden solle.
Zwei Tage später kehrte Rasmussen mit Hella und ihrem Verlobten heim. Franz Boßneck sah sich mit einiger Verwunderung im Haus um. Solch eine Einrichtung hatte er noch nie zu sehen bekommen. Also so sah es in einem Künstlerheim aus.
Dass die zahlreichen Gemälde und Skulpturen einen bedeutenden Kunstwert repräsentierten, war ihm vollständig unbekannt. Die originelle und reizvolle Ausstattung der Räume bezeichnete er still für sich als verrückt. Er wusste nicht, was er aus der malerischen Stoffdekoration, dem Herumliegen von Gegenständen, die er kaum kannte, machen sollte. Jedenfalls sah es gräulich unordentlich aus. Er stellte sich vor, mit welcher Vehemenz seine Mutter hier Ordnung schaffen würde.
Dass Hellas Erscheinung erst in dieser Umgebung den richtigen Rahmen erhielt, verstand er nicht, doch war er verliebt genug, um sie auch hier reizend und begehrenswert zu finden.
Als ihm Hella Frau Liebentrut vorstellte und er ihr in seiner liebenswürdigen Art ein paar freundliche Worte sagte, war die alte Frau ganz entzückt.
„Wissen Sie, Hellachen, was mich am meisten freut bei Ihrer Verlobung?“, sagte sie später zu dem jungen Mädchen, als sie einen Moment mit Hella allein war.
„Was denn, Liebentrutchen?“
„Dass Sie aus dieser Puppenwirtschaft herauskommen. In so ’ner reichen Kaufmannsfamilie, da kriegen Sie so etwas nicht zu sehen!“
Hella lachte. „Gutes Liebentrutchen, ich werde mir deshalb in meinen neuen Haushalt einige von den Steinpuppen mitnehmen. Ich bin daran gewöhnt.“
„Na, wenigstens werden da nicht immer wieder neue gemacht wie hier beim Herrn Professor und bei dem Herrn Andersen.“
Hella wurde ernst. „Wie geht es Herrn Andersen? Haben Sie ihn häufig gesehen?“
„Nur zwei- oder dreimal. Er muss wohl wieder was arbeiten, denn ich sehe frühmorgens immer sein Modell durch den Garten gehen. Brösselt sagt, er vergisst wieder Essen und Trinken über der Tonkneterei.“
„Schicken Sie doch hinüber, er soll heute Mittag mit uns speisen, wenn er Lust hat.“
„Der Herr Professor hat schon hinübergeschickt. Herr Andersen hat aber sagen lassen, er könnte unmöglich abkommen.“
„So, dann freilich…“
Hella ging wieder zu den beiden Herren hinüber, die sich in Rasmussens Atelier befanden. Ihr Vater zeigte seinem künftigen Schwiegersohn, was er an eigenen Arbeiten und Entwürfen da hatte.
Franz stand gerade mit sehr gemischten Gefühlen vor einer entzückenden Gruppe spielender Kinder.
Hella trat neben ihn. „Das ist nach meiner Ansicht das Schönste, was Papa geschaffen hat. Die drei Buben sind meine ganz besonderen Lieblinge. Findest du sie nicht auch wundervoll, Franz?“
„Sehr schön, ganz allerliebst!“, stimmte er zerstreut bei.
Rasmussen war ein zu fein empfindender Mensch, um nicht zu merken, dass sein Schwiegersohn sich einen gewissen Zwang auflegte. Es war ihm unangenehm, ihm ein Interesse heucheln zu sehen, das er nicht empfand. Mit ruhiger Freundlichkeit führte er ihn hinaus in den Garten.
***
Franz Boßneck wurde im Elternhaus nicht nur kühl, sondern geradezu eisig aufgenommen. Sein Vater beschränkte den Verkehr mit ihm auf die notwendigen geschäftlichen Besprechungen; von seiner Verlobung erwähnte er kein Wort.
Die Mutter ging mit vorwurfsvollen Mienen um ihn herum. Sie sorgte zwar für sein leibliches Wohl, sprach aber auch nur wenige Worte mit ihm.
Berta dagegen konnte sich nicht versagen, in seiner Gegenwart recht oft die „arme Elsa“ zu erwähnen, was ihr von seiner Seite nicht gerade mit großer Liebenswürdigkeit gelohnt wurde.
Mit der Zeit wurde die Stimmung dann aber doch etwas besser. Die totale Ungnade verwandelte sich in resignierte Duldung, und mit Aufgebot seiner ganzen Liebenswürdigkeit brachte Franz seine Mutter dazu, Hella einige freundliche Worte zu schreiben.
Als dann eines Tages Hellas Fotografie eintraf und Franz sie seinen Eltern zeigte, umspielte die Lippen seines Vaters ein faunisches Lächeln. „Das glaube ich, dass dir die den Kopf verdreht hat“, sagte er mit einem unnachahmlichen Ausdruck. „Aber halte sie kurz, das rate ich dir!“
Frau Emilie Boßneck kramte und wirtschaftete jeden Tag in der zukünftigen Wohnung des jungen Paares herum, und Franz musste öfter mit hinaufkommen, um zu erklären, ob ihm alles recht sei, wie sie es einrichtete.
„Mir ist alles recht, wie du es für gut findest, Mutter. Ordne alles ganz nach deinem Belieben“, sagte er.
„Nein, nein, du sollst dir alles ansehen, ob es so gut ist, damit deine Frau später nicht sagt, es sei nach meinem Kopf gegangen und gefalle ihr nicht. Was du haben willst, muss ihr recht sein.“
„Sie wird dir sicher danken, dass du alles so schön einrichtest, Mutter.“
„Das wollen wir abwarten. Das Ei will manchmal klüger sein als die Henne.“
„Das brauchst du wirklich nicht zu befürchten. Meine Braut ist fügsam und liebenswürdig.“
Hier lachte Ernst Boßneck, der Zeuge des Gesprächs war, höhnisch auf. „Vor der Hochzeit sind sie das alle. Baue nicht zu fest auf diese liebenswürdige Fügsamkeit, denn es könnte Komödie sein.“ Solche Szenen wiederholten sich noch oft.
Das Verhältnis der Familie Boßneck zu Kleefelds war erst sehr gespannt gewesen, aber die „liebe Elsa“ kam eines Tages ganz unerwartet zur „lieben Tante Boßneck“. Da Franz gerade daheim war, wurde auch ihm eine verzeihende Begrüßung zuteil und aus ihren Augen traf ihn ein so wehmütig entsagender Blick, dass er ganz gerührt war.
Gar so hässlich, wie er geglaubt hatte, war diese junge Dame gar nicht! Und da sie ihn schwärmerisch anschmachtete und seine Eitelkeit sich dadurch sehr geschmeichelt fühlte, fand er sie schließlich sogar „ganz nett“.
***
In Rasmussens Haus war inzwischen das Leben seinen alten Gang gegangen. Sven kam abends wieder regelmäßig zu einem Plauderstündchen wie früher.
Der junge Mann gab sich unbefangen, wusste er doch, dass er Hellas Ruhe und Frieden stören würde, wenn sie ahnte, was ihr Verlust für ihn bedeutete.
Seine einsamen vier Wände bekamen freilich ein anderes Bild zu schauen. Obwohl er mannhaft gegen die Verzweiflung kämpfte, überkam ihn doch oft genug ein an Wahnsinn grenzender Schmerz. Er vergrub sich förmlich in seine Arbeit, und Rasmussen stand oft in ehrlicher Bewunderung vor dem, was Andersen in dieser Zeit schuf.
Rasmussen selbst arbeitete an einer Kopie seiner „spielenden Kinder“. Hella sollte damit ihr Heim schmücken und des Vaters dabei gedenken. Von Sven erhielt sie als Hochzeitsgeschenk eine in Marmor ausgeführte kleine Kopie eines früheren Werkes: „Das Mädchen mit der Perle“. Dies war eine Mädchengestalt, die halb neugierig, halb bewundernd auf eine Perle herabsah, die sie auf der ausgestreckten Hand liegen hatte. Man sah, sie war eben dem Wasser entstiegen, in dem sie das Kleinod gefunden hatte. Wie alle Schöpfungen Svens umwebte auch dieses Frauenbild ein eigenartiger Reiz. Hella war außer sich vor Freude über dieses Geschenk.
Einige Tage vor der Hochzeit kam die Familie Boßneck nach Berlin. Die angebotene Gastfreundschaft Rasmussens hatte Ernst Boßneck mit dem Bemerken abgelehnt, dass er im Zentrum der Stadt Wohnung nehmen wollte, damit er bequem zugleich einige Geschäfte abwickeln könnte. Emilie, seine Frau, hätte auch um keinen Preis in der „Künstlerwirtschaft“ hausen möchten. Sie hatte eine fürchterliche Vorstellung von einem sogenannten Künstlerheim.
Die erste Begegnung zwischen den neuen Verwandten fand im Hotel statt, in dem die Boßnecks abgestiegen waren. Sie fiel sehr steif und gezwungen aus. Rasmussen sah bestürzt in die kalten, ausdruckslosen Gesichter von Mutter und Tochter Boßneck, denen Engherzigkeit und Stumpfsinn so sichtbar ihren Stempel aufgedrückt hatten.
Noch weniger als Mutter und Tochter gefiel dem alten Herrn Ernst Boßneck. Der Ausdruck brutaler Selbstherrlichkeit in den kleinen, stechenden Augen verursachte ihm direkt Unbehagen. Als Mann von Erziehung ließ er sich natürlich nichts von seinem Empfinden anmerken, er schaute nur verstohlen zu seiner Tochter hinüber, um zu sehen, welchen Eindruck ihr diese neuen Verwandten machten.
Hella war bis ins innerste Herz hinein erschrocken beim Anblick dieser Menschen. Ihr lebhaftes Schönheitsgefühl suchte vergeblich bei Ihnen nach einer Spur von dem blendenden Äußeren ihres Verlobten. Die beiden Damen kamen ihr direkt lächerlich vor in ihren geschmacklosen Toiletten, und sie wäre ihnen am liebsten mit ihren geschickten Händen durch das fest angeklebte Haar gefahren, um es locker und kleidsam um den Kopf zu ordnen.
Sie schalt sich gleich darauf selbst aus, dass sie sich durch Äußerlichkeiten so stark beeinflussen ließ, und zwang sich zu liebenswürdigem Entgegenkommen. Es gelang ihr aber nicht, die Eiseskälte aufzutauen, die ihr von diesen Menschen entgegenstrahlte.
Mit einer an Angst grenzenden Innigkeit suchten ihre Augen wieder und wieder ihren Verlobten. Aber war es der ernüchternde Eindruck, den seine Familie ihr machte, oder lag es an ihr selbst – sie fand sein Gesicht weniger edel und geistvoll, wie es ihr in der berauschenden Seligkeit junger Liebe erschienen war. Seine Schönheit erschien ihr nichts sagend, wenn sie sich auch einzureden versuchte, dass es Einbildung wäre.
Sie steigerte sich bewusst in die alte, schwärmerische Liebe für ihn hinein und verbannte mit Aufgebot aller Energie das Gefühl bangen Zagens, das sie zu erfassen drohte. Als sie einige Minuten mit Franz allein war und er, von neuem berauscht von ihrem Reiz, heiße Küsse auf ihre Lippen drückte und ihr zärtliche Worte sagte, atmete sie wie erlöst auf.
Am nächsten Tag fuhr die Familie Boßneck zu Rasmussens Villa hinaus. Sie hatte eine Einladung zum Mittagessen angenommen.
Auf der Fahrt herrschte tiefstes Schweigen. Franz dachte etwas beklommen an das Durcheinander im Haus seines Schwiegervaters. Was würde seine Mutter dazu sagen?
***
Frau Emilie dagegen bereitete sich im Stillen auf das Schrecklichste vor. Sie war überzeugt, eine heillose Wirtschaft vorzufinden, denn ihre Schwiegertochter sah nicht aus, als ob sie sich viel um den Haushalt kümmerte.
Als sie nun ankamen, bereitete es ihr geradezu eine Genugtuung, sich nicht getäuscht zu haben. Herrgott, wenn sie doch hier hätte aufräumen können! Verstohlen wischte sie mit dem Finger über einige Möbelkanten und konstatierte mir großer Beruhigung, dass Staubspuren daran hafteten.
Während die Unterhaltung sich mühsam hinschleppte, blickten Frau Emilies Augen in allen Winkeln herum, und wenn es noch nichts ganz fest bei ihr gestanden hätte, den Haushalt ihres Sohnes unter persönlicher Aufsicht zu halten, heute hätte sie sicher diesen Entschluss gefasst.
Der nächste Tag war Hellas Polterabend. Rasmussen hatte zur Feier den größten Teil seiner Bekannten geladen, da die Hochzeit nur im engeren Kreis in einem Hotel gefeiert werden sollte.
Frau Liebentrut hatte im großen Speisezimmer ein auserlesenes kaltes Büfett aufgestellt.
Die Gäste gehörten in der Mehrzahl Künstlerkreisen an: Maler, Bildhauer, Schauspieler und Schriftsteller, die mit ihren Damen eine heitere Gesellschaft bildeten. Es war manch auffallende Persönlichkeit darunter, und der Ton, der zwischen ihnen herrschte, war ungezwungen, sogar ausgelassen fröhlich. Hier gab es keine engherzige Prüderie. Frisch und frei gaben sich diese Menschen und verstanden einander.
Während Ernst Boßneck mit prüfenden Blicken die hübschen Frauen und Mädchen betrachtete, fuhr Mama und Tochter Boßneck ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Gottlob, dass es so etwas daheim nicht gab! Es war ja himmelschreiend, wie ungezwungen diese Frauen hier kokettierten und mit Männern verkehrten! Und ihre Schwiegertochter mitten darin, scherzend und lächelnd, mit glühenden Wangen und strahlendem Blick und… schön, sinnverwirrend schön.
Franz Boßneck folgte wie trunken mit seinen Augen seiner Braut. Heiß und sengend hielt sein Blick sie fest in auflodernder Leidenschaft.
Morgen war sie sein, morgen wurde er der Herr über ihre blühende Schönheit! Die Lichter tanzten vor seinen Augen, und als Hella gerade zu ihm trat, umfasste er mit jähem Druck ihr Handgelenk.
„Hella, du bist so schön! Wär doch erst dieser Tag zu Ende! Morgen bist du mein – mein“, flüsterte er ihr zu, und sein heißer Atem streifte ihren Nacken.
Sie zuckte zusammen und erschauerte, als sei ein eisiger Hauch über sie hingefahren. Sein glühender Blick erschreckte sie, und der leise Weinduft, der seinem Mund entströmte, verursachte ihr Widerwillen.
Aber dann warf sie den Kopf zurück, als wollte sie lästige Gedanken abwehren, und nickte ihm lächelnd zu. Sie wollte fröhlich sein und sich nicht den letzten Abend im Vaterhaus durch Grillen verderben.
Die Boßneckschen Damen waren natürlich für die heitere Gesellschaft ein Gegenstand des Spotts. Man wunderte sich, dass die schöne und geistvolle Hella Rasmussen in solch eine grässliche Banausenfamilie hineinheiraten wollte, aber man fand diese Kleinstadtypen viel zu ulkig, um nicht ihre Anwesenheit mit Vergnügen zu genießen.
Viel zu früh für die spottlustige Gesellschaft brachen die Kleinstädter auf. Nur Franz blieb zurück und entfernte sich erst mit dem letzten der Gäste.
***
Als Hella sich nach der Hochzeit von ihrem Vater verabschiedete, erfasste die junge Frau eine jähe, unbezwingliche Angst vor der Zukunft. Mit zitternden Armen umklammerte sie seinen Hals und rief mit bebender Stimme: „Papa, lieber Papa, könnt ich doch bei dir bleiben!“
Ihm war das Herz schwer, aber er zwang ein Lächeln in sein Gesicht. „Kind, das ist der Lauf der Welt. Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Mann anhangen. Du musst dich dreinfügen. Sei tapfer und erschwere dir und mir den Abschied nicht!“
Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust. „Wenn ich gewusst hätte, wie schwer mir die Trennung wird, ich – ich wäre nicht von dir gegangen. Ich fürchte mich vor der Zukunft, lieber Papa. Franz’ Angehörige sind so sonderbar zu mir.“
Rasmussen strich ihr beruhigend die heißen Wangen.
„Kind, mach dir das Herz nicht schwer! Deines Mannes Angehörige sind hier nicht am rechten Platz. Sie geben sich steif und gezwungen. Daheim werden sie schon auftauen. Du hast ja deinen Mann zur Seite, er wird dich verstehen. Und nun sei vernünftig! Jede Frau wird ähnlich wie du empfinden, wenn sie aus lieb gewordenen Verhältnissen dem Mann in einen fremden Kreis folgen soll. Eines vergiss nie, was dir das Leben auch bringen mag: Bleib dir selbst treu, mein geliebtes Kind, und wenn du kein Verständnis finden solltest in deiner neuen Umgebung, so verliere den Mut nicht gleich! Bei mir findest du schließlich immer Trost und Teilnahme für alles, was dich bewegt. Ich bin jede Stunde bereit, dir zur Seite zu stehen.“
Hella hob ihr tränenvolles Gesicht zu ihm auf und bezwang ihre mutlose Stimmung. Sie lächelte. „Ich bin ein törichtes Geschöpf, dass ich dir zum Abschied noch das Herz schwer mache, Papa. Vergiss, was ich sagte! Es wird schon alles gut gehen. Ich will versuchen, mir die Liebe der Familie meines Mannes zu erringen, und gelingt es mir nicht – nun, so werde ich ohne sie fertig werden. Du bleibst mir ja, auch wenn du mir fern bist.“
Sie hielten sich lange umschlungen, dann riss sich Hella los und ging zu ihrem Gatten, der vor der Tür des Zimmers auf sie wartete.
Die Hochzeitsgäste waren im Saal des Hotels zurückgeblieben, nur Sven wartete am Ausgang, um ihr Lebewohl zu sagen.
Als sie am Arm ihres Gatten zu ihm trat, reichte sie ihm ihre kleine, bebende Hand zum Abschied. Er fühlte, dass sie kalt war.
„Leben Sie wohl, Sven! Schützen Sie Papa vor traurigen Gedanken, wenn er allein ist! Helfen Sie ihm, die Trennung zu ertragen!“
Er vermochte nicht zu antworten. Seine hohe, kraftvolle Gestalt, die im Frack nicht sehr vorteilhaft aussah, neigte sich vor ihr. Seine zuckenden Lippen berührten stumm ihre Hand.
Nachdem sich auch Franz flüchtig von Andersen verabschiedet hatte, zog er Hella fort, dem Ausgang zu, wo das Auto auf sie wartete.
Zögernd schritt sie neben ihm dahin. An der Tür wandte sie noch einmal den Kopf, um Sven einen kurzen Abschiedsblick zu gönnen. Da stockte ihr Fuß erschrocken, ihr war, als habe Svens hohe Gestalt geschwankt, und aus seinem bleichen Gesicht starrten die Augen in qualvoller Verzweiflung zu ihr her.
War das nicht derselbe Blick, mit dem er sie an jenem Abend angesehen hatte, als sie ihm ihre Verlobung verkündete?
Und da zerriss der Vorhang vor ihrer Seele. Sie erkannte, was sie diesem Mann gewesen war, und ein heißer Schmerz durchzuckte sie.
***
Frau Emilie Boßneck hatte ein großes Extrascheuerfest veranstaltet, nachdem sie von der Hochzeit ihres Sohnes zurückgekehrt war. Mit einer wahren Wonne setzte sie jeden Winkel vom Boden bis zum Keller unter Wasser. Sie wollte ihrer Schwiegertochter gleich zu Anfang deutlich zeigen, was Ordnung hieß und wie man diese Tugend im Haus Boßneck hochhielt.
In der ganzen Wohnung des jungen Paares roch es erbarmungswürdig nach Seifenwasser und Fußbodenwichse. Es wäre vergebliches Bemühen gewesen, in diesen Räumen wie auch im ganzen übrigen Haus eine einzige Spur von Unordnung, ein noch so winziges Staubkorn zu entdecken. Da hätten alle Schwiegermütter der Welt probierend mit den Fingern umherfahren können auf den Möbeln, sie hätten nichts entdeckt.
Trotzdem lief Frau Emilie selbst noch einmal mit dem Staubtuch durch sämtliche Räume, kurz bevor man das junge Paar von der Hochzeitsreise, die nur auf vierzehn Tage bemessen war, zurückerwartete.
Am liebsten hätte sie auch gleich die Kisten ausgepackt, in denen Hellas Wäsche und all die Sachen verpackt waren, mit denen die junge Frau ihr Heim zu schmücken gedachte. Aber Hella hatte die Schlüssel dazu bei sich behalten. So hatte Frau Emilie diese Kisten in ein kleines leeres Zimmer setzen lassen. Sobald aber ihre Schwiegertochter ankam, würde sie sich die Schlüssel ausbitten, damit auch das übrige nach System in den Haushalt eingeordnet wurde. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Berta mit ihrer Handarbeit am Fensterplatz und sah schon erwartungsvoll die Straße hinab.
Ernst Boßneck war eine Stunde früher als sonst aus der Fabrik gekommen. Er war feierlich in einen schwarzen Rock gekleidet, den er bis oben hin zugeknöpft trug. Sein Gesicht drückte Ungeduld aus, als er, langsam auf und ab schreitend, nach der Uhr sah.
„Siehst du den Wagen noch nicht, Berta?“
„Nein, Vater.“
„Unbegreifliche Bummelei! Sie müssten schon seit fünf Minuten hier sein.“
„Leg deine Arbeit beiseite, Berta!“, sagte die Mutter. „Und gib die Weingläser heraus für den Mittagstisch! Und was ich sagen wollte – ich hoffe, du weißt, wie du dich gegen deine Schwägerin zu benehmen hast. Keine großen Vertraulichkeiten vorläufig. Es ist besser, du hältst dich etwas zurück. Helene hat etwas freie Manieren, die wir ihr erst abgewöhnen müssen. Hast du verstanden?“
„Ja, Mutter.“
„Gut.“
Berta ging hinaus, und ihre Mutter nahm den Beobachtungsposten am Fenster ein. Kaum saß sie dort, als sie am Ende der Straße ein Auto auftauchen sah.
„Sie kommen, Ernst!“, rief sie ihrem Mann zu.
Boßneck ließ sich mit kalter Ruhe in einen Lehnstuhl zurückgleiten und legte die Hände zusammen.
„Sollen wir ihnen nicht bis zur Haustür entgegengehen, Ernst?“, fragte Emilie etwas unsicher.
„Unsinn! Franz weiß, wo wir zu finden sind, und Helenes Hoffart wollen wir nicht bestärken. Sie ist uns Ehrerbietung schuldig, nicht wir ihr. Wir müssen gleich zu Anfang richtig Stellung nehmen, damit sie sich nicht einbildet, dass sie uns auf der Nase herumtanzen kann, wie sie das bei ihrem Vater zu tun gewohnt war.“
Frau Emilie setzte sich wieder.
Draußen fuhr der Wagen vor. Die beiden rührten sich nicht von ihrem Platz. Dann hörte man klingendes Lachen, es scholl fremd und ungewohnt durch das stille Haus. Wie auf Verabredung steiften sich bei dem Klang die Nacken des Ehepaares in strenger Abwehr gegen diesen unerlaubten Lärm.
Die Tür flog auf. Heiter und frisch wie ein sonniger Maientag schritt die junge Frau, gefolgt von ihrem Gatten über die Schwelle. „Grüß Gott, Schwiegermama und Schwiegerpapa! Da sind wir beide – müde und hungrig und durstig, aber doch heiter und guter Dinge“, sagte sie lächelnd.
Beim Anblick der beiden steif aufrecht sitzenden Gestalten machte sie ein erstauntes Gesicht. Nachdem sie ihrer Schwiegermutter die Hand gereicht hatte, die sie flüchtig ergriff und wieder fallen ließ, wandte sie sich Ernst Boßneck zu.
„Gott segne euren Eingang!“, sagte er salbungsvoll und reichte ihr ebenfalls herablassend die Hand.
Hella sah ihn betroffen an. „Sind Sie krank, Schwiegerpapa?“, fragte sie erstaunt.
Seine kalten Augen sahen sie scharf an. „Krank? Weshalb?“
Sie lächelte ein wenig verlegen, sagte aber dann ehrlich: „Ich glaube, weil Sie sich nicht von Ihrem Platz erheben, um mich zu begrüßen.“
Sein Gesicht rötete sich. „Galanterie gegen Familienmitglieder spare ich mir, denn sie sind überflüssig und zeitraubend, ziemen sich auch nicht für mich, da ich als Familienoberhaupt respektiert zu werden wünsche, bitte merken Sie sich das, liebe Helene!“
Hella fühlte sich durch die Art dieser Begrüßung und durch die scharfen Worte verletzt. Dunkles Rot überzog ihr Gesicht, und sie warf den Kopf stolz zurück. Die Antwort aber, die sie schon auf den Lippen hatte, unterdrückte sie auf einen bittenden Blick ihres Mannes. Sie neigte nur stumm das Haupt und ging auf Berta zu, die eben eintrat.
Auch die Schwägerin erwiderte ihre Begrüßung mit steifer, kühler Höflichkeit. Hella fror bis in die Tiefe ihrer Seele, zumal sie bemerkte, dass auch ihr Mann nicht viel wärmer empfangen wurde. Aber sie überwand tapfer das Missbehagen, erzählte von der Reise, vom Wetter und was ihr sonst einfiel.
Aufatmend entfernte sie sich dann mit Franz, um sich in ihre Wohnung zu begeben.
Ehe sie hinausging, rief ihr die Schwiegermutter zu: „Bitte, kommen Sie in einer halben Stunde zu Tisch herunter, aber pünktlich, wenn ich bitten darf!“
Hella neigte den Kopf und ging dann langsam mit ihrem Mann die Treppe hinauf. Das Atmen wurde ihr schwer. Ein beklemmender Druck schien auf dem ganzen Haus zu liegen.
Als sie oben ihre Wohnung betreten hatten und die Tür sich hinter ihnen schloss, nahm Franz seine Frau lachend in die Arme und küsste sie. „So, Maus, der Empfang wäre glücklich überstanden. Nun willkommen in deinem neuen Heim!“
Sie schmiegte sich in seine Arme und sah ihm mit großen, ernsten Augen ins Gesicht. „Ich danke dir, dass du wenigstens ein warmes Wort für mich hast. Deine Angehörigen scheinen sich geeinigt zu haben, mir den Eintritt in ihr Haus gründlich zu verderben.“
„Ach, geh! Sei nicht empfindlich, kümmere dich nicht darum!“
„Das ist leichter gesagt als getan. Mir kommt das Benehmen deiner Eltern direkt unfreundlich vor. Schon in Berlin fiel mir das auf.“
Er lachte verlegen. „Ihnen liegt eben die Elsa Kleefeld noch in den Gliedern.“
Sie bog den Kopf zurück, um ihm besser in die Augen sehen zu können. „Elsa Kleefeld? Wer ist denn das?“
„Närrchen, bist du schwer von Begriff! Elsa Kleefeld war mir von meinen Eltern zur Lebensgefährtin bestimmt worden, ehe ich mich mit dir verlobte.“
Sie machte sich aus seinem Arm los und sah vor sich hin. „Du solltest also eine andere heiraten?“
„Stimmt. Hast du das denn nicht längst an dem feindlichen Wind bemerkt? Du kamst meinen Eltern sehr unerwünscht als Schwiegertochter.“
„Also deshalb!“
„Na, dämmert es nun endlich, Dummerchen? Die Einwilligung zu unserer Verbindung habe ich mir von meinen Eltern ertrotzen müssen. Kannst daraus ersehen, wie verschossen ich in dich war. Die Elsa ist zwar nicht gerade eine Schönheit, aber dafür erbt sie eine runde Million. Die habe ich dir zuliebe schwimmen lassen.“
Hella presste die Lippen zusammen. Die Ausdrucksweise ihres Mannes verletzte sie.
„Warum hast du mir nie vorher etwas von dieser Elsa gesagt, Franz?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Ach, geh, nun sei gut und setz nicht gleich eine pikierte Miene auf! Wozu sollte ich davon reden? Hätte ja gar keinen Zweck gehabt. Oder willst du mir weismachen, dass du mich losgelassen hättest, um der guten Elsa Platz zu machen?“
Sie presste die Hände zusammen. „Weismachen will ich dir gewiss niemals etwas, Franz, das darfst du nicht sagen.“
„Herrgott, nimm doch nicht jedes Wort gleich so tragisch! Das musst du dir abgewöhnen. Sei lustig, Liebchen und langweile mich nicht mit Trauermienen. Und nun komm und sieh dir erst einmal unser Heim an! Wirst Augen machen, wie blitzblank Mutter alles hergerichtet hat.“
Er führte sie stolz durch alle Zimmer. Hella sprach kein Wort, sie sah nur mit Schrecken in die geschmacklos eingerichteten Räume.
Franz hielt ihr Verstummen für sprachlose Bewunderung. Seine Mutter hatte sich aber auch selbst übertroffen. Als sie ihren Rundgang beendet hatten, fragte er mit strahlendem Gesicht: „Nun, was sagst du, Maus?“
Sie richtete sich aus ihrer Versunkenheit auf. „Hier muss natürlich alles anders werden“, sagte sie selbstverständlich.
„Anders? Wie meinst du das?“
„Aber Franz, ich bitte dich! Siehst du denn nicht, wie gräulich geschmacklos diese Wohnung hergerichtet ist? Hier kann man sich doch unmöglich behaglich fühlen. Es sieht direkt lächerlich aus, wie die Möbel gleich Soldaten in Reih und Glied aufgestellt sind. Teppiche fehlen auch noch, und andere Tapeten müssen herein.“
Franz wehrte entsetzt ab. „Hella, du willst dir wohl meine Mutter zur unversöhnlichen Feindin machen? Was du sagst, ist unmöglich. Du kannst doch hier nicht ein solches Durcheinander einführen wie bei euch zu Hause.“
„Warum nicht? Das ist schnell geschehen. Ich lasse mir von Papa schicken, was ich brauche, er kauft das in Berlin besser ein.“
„Das wollen wir doch lieber bleiben lassen. Von mir ganz abgesehen, aber meine Mutter würde es nie leiden, daran ist nicht zu denken. Du musst unbedingt Ordnung lernen, Hella! Mutter ist darin eigen.“
Sie sah ihn verständnislos an. „Ich ebenfalls, Franz. Aber Ordnungsliebe und Geschmacklosigkeit sind doch verschiedene Dinge.“
„Na, weißt du, ich finde es weder behaglich noch schön, wenn alles so wild durcheinander herumliegt und -steht wie bei euch zu Hause. Trotzdem könntest du meinetwegen tun, nach was dich verlangt, aber daran ist Mutters wegen nicht zu denken. Sie hat sich so viel Mühe gegeben, uns die Wohnung einzurichten. Es wäre undankbar, wolltest du nur das geringste ändern.“
Hella sah sich trostlos um. „Deine Mutter wird sich nicht gekränkt fühlen, wenn ich mir meine Wohnung, meiner Individualität entsprechend, anders einrichten will. Es ist ja sehr lieb von ihr, dass sie sich der Mühe unterzogen hat, aber schließlich soll doch ich darin wohnen und nicht deine Mutter. Mir wäre es direkt eine Strafe, in dieser Umgebung zu leben, die so unschön wie nur möglich ist.“
Er wurde ärgerlich. „Unschön nur in deinen Augen. Du hast so überschwängliche Ansichten von allem. Das musst du dir abgewöhnen. Du hast in eine solide Kaufmannsfamilie eingeheiratet und musst dich in unserer Umgebung zurechtfinden. Künstlerischen Krimskrams darfst du nicht in mein Vaterhaus verpflanzen. Sei nicht eigensinnig, und füge dich in die geregelte Hausordnung, das kann ich von dir verlangen.“
Hella legte langsam Hut und Handschuhe ab, ohne zu antworten. Hatte sie auch schon auf der kurzen Hochzeitsreise Gelegenheit gehabt, den ungeläuterten Geschmack ihres Gatten, das Fehlen jeden Kunstsinns zu konstatieren, so sah sie jetzt doch erst vollständig klar, wie verschieden ihre Ansichten waren. Ein schaudernder Blick aus ihren Augen flog über die grässliche bunte Blumentapete. Sah Franz wirklich nicht, wie hässlich sie war?
Franz beobachtete sie unbehaglich von der Seite. Ihr ernstes Gesicht gefiel ihm nicht. Er nahm sie in seine Arme und küsste sie. „Willst du unser erstes Alleinsein in unserem neuen Heim vertrotzen, Maus?“
Sie sah ihn an mit bangen Augen. „Ich trotze nicht, Franz.“
„Warum bist du dann so still?“
„Ich dachte daran, wie viel wir noch gegenseitig voneinander lernen müssen, bis wir uns richtig verstehen.“
Er lächelte. „So ist es recht, Maus. Wenn du das einsiehst und den guten Willen hast, dann wirst du dich bald zurechtfinden. Ich verspreche dir auch, nachsichtig zu sein, bis du eine tüchtige kleine Hausfrau geworden bist.“
Es lag sehr viel von seines Vaters selbstgefälliger Art in dem Ton, in dem er das aussprach. Hella sah daraus, wie falsch er sie verstanden hatte. Mit einem leisen Seufzer machte sie sich von ihm los und begann ihre Toilette etwas aufzufrischen.
Boßneck und seine Damen standen schon im Esszimmer hinter ihren Stühlen, als das junge Ehepaar eintrat. Er sah auffällig nach der Uhr und setzte sich dann zuerst. Hella kam plötzlich die Lust an, bei der Gespreiztheit ihres Schwiegervaters laut aufzulachen, aber sie vermochte diesen Lachreiz noch rechtzeitig zu unterdrücken.
Als Frau Emilie die Suppe ausgeteilt hatte, fragte sie Beifall heischend: „Nun, liebe Helene, wie gefällt Ihnen Ihr neues Heim?“
„Sie haben sich viel Mühe gegeben, Mama“, antwortete die junge Frau ausweichend.
„Das macht nichts, ich arbeite gern. Hoffentlich halten Sie in allem Ordnung, damit meine Dienstboten nicht zu viel Zeit für Ihre Wohnung verwenden müssen. Ihre Mahlzeiten nehmen Sie mit uns. Da wir in einem Haus wohnen, wäre es Unsinn, einen getrennten Haushalt zu führen.“
Hella sah zu ihrem Mann hinüber. „Wusstest du darum, Franz?“, fragte sie beklommen.
Er machte ein verlegenes Gesicht. „Natürlich, Hella. Sprach ich nicht davon?“
„Nein, ich hätte dich sonst gebeten, deiner Mutter zu sagen, dass ich meine Küche selbst führen möchte.“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, Franz sah sie aber bittend an, und so unterdrückte sie es.
Stumm nahm sie von den Speisen und überdachte ihre Lage. Angenehm würde es gewiss nicht sein, jede Mahlzeit hier unten mit Menschen einnehmen zu müssen, die sie entschieden feindselig betrachteten. Musste sie sich wirklich darin fügen?
Man hatte ihr die Wohnung eingerichtet, ohne von ihren wünschen Notiz zu nehmen, man bestimmte über ihren Kopf hinweg, was in ihrem Haushalt geschehen, wo sie essen sollte. Zu welcher Art von Leben wollte man sie hier verdammen? Ein ehrlicher Zorn stieg in ihr empor. Sie nahm sich vor, Franz zu bitten, mit ihr lieber eine andere Wohnung zu beziehen, denn das führte gewiss zu nichts Gutem.
„Geben Sie mir das Kompott herüber, Helene!“, tönte da plötzlich die Stimme ihres Schwiegervaters in ihre Gedanken hinein.
Sie schrak zusammen, reichte ihm das Gewünschte und sagte erstaunt: „Warum nennen Sie mich eigentlich immer Helene?“
„Wie soll ich Sie sonst nennen?“
„Hella.“
„Das werde ich nicht tun. Abkürzungen von Namen finde ich lächerlich.“
Nun musste Hella doch lachen. „Ich bin auf den Namen Hella getauft, es ist keine Abkürzung.“
„Aber Unsinn ist es“, rief Boßneck gebieterisch. „Sie werden von uns Helene gerufen. Hella sagt hier kein Mensch.“
Das ging doch über die Grenze dessen, was Hella ruhig ertragen konnte. Sie sah stolz und furchtlos zu dem alten Herrn hinüber. „Sie werden sich trotzdem dazu bequemen müssen, mir meinen Rufnamen zu lassen, da ich in Zukunft auf einen anderen nicht hören werde. Meinen Vaternamen habe ich gegen den Ihren eingetauscht, aber nichts kann mich zwingen, den Rufnamen, den mir meine Eltern gegeben haben, zu ändern, weil er Ihnen nicht gefällt.“
Die ganze Familie Boßneck, Franz inbegriffen, sah mit staunendem Entsetzen auf die junge Frau, die es gewagt hatte, dem Oberhaupt der Familie einen Verweis zu geben. Der Hausherr selbst schnappte einige Male nach Luft wie ein Karpfen, der auf dem Trockenen liegt. Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass es krachte, und schrie wütend: „Ich bitte mir Respekt aus! Diesen Ton verbitte ich mir – verstanden?“
Hella war blass geworden, sah ihm aber ruhig ins Gesicht. „Und ich möchte Sie bitten, nicht zu vergessen, dass ich eine Dame bin“, sagte sie bestimmt.
„Dame – was, Dame? Sie sind ein Mitglied meiner Familie und mir Gehorsam schuldig.“ Hella wollte etwas erwidern, aber ehe sie noch dazukam, schrie er weiter: „Ruhe! Ich dulde keinen Widerspruch in der Familie, am wenigsten von den Frauensleuten!“
Hella sah sich langsam im Kreis um. Die beiden Frauen saßen mit niedergeschlagenen Augen da. Franz hatte einen roten Kopf, sagte aber kein Wort zur Verteidigung seiner Frau.
Sie erhob sich von ihrem Platz und wandte sich der Tür zu.
„Was soll das heißen? Wozu laufen Sie fort?“, rief der alte Herr ihr wütend nach.
Sie wandte ihm ihr blasses, aber ruhiges Gesicht zu. „Sie gestatten, dass ich mich zurückziehe, bis sich Ihr Zorn gelegt hat. Wenn ich Ihnen Respekt erweisen soll, darf ich nicht mit ansehen, wie Sie außerstande sind, sich selbst zu beherrschen.“
Damit ging sie zur Tür hinaus und begab sich in ihre Wohnung. Müde warf sie sich in einen Sessel und überdachte ihre Lage.
Unten im Speisezimmer aber herrschte nach ihrer Entfernung eine Weile erstarrtes Schweigen. Endlich warf Ernst Boßneck Messer und Gabel hin und sprang auf. „Mir das – mir das von dieser Person!“, schrie er seinem Sohn ins Gesicht, und eine Flut von Vorwürfen ergoss sich über sein Haupt. Franz erwiderte kein Wort. Er wusste, dass sein Vater sich am besten beruhigte, wenn man ihn austoben ließ. Er war ärgerlich auf Hella, dass sie durch ihren Widerspruch diese Szene hervorgerufen hatte. Das konnte ja äußerst gemütlich werden, wenn sie nicht Vernunft annahm! Er musste gleich nachher ein ernstes Wort mit ihr sprechen.
Als Franz in seine Wohnung hinaufkam, saß Hella noch immer wie erstarrt in ihrem Sessel.
Er ging einige Male im Zimmer auf und ab, sie verstohlen von der Seite betrachtend. Endlich blieb er vor ihr stehen.
„Dein Debüt ist äußerst glänzend ausgefallen, Hella! Diesen Eklat hättest du vermeiden sollen. Ich muss dich ernstlich bitten, in Zukunft meinem Vater gegenüber einen anderen Ton anzuschlagen. Er verträgt nun einmal keinen Widerspruch.“
Sie sah ihn verwundert an. Fest überzeugt, dass er innerlich ihre Partei genommen hatte, wenn er auch aus Rücksicht für seinen Vater schwieg, sah sie sich durch diese Worte eines anderen belehrt. „Du kannst doch im Ernst nicht verlangen, dass ich mir diese – sagen wir unhöfliche Art deines Vaters gefallen lassen soll? Wenn er mir anständig entgegenkommt, soll er sich nicht über mich zu beklagen haben. Tyrannisieren lasse ich mich jedoch nicht.“
„Sei doch nicht so empfindlich! Wir fügen uns doch alle.“
„Und steigert damit den Despotismus deines Vaters ins Unendliche. Deine Mutter und deine Schwester scheinen mir bedauernswerte Geschöpfe zu sein, wenn sie sich eine derartige Behandlung ruhig gefallen lassen.“
„Bei uns gelten eben noch die guten Sitten“, sagte er streng. „Das Weib soll dem Mann untertan sein.“
Sie sah ihm forschend ins Gesicht. „Soll das heißen, dass auch du den Standpunkt deines Vaters teilst?“
„In gewissem Sinn, ja. Du wirst mir zugeben, dass ich bisher dir gegenüber von meinem Hausrecht noch keinen Gebrauch gemacht habe, und ich hoffe, du zwingst mich nicht dazu, es geltend zu machen. Es wird von dir abhängen, ob du meine Bitten erfüllst, dann brauche ich sie nicht in Befehle zu verwandeln.“
„Vernünftigen Wünschen gegenüber wirst du mich immer fügsam finden“, sagte sie leise.
„Das will ich hoffen. Ich bitte dich also, meinem Vater in Zukunft anders zu begegnen. Wir sind von ihm abhängig und wohnen in seinem Haus, also müssen wir auch Rücksicht walten lassen.“
„Solange dein Vater die Formen einfachster Höflichkeit nicht außer Acht lässt, soll er sich nicht über mich zu beklagen haben. Darüber hinaus kann ich dir nichts versprechen.“
„Du bist ein Trotzkopf.“
Sie fasste nach seiner Hand. „Sag das nicht, Franz! Nie habe ich gegen vernünftiges Wesen getrotzt. Aber ich bin ein freier Mensch, kein Sklave, und wenn ich mich beugen soll, muss ich es aus Überzeugung tun.“
„Kannst du nicht mir zuliebe ein wenig nachgiebiger sein? Auf diese Weise machst du mir das Vaterhaus zur Hölle.“
Sie stand auf und umschlang ihn mit den Armen. „Ich will tun, was ich vermag, dir zuliebe“, sagte sie weich und zärtlich.
Er zog sie fest an sich und küsste sie. „So ist es recht, Maus.“
Sie umfasste seinen Hals und lehnte ihre weiche glühende Wange an die seine. „Franz, müssen wir wirklich unbedingt bei deinen Eltern wohnen? Ich muss dir gestehen, seit ich weiß, wie unwillkommen ich ihnen bin, fürchte ich mich vor dem Leben in diesem Haus. Deine Mutter lässt mir hier gar keinen Wirkungskreis. Ich hatte keine Ahnung, dass wir auch alle Mahlzeiten gemeinsam einnehmen würden. Wir gehören uns ja selbst nicht an, wenn wir stetig mit deinen Eltern zusammen sein müssen. Was soll ich denn hier im Haus, wenn alles deine Mutter tut?“
„Mich beglücken, Maus, mein süßes Frauchen sein, mir die Langeweile fortplaudern.“
„Ach, Franz, das ist für Mußestunden ganz schön. Du bist aber doch viel im Geschäft, ich muss doch etwas haben, womit ich mein Leben ausfüllen kann. Sei gut, lass uns eine andere Wohnung nehmen.“
Er wurde ärgerlich. „Das ist doch Unsinn, Hella. Wegen einer Laune von dir kann ich nicht plötzlich alle Bestimmungen umwerfen. Daran ist nicht zu denken.“
„Franz, mir ist bange um unser Glück, wenn wir hier bleiben.“
„Wirst dich schon hineinfinden mit der Zeit. Mach mir das Leben nicht schwer, dazu hab ich mir doch keine Frau genommen, das hätte ich mit Elsa Kleefeld auch haben können.“
„Franz!“
„Nun ja, es ist doch wahr. Willst du das harmlose Wort auch schon wieder übel nehmen?“
Sie schüttelte stumm den Kopf, und ein beklommener Seufzer entstieg ihrer Brust.
Er küsste sie auf die Wange.
In diesem Augenblick trat seine Mutter ein. Verlegen erhob er sich und schob Hella von sich. Er war ihm unangenehm, dass ihn seine Mutter in dieser zärtlichen Situation überraschte. Die alte Dame sah kalt auf das junge Paar. „Wollen Sie mir die Schlüssel zu Ihren Kisten geben, Frau Schwiegertochter. Es wird Zeit, dass sie ausgepackt werden.“
„Hat das nicht bis morgen Zeit, Mama? Ich bin müde, wir sind seit fünf Uhr morgens unterwegs.“
„Ich brauche Sie nicht dabei, Berta wird mir helfen.“
„Ich möchte Ihnen diese Mühe ersparen.“
„Darauf kommt es nicht an. Jedenfalls müssen die Kisten heute ausgepackt und die Sachen an Ort und Stelle untergebracht werden, damit endlich Ordnung wird.“
„So werde ich selbst dafür sorgen. Ich kann unmöglich zugeben, dass Sie sich noch weiter bemühen. Schicken Sie mir bitte eines Ihrer Dienstmädchen herauf, damit es mir behilflich sein kann.“
„Die Mädchen haben jetzt keine Zeit, wir können das sehr gut selbst tun. Wenn Sie müde sind, lassen Sie sich nur nicht stören.“
„Nein, nein, ich komme mit hinüber. Es ist besser, wenn alles gleich am richtigen Platz untergebracht wird.“
„Dafür werde ich schon Sorge tragen, das überlassen Sie mir.“
Hella biss sich auf die Lippen. Also auch ihr persönliches Eigentum sollte nach der Schablone ihrer Schwiegermutter eingeschachtelt werden!
Während sie ging, um die Schlüssel zu holen, wandte sich Emilie Boßneck an ihren Sohn. „Vater erwartet dich um vier Uhr in der Fabrik.“
„Es ist gut, Mutter, ich werde pünktlich kommen.“
„Meine Frau wird dir dankbar sein, Mutter, wenn sie erst einsieht, wie gut du es meinst. Du wirst sie bald gelehrt haben, wie alles angefasst werden muss. Dann kann sie ja selbst ihren Haushalt leiten.“
Frau Emilie rückte einen Sessel zurecht, der nicht genau auf dem bestimmten Platz stand. „So schnell geht das nicht. Der Hang zur Unordnung ist nicht leicht zu überwinden. Sieh, da liegen die Handschuhe deiner Frau auf dem Tisch, die Decke ist schief gerückt, und die Stühle stehen mitten im Zimmer. Es wird schwer halten, ihr beizubringen, was sein muss.“
„Verliere nur die Geduld nicht! Hella ist ohne Mutter aufgewachsen, sei ein bisschen nachsichtig mit ihr!“
„Mit Nachsicht kommt man da nicht weit.“
Jetzt trat Hella mit den Schlüsseln wieder ein. Ihre Schwiegermutter stellte mit großem Nachdruck die schwer geschädigte Ordnung im Zimmer her und reichte Hella ihre Handschuhe.
„Für Hüte und Handschuhe ist dieser Schrank bestimmt. Bitte, lassen Sie nichts herumliegen, sondern legen Sie alles gleich auf seinen bestimmten Platz! Nur so ist Ordnung zu halten.“
Hella nahm ihr stumm die Zeugen ihrer Unordnung aus der Hand und legte sie in ein Schubfach des Schrankes.
„Ich gehe jetzt hinunter, um Berta zu holen. Wenn wir heraufkommen, wollen wir sofort beginnen.“
Hella neigte nur stumm den Kopf. Als ihre Schwiegermutter hinaus war, trat sie ans Fenster. Es ging nach dem Garten hinaus. Er sah in der herbstlichen Stimmung kahl und nüchtern aus, wie alles hier im Haus. Die junge Frau schauerte zusammen. Sie hatte so viel niederzuzwingen in der freudlosen Umgebung. Und dabei blieb ihr nicht einmal der Trost, ihren Mann auf der Seite zu haben. Sie fühlte, dass eine Entfremdung zwischen ihr und Franz bereits Platz gegriffen hatte, und ein dumpfes Bangen vor der Zukunft erfüllte sie. Sie wehrte sich gegen das Gefühl der Enttäuschung, das in ihr aufsteigen wollte. Mit banger Hast schob sie den Gedanken von sich, dass ihr Mann ein ganz anderer war, als sie in ihrem jauchzenden Glücksgefühl geglaubt hatte. Es durfte nicht sein, dass ihr sein Wesen fremd wurde – was sollte sonst aus ihr werden?
Ihre fein empfindende Seele litt unsagbar. Aber sie war ein tapferer Mensch. Sie nahm sich zusammen und schalt sich selbst aus.
War es nicht unsinnig von ihr, sich durch Äußerlichkeiten die Daseinsfreude verderben zu lassen? Sie hatte sich ihrem Mann zu Eigen gegeben, nun musste sie sich auch den Verhältnissen anzupassen versuchen, die von ihm untrennbar waren.
Es war unklug von ihr gewesen, ihren Schwiegervater zu reizen. Was lag daran, mit welchem Namen man sie hier rief! Sie hätte nicht gleich so kampfbereit auftreten sollen, dann wäre die hässliche Szene nicht auf die Spitze getrieben worden.
Sie sah sich nach Franz um. Er stand am anderen Fenster und sah ebenfalls hinaus. Schnell huschte sie an seine Seite, hängte sich in seinen Arm und sah bittend zu ihm auf. „Franz!“
Er wandte den Kopf. „Was willst du, Hella?“
„Verzeih mir Franz, dass ich dir Ärger bereitet habe! Ich hätte auf dich mehr Rücksicht nehmen sollen. In Zukunft will ich mir Mühe geben, ruhig und freundlich zu bleiben, auch wenn man mich kränkt. Bist du mir nun wieder gut?“
Er zog sie an sich und sah ihr Gesicht, Sie war doch ein süßer Kerl, es lohnte sich schon, einige Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen! Noch übte ihre reizende Persönlichkeit Zauber genug auf ihn aus, um ihn zu ihren Gunsten umzustimmen.
***
Frau Emilie Boßneck trat steif und unnahbar in das Zimmer, in dem Hellas Kisten aufgestapelt waren. Hella folgte ihr, fest entschlossen, alles über sich ergehen zu lassen. Auch durch Bertas mürrisch herabgezogene Mundwinkel ließ sie sich nicht beirren.
Die erste Kiste wurde aufgeschlossen. Sie enthielt Hellas Wäsche. Prüfend ließ Frau Emilie ihre Augen über die zärtlich geordneten Pakete gleiten. Die feinen Stickereien und Spitzen in der Leibwäsche erregten bald ihren lebhaften Unwillen. Das hatte eine Unmenge Geld gekostet und würde sicher nicht lange halten.
„An diesen Sachen werden sie nicht viel Freude erleben. Man sieht, dass Sie keine Mutter zur Seite hatten, die mit ihrer Erfahrung das Richtige wählte.“
Hella sah sie lächelnd an. „Oh, die Sachen sind sehr haltbar. Ich trage dieselbe Wäsche seit Jahren.“
„Die Stoffe mögen wohl angehen, wenn Sie auch nicht unbedingt Seide zu tragen brauchen, aber diese feinen Stickereien und Spitzen reißen nach wenigen Wäschen wie Zunder. Meiner Tochter und ich tragen an allen Wäschestücken nur selbstgehäkelte Spitzen. Die sind am dauerhaftesten und am billigsten.“
„Aber die zeitraubende Arbeit, solche Spitzen selbst herzustellen!“
„Zeitraubend? Wozu ist denn die Zeit sonst da, als sie mit etwas Nützlichem auszufüllen! Was, um Himmels willen, haben Sie den ganzen Tag getan?“
Hella blickte träumerisch vor – sich hin. „Oh, ich hatte viel zu tun, meine Tage waren ausgefüllt. Papa und Herr Andersen haben dafür gesorgt, dass mir die Zeit nicht lange wurde.“
Emilie Boßneck zuckte die Achseln. Das waren gewiss lauter Nichtigkeiten, mit denen ihre Schwiegertochter die Zeit vertändelt hatte!
Sie reichte ihrer Tochter ein Wäschebündel. „Hier, Berta, trage das in den Wäscheschrank hinüber. Oben links, das erste Fach.“
Sie selbst bepackte sich ebenfalls mit Haushaltswäsche und folgte ihrer Tochter.
Als alles untergebracht war, wurde die zweite Kiste geöffnet. Sie enthielt Hellas Nippsachen. Ihre Schwiegermutter trug mit missbilligenden Blicken eine dieser kostbaren Kleinigkeiten nach der anderen in die Zimmer hinein und stellte sie mit einer an Vandalismus grenzenden Gleichgültigkeit auf.
Die nächste Kiste enthielt Bilder. Frau Emilie hängte sie an die Wände. Mit Hammer und Nägeln bewaffnet, kletterte sie auf der Leiter herum, und wo sie gerade Platz fand, wurde ein Bild aufgehängt. Die Hauptsache war ihr, dass die Rahmen schön symmetrisch zueinander passten.
„Was ist denn in dieser letzten Kiste?“, fragte sie, nachdem dieses Werk vollendet war.
Hellas Augen leuchteten auf. „Das Schönste und Kostbarste, was ich habe, ein herrliches Kunstwerk.“
„So“, sagte die alte Dame gedehnt, „na, ich weiß wirklich kaum noch, wohin mit diesen sogenannten Kunstwerken. Ein bisschen viel Krimskrams haben Sie sich angeschafft.“
„Es ist aber alles nicht so schön wie das, was ich hier habe.“
„Ist es kostbar?“
„Für mich von unschätzbarem Wert. Herr Andersen hat es mir zur Hochzeit geschenkt.“
„Na, Millionen wird der auch nicht gerade zu verschenken haben.“
Hella lächelte nur und öffnete die Kiste. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass die beiden Frauen ihre geringschätzigen Mienen vergessen würden beim Anblick von Svens „Mädchen mit der Perle“.
Schweigend hob sie die Marmorstatue aus der Kiste. Entzückt sah sie auf die herrliche Mädchengestalt und hob dann Beifall heischend ihre strahlenden Augen empor.
„Wundervoll, einzig schön, nicht wahr? Ist das nicht…“
Die Rede stockte ihr auf den Lippen. Mit verächtlich verzogenen Gesichtern standen Mutter und Tochter da und starrten auf das schöne Mädchen.
Frau Emilie fand als Erste ihre Sprache wieder. „Sie wollen doch, um Himmels willen, das da nicht in Ihrer Wohnung aufstellen?“, fragte sie mit einer verächtlichen Handbewegung.
„Warum nicht?“, fragte Hella zurück.
„Das fragen Sie noch? Aber begreifen Sie denn nicht, dass Sie so etwas nicht zeigen können? Sie müssten sich schämen, dass Sie so etwas überhaupt um sich dulden!“
Hella strich sich über ihre Stirn, als wollte sie etwas fortwischen, und langsam stieg tiefe Röte in ihr Gesicht. Sie schämte sich für die kleinlichen Seelen dieser Frauen, die es wagten, dieses Kunstwerk zu beleidigen. Das Herz tat ihr weh, dass es Menschen gab, die so niedrig empfanden. Wenn ihre Frau Liebentrut in ihrer komischen Weise über die „Steinpuppen“ räsonierte, hatte sie lachen können, denn die alte Frau war ungebildet und schalt gewohnheitsmäßig. Bertas und ihrer Mutter Art jedoch brachte Hella außer sich vor Empörung.
Langsam breitete sie wie schützend die Hände über den Marmor.
Plötzlich kam ihr ein erlösender Gedanke. „Wollen Sir mir eine Bitte erfüllen, Mama? Sie liegt mir sehr am Herzen, und die Erfüllung wird Ihnen leicht sein.“
Frau Emilie sah sie mit verkniffenem Gesicht an. „Was wünschen Sie?“
„Zuerst eine Frage. Welche Bestimmung hat dieses Zimmer hier?“
„Es soll später einmal das Kinderzimmer werden.“
„Dann ist es vorläufig überflüssig. Bitte, überlassen Sie es mir! Ich werde all den ’überflüssigen Krimskrams’ hier hereinstellen, auch diese Statue, damit niemand Ärgernis daran nimmt. Ich würde mir das Zimmer zu meinem persönlichen Gebrauch einrichten. Bitte, erlauben Sie mir das!“
Frau Emilie Boßneck überlegte eine Weile. Es war schließlich am besten so. Man wurde auf diese Weise in den anderen Zimmern die unnützen Staubfänger los, und vor allem wurde das entsetzliche Marmorbild unschädlich gemacht. Diese Künstlertochter war ja imstande, so etwas im Besuchszimmer aufzustellen, wo es von den Bekannten der Familie gesehen werden konnte.
„Meinetwegen. Es fehlen aber noch die Möbel für dies Zimmer.“
„Wenn Sie es gestatten, schreibe ich meinem Vater, dass er mir von Berlin das Nötigste schickt. Viel braucht es ja nicht zu sein.“
„Wie Sie wollen. Ich lasse gleich heute Abend noch die Kisten hinausschaffen, dann kann alles, was hier Platz finden soll, einstweilen hineingestellt werden.“
Hella war überglücklich. Nun konnte sie sich wenigstens dieses Winkelchen behaglich machen.
Sie schrieb einen ganz fröhlichen Brief nach Hause, bestellte die gewünschten Sachen, erzählte viel Nebensächliches mit heiteren Worten, erkundigte sich nach Sven, nach Frau Liebentrut und nach dem Befinden ihres Vaters.
Während sie so schrieb, wurde ihr das Herz wieder schwer und schwerer, sie legte die Feder aus der Hand, barg das Gesicht in den Händen und weinte.
Sehnsuchtsvoll dachte sie an daheim. Warum war sie nicht dort geblieben, wo der rechte Boden für ihr Gedeihen war? Hier musste sie verkümmern und verwelken, sie fühlte es mit Sicherheit. Sie glich einer Pflanze, die man in ungünstiges Erdreich gesetzt hatte, sie würde gleich einer solchen verdorren auf falschem Boden.
Mehr als sechs Monate waren vergangen seit Hellas Einzug in das Haus ihrer Schwiegereltern.
Es war eine schwere Zeit, die hinter ihr lag. All ihre Bemühungen, die Familie ihres Mannes durch Freundlichkeit und Nachgiebigkeit zu entwaffnen, waren vergeblich gewesen. Man behandelte sie nach wie vor wie einen lästigen Störenfried. Alle glaubten, ihr Vorschriften machen zu müssen über das, was sie tun und lassen sollte. Man wollte sie „erziehen zur soliden bürgerlichen Lebensweise“ und glaubte noch ein gutes Werk an ihr zu tun. Es verging kein Tag, an dem es nicht Unannehmlichkeiten gab. Hauptsächlich ihr Schwiegervater ersparte ihr nichts an Demütigungen.
Am Anfang sprach ihr wenigstens Franz hin und wieder Mut zu. Er tröstete und liebkoste sie, wenn sie oben mit ihm allein war. Als aber all die kleinen Misshelligkeiten anfingen, Hellas fröhlichen Lebensmut zu trüben und sie täglich ernster und stiller wurde, fing sie an, ihn zu langweilen, und er vernachlässigte sie bald mehr und mehr. Während er in der ersten Zeit abends gleich nach dem Essen mit ihr hinaufging, begleitete er später immer öfter seinen Vater zum altgewohnten Stammtisch.
Da saß sie dann allein zu Hause und konnte ihren traurigen Gedanken nachhängen.
In der letzten Zeit kam noch etwas anderes dazu. Elsa Kleefeld besuchte „die gute Tante Boßneck“ und „die liebe Berta“ jetzt sehr oft und blieb einige Male, dringend dazu aufgefordert, auch zum Abendessen. Da saß sie dann Franz gegenüber und warf ihm schmachtende Blicke zu. Schöner wurde die junge Dame dadurch freilich nicht. Franz’ Eitelkeit fühlte sich durch diese „treue Liebe“ aber doch sehr geschmeichelt.
Seine Mutter und seine Schwester hinterbrachten ihm alles, was Elsa in Bezug auf ihn sagte. Er war der „arme verblendete Mensch“, der sich von einer Kokotte hatte einfangen lassen, die nicht wert war, seine Schuhriemen zu lösen.
Wenn Elsa zum Abendessen blieb, ging Franz nicht mit dem Vater aus. Er blieb dann unten und überließ es Hella, ob sie bleiben wollte oder nicht. Die ersten Male brachte es die junge Frau über sich, unten zu bleiben, aber man nahm gar keine Notiz von ihr, sprach von Stadtklatsch, der ihr zuwider war, und von Dingen und Personen, die sie nicht kannte.
Franz war aufgeräumt und lustig, plauderte angeregt über tausend Nichtigkeiten mit Elsa und sprach mit Hella nur, wenn sie ihn etwas fragte.
Einmal hatte sie ihm Vorwürfe gemacht. Da war er sehr zornig geworden.
„Missgönnst du mir die kleine Aufheiterung? Ich dachte, du sorgtest durch deine fortdauernd schlechte Laune genügend dafür, dass mir das Leben so trüb wie möglich gemacht wird.“
Hella waren die Tränen gekommen. „Ich tue doch nichts, um es dir zu trüben.“
Er lachte höhnisch. „Nein, natürlich nicht. Du schwimmst nur, wie eben jetzt, bei dem geringsten Anlass in Tränen, spielst dich auf die unverstandene Frau hinaus und vergraulst einem mit deiner Kopfhängerei das ganze Leben. Da ist Elsa doch ein anderes Frauenzimmer. Obwohl sie mich liebt und ich ihr verloren bin, lässt sie sich nichts anmerken und ist lustig und fidel. Sie hat einen wirklichen Herzenskummer zu tragen und lässt sich nicht unterkriegen. Du aber bildest dir nur einen ein und stehst herum wie eine Trauerweide. Zum Donnerwetter, das halt ein anderer aus!“
Daraufhin hatte sie sich Mühe gegeben, heiter zu erscheinen, aber es half nicht viel, wenn auch ihr Mann einige Zeit wieder zärtlicher zu ihr wurde.
Mit täglich wachsender Angst merkte Hella, dass zwischen ihr und ihrem Mann eine Scheidewand emporstieg, über die sie sich kaum die Hände reichen konnten. In ihrem Innern sah es erbarmungswürdig aus. Umgeben von zarter, verstehender Liebe war sie aufgewachsen, nicht ein Hauch hatte ihr Leben getrübt, bis sie in dieses Haus gekommen war. Und nun war alles so ganz anders geworden!
Den größten Schmerz verursachte ihr die Erkenntnis des Unwerts ihres Mannes. Mit grausamer Deutlichkeit zeigte er ihr täglich mehr, dass er keine der großen und edlen Eigenschaften besaß, mit denen ihre ideale Begeisterung ihn ausgestattet hatte. Langsam, aber mehr und mehr verblasste das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, und vor ihr stand Franz Boßneck, wie er wirklich war: oberflächlich, genusssüchtig und eitel. Mit traurigen Augen sah sie auf ihr gefallenes Götzenbild und versuchte immer wieder, aus den Trümmern ein neues zu bauen. Es gelang ihr nicht.
Sie wehrte sich tapfer und wie eine Verzweifelte gegen die Erkenntnis ihrer Lage. Was sollte aus ihr werden, wenn das so weiterging?
Und alles trug sie allein. Ihr Vater hatte wiederholt dringend um Nachricht gebeten, wie es ihr ginge. Erst berichtete sie ihm, es ginge ihr gut, sie sei glücklich. Dann gab sich aber Rasmussen mit diesen Berichten nicht mehr zufrieden. Er kannte seine Hella zu genau, um nicht zwischen den Zeilen allerlei zu lesen, was ihn beunruhigte. Er beschloss also, Hella zu besuchen und sich von ihrem Ergehen selbst zu überzeugen. Eines Tages schrieb er ihr das und meldete sich für die nächste Zeit an.
Hella erschrak. Ihr Vater durfte nicht kommen, er sollte sein Kind nicht in seiner Erniedrigung sehen! Sie schrieb ihm sofort wieder:
Komm nicht, Papa, ich bitte dich darum! Mein Verhältnis zu Franz und den Verwandten ist schwierig, du würdest es nur verschlimmern, ohne mir helfen zu können. Ich will wahr und offen zu dir sein, lieber Papa, ich habe in meiner Ehe bisher nichts als Enttäuschungen gefunden, aber da ich sie eingegangen bin, muss ich auch alle Folgen tragen. Sorge dich nicht um mich, Herzenspapa, ich werde schon fertig damit, und es muss ja einmal besser werden. Aber du sollst nicht hier herkommen, ich könnte es nicht ertragen. Nur um dich daran zu hindern, bin ich offen zu dir. Behalte du deine Hella lieb, mein einziger treuer Papa! Wäre ich doch nie von dir gegangen!
Bitte, sage Sven nichts von meiner Beichte, nur du sollst es wissen, dass ich mein Lebensschiff verfahren haben. Aber ich bin deine Tochter. Du hast oft gesagt: Ein guter Kapitän verlässt sein Schiff nicht, wenn es auf Sand gerät, sondern versucht es wieder flottzumachen. Danach will ich handeln. Weißt du, an was ich jetzt immer denken muss? An Svens Werk „Auf falschem Boden“. Solch ein Pflänzchen bin auch ich – auf steinigen Boden bin ich geraten, und ich war so gutes, fruchtbares Gartenland gewöhnt. Leb wohl, Vater, grüße Sven und behalt mich lieb.
Deine Hella
Darauf hatte Rasmussen ihr gute, tröstende Worte geschrieben, die sie wunderbar stärkten. Zum Schluss hieß es:
Ich will dich nicht in deinen Entschlüssen wankend machen, mein geliebtes Kind. Der Lebenskampf hat nun auch dich erfasst, harre aus und bleib dir treu! Da du es nicht willst, komme ich nicht, aber ein Wort genügt, um mich an deine Seite zu führen. Sven lässt dich grüßen, er arbeitet mit glühendem Eifer, und was er schafft, ist bewundernswert. „Auf falschem Boden“ ist mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet worden.
Frau Liebentrut sorgt in alter treuer Weise für mich und wird sogar tolerant gegen die „Steinpuppen“, seit ich eine Büste von dir geschaffen habe, um mich an deinem Anblick zu erfreuen. Sie steht manch liebes Mal mit feuchten Augen davor und sagt: „Herr Professor, es ist doch zu etwas gut, dass Sie so etwas können, nun haben wir wenigstens unser Hellachen bei uns. Nur schade, dass sie nicht auch noch sprechen und lachen kann.“ Siehst du, Herzkind, viel Liebe fliegt in Gedanken zu dir, lass es dir zum Trost gereichen. Schreibe mir oft und mache dir das Herz leicht!
Sei innig geküsst von deinem treuen Vater.
Diese Worte taten Hella ungemein wohl. Mit heißer Sehnsucht dachte sie an die Heimat. Wie schön musste es sein, sich aufmachen zu dürfen, um an der treuen Vaterbrust allen Schmerz und Kummer auszuweinen! Aber man würde sie nicht fortlassen, und die Rückkehr würde ihr doppelt bitter sein. Besser, es blieb, wie es war. Die Versicherung, dass man ihrer in Liebe gedachte, ließ ihr das Herz höher schlagen.
Von neuem warb sie um Liebe und Verständnis bei ihren Verwandten, aber bald musste sie einsehen, dass alles vergeblich war. Und da wuchs langsam der Trotz in ihr empor. Mit aller Demut erreichte sie nichts als neue Kränkungen, ihr Mann dankte ihr die größte Selbstüberwindung nicht, vergalt sie vielmehr mit Vernachlässigung und höhnischen Bemerkungen. Stand ihm dann einmal der Sinn danach, den Zärtlichen zu spielen, verdross es ihn, wenn sie nicht gleich darauf einging. Er schalt sie störrisch und drohte, ihren Starrkopf zu brechen und ihr zu zeigen, wer Herr im Haus sei.
Das alles wurde auf die Dauer unerträglich, sie begann sich zu wehren und auf Abhilfe zu sinnen.
Am grässlichsten waren ihr die wöchentlichen Kaffeekränzchen und die so genannten „geselligen Abende“ mit den Herren und Damen des Boßneckschen Bekanntenkreises.
Im Kränzchen hatte sie sich durch ihr ehrliches, offenes Wesen, das Tratsch und Klatsch verabscheute, unbeliebt gemacht. Außerdem vergab man es ihr nicht, dass alle Herren Hella entzückend fanden und sie an den geselligen Abenden umschwärmten.
Die junge Frau war froh, wenn sie mit jemanden ein vernünftiges Wort sprechen konnte, und unter den Herren fand sich dieser und jener, mit dem es sich lohnte, eine Unterhaltung zu führen. So gab sie sich diesem seltenen Vergnügen mit Freuden hin, ahnungslos, dass kleinliche Klatschsucht und Bosheit ihr das zum Verbrechen anrechneten.
So war sie bald bei allen Damen in Ungnade. Am feindlichsten stand ihr jedoch Elsa Kleefeld und deren Mutter gegenüber. Berta hatte ihrer Freundin mit moralischer Entrüstung von der Marmorstatue erzählt. Die Erzählung war noch ein wenig ausgeschmückt worden, und Elsa hatte dann das ihrige getan.
Mit vielsagenden, verschleierten Redewendungen, bedeutungsvollen Achselzucken und anklagend zum Himmel blickenden Augen hatte man einen netten Brei zusammengekocht. Es war danach erwiesen, dass Hella Künstlern Modell gestanden hatte. Natürlich beeilten sich die Damen, diese Schauermär ihren Herren zu hinterbringen, um sie vor der gefährlichen Kokotte zu warnen. Der beabsichtigte Zweck wurde indessen nicht erreicht. Die Herren fanden im Gegenteil die schöne blonde Frau dadurch noch eine Nuance pikanter und drängten sich erst recht in ihre Nähe. Die Damen waren außer sich darüber und versicherten der „lieben Boßneck“, dass man nur aus Rücksicht für sie einen Eklat vermied.
***
Es war ein Frühlingstag. Es klingt so poetisch, wenn die Dichter singen: „Der Frühling kommt mit Brausen“. In Wirklichkeit bleibt wenig von Poesie übrig, wenn das Brausen mit strömendem Regen vermischt ist, der klatschend an die Fenster getrieben wird. Hella saß fröstelnd am Fenster. Melancholisch sah sie das Wasser an den Scheiben herabrinnen.
Plötzlich schrak sie aus ihrem Dahinbrüten auf, die Tür zu ihres Mannes Zimmer fiel draußen ins Schloss. Sie erhob sich und ging hinaus.
Franz Boßneck stand auf dem Korridor, im Begriff, zum Essen hinunterzugehen.
„Bist du schon fertig?“, fragte sie, nur um etwas zu sagen.
„Wie du siehst, ja. Wir können gehen.“
Stumm schritten sie nebeneinander die Treppe hinab und begaben sich ins Speisezimmer.
Frau Emilie und ihre Tochter waren schon anwesend, und gleich nach ihnen trat Ernst Boßneck ein. Er machte ein grimmiges Gesicht. Unterwegs hatte er einen Bekannten getroffen, der ihm allerlei Schmeichelhaftes über seine Schwiegertochter gesagt hatte. Unter anderem hatte er bemerkt: „Und eine Art, das Haar zu tragen, hat Ihre Frau Schwiegertochter – entzückend geradezu! So etwas gibt es in unserer Stadt nicht wieder.“
Ernst Boßneck war weit davon entfernt, dies als Schmeichelei aufzunehmen.
Als man bei Tisch saß, schweigsam und unfreundlich wie immer, merkte die junge Frau aus dem boshaften Blick seiner Augen, dass er wieder etwas gegen sie vorhatte. Sie wusste, dass es nur eine neue Kränkung bedeutete, als er plötzlich das Wort an sie richtete.
„Sagen Sie einmal, Frau Schwiegertochter“, begann er, „können Sie sich nicht eine etwas solidere Frisur machen? Man fürchtet immer, Haare in der Suppe zu finden, wenn Sie am Tisch sitzen. Außerdem hält man sich darüber auf. Erst heute habe ich wieder hämische Bemerkungen darüber einstecken müssen. So wie Sie frisieren sich höchstens Kellnerinnen oder so genannte Künstlerinnen, aber nicht Damen aus unseren Gesellschaftskreisen. Ich denke, es bedarf nur dieses Hinweises, um Sie auf das Unpassende aufmerksam zu machen.“
Hella war erst bleich, dann glühend rot geworden. Sie sah zu ihrem Mann hinüber. Fand er es wirklich auch diesmal nicht nötig, ein Wort zu ihrer Verteidigung zu sagen?
Er aber saß da, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. Gemütsruhig löffelte er seine Suppe. Um Hellas Lippen zuckte bitterer Spott. Von da kam ihr keine Hilfe, da hieß es, sich selbst zu wehren.
Möglichst ruhig sagte sie: „Sie werden trotzdem gestatten müssen, dass ich diese Frisur auch ferner trage. Mein Vater fand sie kleidsam, und was er gut findet, kann ich mir ruhig als Richtschnur dienen lassen, es wird niemals unpassend sein.“
„Ihr Vater – Ihr Vater! Bleiben Sie mir mit Ihrem Vater vom Leib! Immer berufen Sie sich auf den, wenn es gilt, Ihren Dickkopf aufzusetzen. Er hat doch als freier Künstler keine Ahnung, wie es in einer soliden Familie zugeht. Laufen etwa meine Frau oder meine Tochter mit solchen Wuschelhaaren herum? Jetzt haben Sie sich nach Ihrem Mann zu richten und nicht nach Ihrem Vater, wie es Ihnen immer beliebt.“
Hella biss die Lippen aufeinander. Die Tränen waren ihr schon wieder nah, aber sie kämpfte dagegen an. Sie nahm sich, äußerlich ruhig, ein Stück Fleisch und legte es auf ihren Teller. Dann sagte sie gelassen: „Berta würde in einer Frisur, wie ich sie trage, entschieden hübscher aussehen, als mit diesem glatten, fest geknoteten Haar. Doch ist es ihre Sache, wie es die meine ist, mich zu frisieren. Sie irren sehr, wenn Sie annehmen, dass ich mein Haar gegen den Willen meines Mannes so trage. Franz hat mir oft versichert, dass ihm meine Frisur gefällt.“
Franz Boßneck wurde rot und lachte verlegen, während sein Vater wütend auf ihn und seine Frau starrte. „Als Bräutigam findet man eben alles entzückend an seiner Braut“, sagte er wie entschuldigend.
Hella sah ihn mit einem Blick an, der ihn ärgerte. „Du hast mir dasselbe auch noch nach unserer Verheiratung versichert“, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. „Natürlich, in der ersten Zeit, als ich noch so kopflos verliebt war.“
„War? Das scheint weit hinter dir zu liegen!“, sagte sie. „Wir sind noch nicht einmal ein Jahr verheiratet.“
Ehe er antworten konnte, schnitt ihm sein Vater das Wort ab. „Bitte, keine ehelichen Auseinandersetzungen in meiner Gegenwart. Ich mag es nicht mit anhören, wie du dich mit deiner ewig opponierenden Frau um die Herrschaft streitest. Du bist selbst schuld, dass du es so weit hast kommen lassen. Ich will meine Ruhe haben bei Tisch.“
Damit pflegte er stets ein unliebsames Thema abzubrechen.
Auch heute wurde es still.
Als das junge Paar nach Tisch hinaufgegangen war, trat Hella vor ihren Mann hin. Sie sah ihn ernst und entschlossen an. „Ich habe mit dir zu reden, Franz.“
Er wandte sich unwillig ab. „Lass mich zufrieden! Es sind doch nur wieder Vorwürfe, die dabei herauskommen.“
„Nein, Franz. Ich will dich noch einmal bitten aus tiefster Seele: Lass uns fortziehen aus diesem Haus! Nur dem Umstand, dass deine Angehörigen ewig zwischen uns stehen, ist dieses fürchterliche Verhältnis zuzuschreiben. Ich ertrage es nicht mehr. Bitte, lass uns für uns leben in Zukunft, dann wird es besser werden.“
Er sah sie ärgerlich an. „Dacht ich’s doch, dass so etwas herauskäme. Das schlag dir ein für allemal aus dem Sinn!“
Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und sah ihn mit heißer Bitte in die Augen. „Franz, hast du mich wirklich nicht lieb? Bin ich dir gar nichts mehr, dass du mich zu diesem entsetzlichen Leben verdammst? Wenn du mich nur ein wenig lieb hast, musst du mir diesen Wunsch erfüllen. Glaub mir, ich fühle täglich mehr, dass es so nicht weitergeht. Ich gehe zu Grunde dabei. Erbarme dich, Franz – lieber Franz!“
Sie legte die Wange an die seine und schmiegte sich bittend an ihn. Ganz war der Zauber noch nicht gebrochen, den sie auf ihn ausübte. Er schloss die Bebende in seine Arme und küsste sie, und als ihre Lippen diesen Kuss erwiderten, küsste er sie wieder und wieder.
„Süßes Närrchen, wenn du doch lieb und vernünftig sein wolltest! Lass doch alle reden, was sie wollen, sei meine süße, lustige, kleine Frau, dann ist alles gut! Die Schönste und Reizendste bist du doch in unserer Stadt. Das können sie dir eben nicht verzeihen, die Linchen und Minchen alle. Bist ihnen gar zu verführerisch, süßer Trotzkopf!“
Sie wand sich mit ernstem Gesicht aus seinen Armen. „Nicht so jetzt, Franz! Lass uns ernsthaft zusammen reden! Ich bitte dich noch einmal, so sehr ich kann, lass uns aus diesem Haus gehen!“
Er machte sofort wieder ein verdrießliches Gesicht. „Das ist unmöglich. Mein Vater würde seine Hand von uns abziehen. Wovon sollen wir leben?“
„Du arbeitest doch in der Fabrik. Dein Vater müsste dir ein Gehalt auszahlen. Und wenn nicht – ich brauche mich nur an Papa zu wenden, er hilft uns sofort.“
Franz lachte spöttisch auf. „Ich danke. Wenn ich schon abhängig sein muss, bin ich’s lieber von meinem Vater.“
„Aber dass ich in der schlimmsten Abhängigkeit von deinen Eltern hier vegetieren muss, findest du ganz in Ordnung!“
„Na, erlaube, das ist eine andere Sache. Frauen sind eben zur Abhängigkeit geboren.“
„Das ist eine sehr bequeme Auslegung.“
„Ach, geh! Lass uns dieses Thema abbrechen, es führt zu nichts.“
„So lasse ich mich nicht wieder abfertigen, Franz, lieber Franz, sei barmherzig! Unser Glück steht auf dem Spiel.“
„Unsinn, Hella. Solange du so süß und reizend aussiehst, wie eben jetzt, und mich nicht mit dummen Grillen plagst, brauchst du um dein Glück nicht zu bangen. Sag’s nur ehrlich, du bist eifersüchtig auf die Elsa Kleefeld – deshalb willst du mich fortlocken. Sei kein Schäfchen! Ich ulke nur ein bisschen mit ihr herum und amüsiere mich über ihre Anbetung. Das ist alles. Komm, sei kein Frosch, gib mir einen Kuss und lass mich mit deinen Umsturzideen in Frieden! Damit hast du bei mir kein Glück. Und wenn du mir noch so zärtlich um den Bart gehst, die Vernunft lasse ich mir auch von dir nicht wegschmeicheln.“
Hella erkannte, dass all ihr Bitten vergeblich sein würde. Ihr Herz war zum Brechen schwer. Sie fühlte finstere Gedanken in sich aufsteigen. Ein Gefühl von Abneigung gegen ihren Mann stieg in ihr auf, so ängstlich sie sich dagegen wehrte. Seine Küsse brannten sie wie Demütigungen, die sie widerstandslos ertragen musste.
In verzweifelter Angst wagte sie noch einen letzten Versuch. „Ist es nicht wenigstens möglich, dass wir hier oben einen eigenen Haushalt führen, für uns speisen?“
„Wozu? Das würde meine Mutter nur kränken und wäre noch schlimmer, als wenn wir auszögen. Sei froh, dass du der Mühe enthoben bist, dich um Haus und Küche kümmern zu müssen! Tausend Frauen dankten Gott, wenn sie es so gut hätten wie du.“
Hella seufzte tief auf. Also nicht einmal das!
Franz ging unruhig hin und her. Endlich blieb er mit strenger Miene vor ihr stehen. „Ernstlich, Hella, du musst es nun endlich lernen, dich den Verhältnissen anzupassen. Das geht so nicht weiter. Es ist nicht erheiternd für mich, mit anzuhören, wie ihr euch gegenseitig übereinander beschwert.“
„Ich habe mich nie über deine Familie beschwert.“
„Nun ja, direkt nicht. Aber dein ganzes Benehmen ist ein einziger Protest gegen alles, was hier im Haus geschieht.“
Hella presste die Hände in stummer Qual aufeinander, dann sagte sie tonlos: „Ich habe mir die heißeste Mühe gegeben, mir deine Eltern und deine Schwester geneigt zu machen. Es hat nichts genützt, man hat mir mit immer neuen Feindseligkeiten gedankt. Ich habe nicht verlangt, dass sie mich lieben und verstehen sollen, zumal ich ihnen ihren Lieblingswunsch zerstörte. Aber ich kann fordern, dass man mich mit grundlosen Gehässigkeiten verschont. Einmal muss ich es aussprechen, dass mir die Art deiner Familie, zumal die deines Vaters, kleinlich und erbärmlich erscheint und du verfügst leider nicht über so viel ritterlichen Sinn, dass du mich, die Schutzlose, verteidigst. Ich habe mich schwer in dir getäuscht. Meine Geduld ist nun zu Ende. Da du mir nicht helfen willst und mich zwingst, mit Leuten zusammen zu leben, die mir das Leben verbittern und mich beleidigen, werde ich mir selber zu helfen suchen. Wenn die durchaus Krieg haben wollen, gut, sie sollen ihn haben. Zu verlieren habe ich nichts mehr. Ich werde mit gleicher Münze heimzahlen, wenn man mich kränkt, das sage deinen Verwandten.“
Franz lief wütend im Zimmer auf und ab. Er versuchte einige Male, sie zu unterbrechen, aber sie erhob die Stimme und sprach ruhig weiter.
Als sie zu Ende war, blieb er stehen und sah sie drohend an. „Das kann ja erbaulich werden! Herrgott, warum bin ich nur so dumm gewesen, mich von deinem hübschen Lärvchen blenden zu lassen! Jetzt wirfst du die sanfte Maske ab und entpuppst dich als die reinste Xanthippe. Schlimmer hätte ich mit Elsa Kleefeld auch nicht hereinfallen können.“
Seine rohen Worte trieben ihr die Schamröte ins Gesicht. War sie denn blind gewesen, als sie sich diesem Mann zu Eigen gab? Sie hätte laut aufschreien mögen vor Schmerz, aber sie bezwang sich. Er sollte nicht sehen, wie sie litt. „Du selbst zwingst mich zu energischem Auftreten“, sagte sie fest.
„Halt den Mund!“, schrie er sie wütend an. Er sah in diesem Augenblick seinem Vater so ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein Grauen erfasste sie vor ihm.
Trotzdem ließ sie sich nicht einschüchtern. „Dein Schreien fürchte ich nicht – so wenig wie das deines Vaters“, sagte sie gelassen.
Er trat mit geballten Fäusten auf sie zu. „Hüte dich! Ich werde dir zeigen, wer dein Herr und Meister ist.“
Sie sah ihn furchtlos an. „Es fehlt ja nur noch, dass du mich schlägst“, sagte sie, blass bis in die Lippen. „Tue es nur, damit ich dich ganz erkenne.“
Er stampfte wütend auf den Fußboden und lief an ihr vorbei zur Tür hinaus. Krachend flog sie hinter ihm ins Schloss.
Langsam ging Hella hinüber in ihr Zimmerchen. Mit einem jammernden Laut sank sie in einem Sessel zusammen.
Wie lange sie so stumm vor sich hin brütend gesessen hatte, wusste sie nicht. Da klopfte es an ihre Tür. Auf ihren Zuruf öffnete Berta einen schmalen Spalt und rief ins Zimmer hinein: „Wenn Sie mit ausgehen wollen, machen Sie sich fertig!“
„Wollen Sie nicht eintreten, Berta? Durch die Türspalte unterhält man sich schlecht“, sagte Hella ruhig.
Berta sah sie verdutzt einen Augenblick an, dann sagte sie impertiniert: „Sie wissen, dass Mutter mir verboten hat, dieses Zimmer zu betreten.“
„Ah, richtig“, sagte Hella mit leichtem Spott. „Ihr Seelenheil könnte hier Gefahr laufen. So kommen Sie hier herein!“
Sie trat an Berta vorbei in ein anderes Zimmer. Es kam sie die Lust an, diese junge Dame, die sich ihr gegenüber immer so ausnehmend unliebenswürdig zeigte, ein wenig ihre Überlegenheit fühlen zu lassen.
Berta folgte ihr verwundert. „Ich habe nicht viel Zeit.“
„Das weiß ich, Sie müssen wahrscheinlich noch einen Meter Spitze fertig häkeln. Aber einige Minuten werden Sie mir wohl schenken können. Ich möchte eine Frage an Sie richten, Berta. Was habe ich Ihnen eigentlich zuleide getan?“
Berta rutschte ungemütlich auf dem Stuhl herum, auf dem sie, Hellas Einladung folgend, Platz genommen hatte. Was fiel dieser Hella ein, sie in solcher Weise zu examinieren? „Sie mir? Nichts!“
Hella neigte den Kopf. „Sehr richtig – nichts. Das wollte ich nur bestätigt hören. Wissen Sie auch, Berta, dass demnach Ihr Betragen mir gegenüber sehr ungezogen ist? Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen. Es ist weder schön noch rühmlich für Sie, wenn Sie mich immer wieder grundlos zu kränken versuchen. Und dass Sie es nur wissen – in Zukunft wehre ich mich und zahle in derselben Münze heim.“
Berta stand auf. Mit heimtückischem Blick sah sie in Hellas Gesicht. „Ich werde meinen Eltern und Franz erzählen, wie Sie sich eben gegen mich benommen haben.“
Hella neigte mit überlegenem Lächeln den Kopf. „Sehr brav. Darum wollte ich Sie ohnedies bitten. Und auf Ihre Frage, ob ich mit Ihnen oder Ihrer Mutter ausgehen will, antworte ich mit einem entschiedenen Nein. Ich werde in Zukunft ausgehen, wenn es mir beliebt und wie lange ich Lust habe. Wenn Sie das Ihren Eltern auch erzählen wollen, entheben Sie mich der Mühe, es selbst zu tun. Adieu, liebe Berta!“
Mit einem giftigen Seitenblick verließ Berta das Zimmer. Hella richtete sich hoch auf.
Ah, wie das wohl tut, einmal frei reden zu dürfen! dachte sie und streckte ihre Arme weit von sich. Mochten sie nun kommen und sie von neuem zu demütigen versuchen, sie würde gewappnet sein.
Von nun an behandelte man Hella mit noch eisigerer Höflichkeit, der aber immer eine gehörige Portion Hohn beigemischt war. Sie setzte diesem Ton allerdings eine ebenso kühle Gelassenheit entgegen und wehrte sich tapfer gegen alle Übergriffe. Aber wohl war ihr nicht dabei.
Ihr Mann sprach nur noch in kurzem, fast grobem Befehlston zu ihr und vernachlässigte sie von Tag zu Tag mehr. Es kränkte sie kaum noch.
Eine dumpfe Gleichmütigkeit bemächtigte sich ihrer mehr und mehr. Zuweilen freilich bäumte sich die gesunde Jugendkraft in ihr, dann sehnte sie sich in das freie, frische Leben wie eine Gefangene, der man Luft und Licht genommen hat. Stundenlang lief sie dann im Freien umher, über Wiesen und Felder, im Sonnenbrand oder Regenwetter, bis sie todmüde nach Hause kam. Man empfing sie dann mit bissigen Redensarten, aber sie antwortete nicht darauf, und als ihr Mann ihr eines Tages direkt verbieten wollte, allein umherzustreifen, sah sie ihm mit düster entschlossenen Augen ins Gesicht.
„Ich werde nicht darauf verzichten“, sagte sie, „du müsstest mich dann einschließen lassen.“
***
Wieder einmal hatte Hella ihrem Vater geschrieben. Rasmussen hielt den Brief seiner Tochter, nachdem er ihn gelesen hatte, lange in der Hand. Seine Tochter klagte ihm gegenüber nicht. Sie berichtete ihm nur, dass ihr Verhältnis zu ihrem Mann und seiner Familie noch immer nicht besser sei, und er möge lieber nicht kommen. Vielleicht passe es später einmal besser. Rasmussen wusste trotzdem, dass Hellas Stimmung sehr gedrückt sein musste, denn er kannte sein Kind genau genug, um zwischen den Zeilen allerlei zu lesen, was ihn beunruhigte. Er konnte diesen Zustand des Zweifels und Banges kaum länger ertragen.
Plötzlich sprang er auf, ging einige Male nachdenklich in seinem Atelier auf und ab, lief dann mit schnellen Schritten hinaus durch den Garten, nach Svens Atelier hinüber.
Brösselt stand vor der Küchentür und schuppte Fische ab für den Mittagstisch.
„Guten Morgen, Brösselt! Ist Herr Andersen schon unten?“
„Ja, Herr Professor.“ Er öffnete ihm die Tür.
Rasmussen trat ein. Sven war bei der Arbeit. Er sah auf, und sein düsteres Gesicht erhellte sich ein wenig, als er Rasmussen begrüßte.
Der alte Herr sah ihm eine Weile schweigend zu. Endlich sagte er: „Sven, mich führt heute etwas Besonderes zu Ihnen. Ich habe eine große Bitte an Sie und muss etwas mit Ihnen besprechen.“
Sven legte sein Werkzeug beiseite. Forschend ruhte sein Blick auf Rasmussens bekümmertem Gesicht. „Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Professor.“
„Kommen Sie, Sven, wir wollen in den Garten gehen, während ich mit Ihnen rede! Draußen wird es mir leichter werden.“
Sven ging neben ihm her. Sein Gesicht war blass geworden, er wusste, dass Rasmussen von Hella sprechen würde.
Als Rasmussen und Sven im Garten angelangt waren, schob der alte Herr seinen Arm unter den des jungen Mannes. „Sven, ich habe Sorge, große Sorge um Hella.“
Andersen zuckte leise zusammen, antwortete aber nicht. Rasmussen fuhr fort: „Ich habe Ihnen falsch berichtet, Sven, wenn ich Ihnen sagte, es ist alles in Ordnung, Hella ist glücklich.“
Sven atmete gepresst. „Ich wusste es, Herr Professor.“
„Sie wussten es?“
„Ja. Wenn Hella wirklich glücklich wäre, hätten Sie nach Empfang ihrer Briefe nicht immer so sorgenvoll ausgesehen.“
„Warum haben Sie mir das nicht gesagt?“
„Ich wollte mich nicht in Ihr Vertrauen drängen, Sie mussten Ihre Gründe haben, zu schweigen.“
„Ja, mein lieber Freund, Sie haben Recht. Hella wollte nicht, dass Sie von ihrem Leid erfuhren.“
„Sie wollte es nicht?“
„Nein. Ich denke, sie wollte Ihnen Schmerz ersparen, denn sie weiß doch, wie gut Sie es mit ihr meinen. Und ich hielt es für besser, Sie nicht zu beunruhigen; ich hoffte ja immer noch, es könnte alles gut werden. Aber meine Unruhe um Hella wächst jeden Tag. Ich wollte sie längst einmal besuchen, um mich zu überzeugen, wie und in welcher Umgebung sie lebt. Auf meine erste Ankündigung erhielt ich aber eine ablehnende Antwort von Hella. Ich sollte nicht kommen. Und da erhielt ich zum ersten Mal Nachricht, dass dort nicht alles ist, wie es sein soll. Aber mein Kind ist tapfer. Sie wollte allein mit den widrigen Verhältnissen fertig werden, und sie schrieb mir, mein Kommen könnte alles nur verschlimmern. Ich weiß, Hella leidet. Reise ich hin, so weiß ich nicht, ob ich recht tue. Wenn ich wirklich nur ihre Lage verschlimmere, ohne helfen zu können, würde ich mir Vorwürfe machen. Die Ungewissheit ertrage ich aber auch nicht länger – und da ist mir heute ein Ausweg eingefallen.“
Sven sah ihn fragend an. „Welcher?“
„Sie sollen zu Hella reisen, Sven. Ihr Besuch dort kann als zufällig hingestellt werden. Sie sind auf der Durchreise und wollen Hella begrüßen. Das sieht unabsichtlich aus. Ihren scharfen Augen aber wird es nicht verborgen bleiben, wie mein Kind dort lebt, wie es ihr geht. Wir dürfen Sie natürlich nicht anmelden. Ganz überraschend müssten Sie kommen. Sven, mein lieber, guter Freund, ich weiß, dass ich Ihnen da viel zumute, ich weiß aber auch, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Wollen Sie mir diesen Dienst erweisen?“
Sven war in großer Aufregung. Dass Hella nicht glücklich war, hatte er längst geahnt und unter dieser Vermutung gelitten. Angstvoll hatte er Rasmussen beobachtet, wenn er wusste, dass Hella geschrieben hatte. Und nun sollte er plötzlich Gelegenheit erhalten, sich selbst von ihrem Ergehen zu überzeugen – er wollte Hella wiedersehen!
Rasmussen beobachtete forschend die zuckenden Gesichtszüge des jungen Mannes. „Sie antworten mir nicht, Sven? Habe ich zu viel verlangt von Ihnen?“
Sven sah ihm mit leuchtenden Augen ins Gesicht. „Ich reise.“
***
Hella war wieder einmal mit dem Gefühl, grenzenlos gedemütigt worden zu sein, vom Mittagstisch aufgestanden. Man hatte in ihrer Gegenwart Elsa Kleefelds Lob in allen Tönen gesungen und gerade die Eigenschaften hervorgehoben, die Hella nach Ansicht der Boßnecks fehlten. Franz hatte eifrig beigestimmt.
Die junge Frau hatte sich in Schweigen gehüllt. Nun ging sie in den Garten hinaus, um während der Mittagspause, die Franz zu Hause verbrachte, nicht mit ihm allein sein zu müssen. Erst als er nach ihr rief, ging sie wieder ins Haus.
Franz stand reisefertig vor ihr. „Ich wollte dir nur adieu sagen, da ich auf einige Tage nach Berlin reise.“
„Und das erfahre ich erst jetzt? Darf ich nicht mit dir reisen?“
„Nein. Ich habe geschäftlich zu tun.“
Brennende Sehnsucht nach ihrem Vater stieg in ihr auf und trieb sie zu einer Bitte. „Nimm mich mit, ich bitte dich darum. Ich will dir nicht lästig fallen. Nur Papa möchte ich gern einmal wiedersehen.“
„Und dir den Kopf mit neuen Fantastereien füllen lassen. Das eben wollen wir vermeiden. Du bleibst hier.“ Damit ging er davon. Sie sah ihm mit starren Blicken nach und sank dann gebrochen in einen Sessel. Dort blieb sie sitzen. Nicht einmal in ihr Zimmerchen ging sie hinüber. Es war ja so gleichgültig, in welcher Umgebung sie ihren Schmerz trug – so einerlei, es lohnte sich nicht, aufzustehen. Einige Stunden später wurde die Türklingel am Boßneckschen Haus gezogen. Minna, das Hausmädchen ging, um zu öffnen. Ein hoch gewachsener Herr in grauem Anzug stand vor ihr.
„Ist Frau Boßneck zu sprechen?“, fragte er.
Minna sah ihn dumm an. „Sie meinen wohl, Herrn Boßneck.“
„Nein, Frau Boßneck.“
Minna wunderte sich. Sie kannte doch alle Bekannten der Familie. Dieser Mann hier war ihr fremd.
„Die ist nicht zu Hause. Sie ist mir ihrer Tochter im Kränzchen bei Kleefelds.“
„Ich meine Frau Hella Boßneck.“ Minna machte eine geringschätzige Miene. „Ach, die – die ist oben. Hier rechts die Treppe hoch.“
Der Ton, in dem das Mädchen diese Auskunft gab, trieb Sven Andersen das Blut ins Gesicht. Er verriet, wie wenig Hella in diesem Haus galt.
Er ging an dem Mädchen vorbei ins Haus und stieg langsam die Treppe hinauf. Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen. Oben blieb er stehen. Dann klopfte er. Niemand machte ihm auf. Er wiederholte das Klopfen. Es rührte sich nichts. Entschlossen legte er die Hand auf die Klinke und öffnete. Aufs Geradewohl schritt er drinnen auf die erste Tür zu und klopfte wieder.
Ein leises Rascheln ertönte, und dann rief eine matte Stimme: „Herein!“
Sven öffnete langsam und trat ein. Hella hatte sich beim Klopfen vom Stuhl erhoben, auf dem sie seit ihres Mannes Fortgehen in sich versunken saß.
Einen Moment sah sie fassungslos auf Sven, ein Zittern flog über ihren Körper, und dann sprang sie plötzlich mit einem Schrei auf ihn zu und umklammerte ihn wie eine Ertrinkende mit beiden Armen.
Sein Herz schwankte zwischen namenlosem Schmerz über ihren jammervollen Aufschrei, der ihm ihre Qual verriet, und Jubel, dass sie sich in ihrem Leid an seine Brust flüchtete.
Still standen sie eine Weile, Hella dicht neben ihm, er schützend den Arm um ihre Schultern gelegt.
Aber dann löste sie sich mit einem jähen Ruck aus seinen Armen und trat zurück. Errötend strich sie das wirre Haar aus dem Gesicht. Mit einem befangenen Lächeln reichte sie ihm die Hand. „Ich habe Sie durch mein Ungestüm erschreckt, lieber Sven. verzeihen Sie, und seien Sie herzlich willkommen! So plötzlich sehe ich Sie vor mir – ich kann es kaum fassen!“
Als er noch nicht sprach, sah sie ihn plötzlich erschreckt an.
„Sven – mein Vater – es ist doch meinem Vater nichts geschehen?“
„Nein, nein, beruhigen Sie sich, Hella, ich bin nur ganz zufällig auf der Durchreise hier und wollte die Gelegenheit wahrnehmen, Sie zu begrüßen.“
Sie lud ihn durch eine Handbewegung zum Sitzen ein und nahm ihm gegenüber Platz. Die Sonne flimmerte auf ihrem Haar, es sah aus wie gesponnenes Gold. Sven konnte den Blick nicht von ihr lassen. Bleich sah sie nun wieder aus, da die Röte aus ihrem Gesicht gewichen war, und die Augen erschienen ihm noch größer als sonst. Aber es waren nicht mehr die fröhlichen, klaren Augen von einst, sondern traurige, auf deren Grund das Leid schlummerte. Und doch schien sie ihm schöner als einst, ihr Anblick rührte alles das wieder auf, was er mühsam zurückgedrängt hatte in der Zeit der Trennung.
„Erzählen Sie mir von Papa, Sven! Wie geht es ihm?“
„Gut, so weit Sie ihm nicht fehlen. Er hat oft große Sehnsucht nach Ihnen. Wir vermissen unsere Hella – Sie wissen, was Sie uns waren.“
Sie nickte. „Ich weiß es, wenn es mir auch manchmal wie ein Märchen vorkommt, dass es Menschen gibt, denen ich so viel sein konnte.“
„Hella!“
Sie wehrte bitter lächelnd ab. „Lassen wir das. Erzählen Sie mir von zu Hause. Ach, Sven, wenn Sie wüssten, wie das für mich ist, dass Sie mir hier gegenübersitzen, dass ich mit Ihnen sprechen kann und zwei Augen auf mir ruhen fühle, die nicht voll Hass und Abscheu auf mich blicken!“
Er fasste angstvoll nach ihren Händen. „Hella, was hat man hier aus Ihnen gemacht? Sie sind so sehr verändert.“
Sie lächelte gezwungen und sagte in gemacht leichtem Ton: „Die Luft hier bekommt mir nicht gut.“
Sven sah sich im Zimmer um. Erst jetzt bemerkte er, wie hässlich und nüchtern es aussah – trotz des verklärenden Sonnenscheins. „Also das ist Ihre neue Heimat! Hella, wie haben Sie das aushalten können, Sie mit Ihrem Schönheitssinn?“
Sie erhob sich rasch. „Kommen Sie mit in mein Zimmer hinüber, das habe ich mir nach meinem Geschmack eingerichtet. Hier in diesen Räumen bin ich selbst ein Fremdling geblieben.“
Sie ging voran, und er folgte ihr. Als sie dann nebeneinander saßen, sagte sie lächelnd: „Groß ist mein Reich nicht, wie Sie sehen. Für gewöhnlich reicht es aber aus, da ich hier immer allein hause. Meines Mannes Familie meidet diesen Raum.“
„Aber Ihr Mann wird Ihnen wohl oft genug Gesellschaft leisten?“
Hella sah auf ihre Hände hinab. „Nein. Aber sehen Sie sich nur um“, fuhr sie lebhaft fort, „lauter gute Bekannte habe ich hier bei mir, und dies…“, sie zeigte auf das „Mädchen mit Perle“, „dies ist mein besonderer Augentrost.“
Eine Pause entstand. Sven holte tief Atem. Dann sagte er leise. „Hella. Sie sind nicht glücklich geworden in Ihrer Ehe?“
Brennende Sorge lag in seinen Worten.
Sie schlang die Hände ineinander und stützte den Kopf darauf. Sie sollte ihn belügen? Er würde sich nicht täuschen lassen, und sie sehnte sich danach, einem einzigen Menschen wenigstens ihr Leid zu offenbaren, einmal alles vom Herzen herunterzusprechen. Er würde sie verstehen, und wenn er ihr auch nicht helfen konnte, ihr Elend würde sich dann vielleicht doch leichter tragen lassen.
Sie barg das Gesicht in den Händen. Ein Gefühl tiefer Scham, dass sie sich durch den äußeren Schein hatte blenden lassen und sich einem Mann hatte zu Eigen gegeben, der sie erniedrigte, zwang sie zu dieser Gebärde.
Er löste ihr die Hände vom Gesicht und hielt sie fest. „Hella“, sagte er, „ich frage Sie mit dem Recht treuester, schrankenloser Ergebenheit und – ich will offen sein – auch im Namen ihres Vaters. Ich bin auf seinen Wunsch hier, er wird von Unruhe um Ihr Geschick verzehrt. Aber er wollte nicht selbst kommen, weil Sie es nicht wünschen und weil mein Besuch Ihren Verwandten absichtsloser erscheinen wird. Ich bitte Sie inständig, seien Sie offen zu mir!“
Große Tränen standen in ihren Augen. „Nein, Sven, nicht das Glück habe ich gefunden, nicht einmal Ruhe und Frieden, nur Schmach und Demütigungen – Sie ahnen nicht, was ich ertrug!“
Er sprang auf und ballte in wildem Gramm die Hände. „Wo ist Ihr Mann, Hella?“, rief er in heißem Zorn.
Hella legte besänftigend ihre Hand auf seinen Arm. „Nicht so, Sven! Mein Mann ist nicht schuldiger als ich. Überdies ist er verreist. Setzen Sie sich zu mir, ich will Ihnen alles erzählen.“
Er nahm wieder neben ihr Platz, und sie beichtete ihm ihr ganzes Leben seit dem ersten Tag ihres Hier seins.
Sein Gesicht war düster, während er atemlos ihren Worten lauschte. Als sie geendet hatte, stöhnte er auf: „Der Elende! Wie konnte er Sie so leiden lassen!“
„Sie sind ungerecht, Sven. Auch ich trage Schuld! Ich hätte mich nicht blenden lassen sollen. Wie es gekommen ist, dass ich ihm mein Herz zuwandte – ich weiß es selbst nicht. Ich war damals nicht klar über mich selbst. Ich wusste nichts von mir und verstand mich selber nicht. Nur einmal kam mir ein Strahl der Erkenntnis – an meinem Verlobungstag, als ich Ihnen sagte, dass ich seine Braut sei. Damals schloss ich die Augen und wollte nicht sehen. Und dann noch einmal, als ich an meinem Hochzeitstag Abschied nahm von Ihnen. Sven – warum haben Sie mich nicht zurückgehalten? Wussten Sie nicht, dass ich ins Elend ging?“
Er sprang auf. Was Hella ihm sagte, er konnte es nicht missverstehen, und doch wagte er nicht daran zu glauben. In seinem Inneren tobte ein Aufruhr, der ihn vor sich selbst bangen ließ.
„Hella, sagen Sie mir ehrlich: Hätte ich Sie erringen können, wenn Ihr Gatte nicht zwischen uns getreten wäre?“
Sie wurde glühend rot, ließ aber die Augen nicht von ihm. Dann sagte sie leise: „Ich glaube, ich habe Sie immer geliebt, Sven. Aber weil wir wie Geschwister aufwuchsen, wurde ich mir nie darüber klar. Erst am Abend meiner Verlobung zuckte beim Anblick Ihres Schmerzes zum ersten Mal der Gedanke in mir auf, dass wir uns hätten mehr sein können. Dann aber, als ich Abschied von Ihnen genommen hatte und mich noch einmal nach Ihnen umwandte, war es mir plötzlich, als müsste ich mich von meinem Mann losreißen und mich in Ihre Arme flüchten.“
Sven war bleich wie der Tod. Seine Gesichtsmuskeln waren angespannt, und die Augen erschienen fast schwarz.
„Hella, wenn ich Ihnen nur sagen dürfte, was Ihre Worte in mir aufrütteln! Sie ahnen ja nicht, was ich um Sie gelitten, was Sie mir sind! Und nun höre ich aus Ihrem Mund, was mich zugleich glücklich und elend macht. Ist es denn wirklich wahr, dass Sie mich hässlichen Gesellen lieben können?“
Sie lächelte ihm unter Tränen zu. „Hässlich? Ach Sven! Ein Mann wie Sie ist niemals hässlich. Aber nun nicht mehr davon sprechen! Was ich Ihnen gesagt habe, darf zwischen uns nichts ändern. Und jetzt gehen Sie, reisen Sie wieder ab, es ist besser für uns beide, und ich mag Sie nicht mit den Angehörigen meines Mannes zusammenbringen, ich könnte es nicht vertragen, wenn man Sie verletzte.“
Er trat einen Schritt auf sie zu. „Hella, kommen Sie mit mir zu Ihrem Vater zurück, ich fühle, dass Sie hier zugrunde gehen. Mich treibt kein eigennütziger Gedanke zu dieser Bitte, bei Gott nicht, ich will nichts für mich. Aber Sie können hier nicht bleiben, das müssen Sie selbst einsehen.“
Hella schüttelte den Kopf. „Nein, Sven. Die Tochter Fritz Rasmussens darf ihre Pflicht nicht vergessen.“
„So wollen Sie sich selbst vernichten?“
„Seit ich mit Ihnen gesprochen habe, werde ich vieles leichter tragen. Machen Sie es nicht so schwer, meiner Pflicht treu zu bleiben. Noch habe ich kein Recht, meinen Mann zu verlassen, und ein Recht müsste ich dazu haben, sonst würde ich mir ewig Vorwürfe machen.“
„Soll ich gehen, ohne Ihnen nützen zu können, ohne Hoffnung, dass es eine Erlösung für Sie gibt? Hella, Sie können das nicht von mir fordern! Und was soll ich Ihrem Vater sagen?“
„Sagen Sie ihm alles, Sven. Ich will nichts mehr vor ihm verbergen.“
Sven sah einen Augenblick sinnend vor sich hin. Dann richtete er sich auf. „Gut, Hella, es soll so sein. Ihr Vater soll alles von mir hören – nichts will ich ihm verschweigen. Er soll uns raten und helfen. Werden Sie sich seinem Urteil fügen?“
Sie sah ihn ernsthaft an. „Bedingungslos, Sven. Machen Sie sich aber darauf gefasst, dass er sagen wird: Meine Tochter hat ihr Schicksal selbst gewählt, sie muss tragen, was sie sich aufgeladen hat. Ich weiß, dass er so sprechen wird und er hat Recht damit. Aber nun gehen Sie, Sven, ich bitte Sie darum!“
Er trat an sie heran und drückte seine Lippen auf ihre Hand. Ein leises Zittern flog über beide, sie sahen sich an und sagten sich mit einem langen Blick Lebewohl.
In diesem Augenblick wurde plötzlich die Tür geöffnet, und Frau Emilie Boßneck stand auf der Schwelle. Mit impertinenter Neugier musterte sie Sven Andersen. „Ah, Sie haben Besuch, Frau Schwiegertochter?“, sagte sie dann höhnisch.
Hella wandte sich mit einem Seufzer nach ihr um. „Wie Sie sehen, Schwiegermama. Herr Andersen besuchte mich auf der Durchreise.“
„Soso, auf der Durchreise! Sie sollten aber Herrenbesuche nicht empfangen, wenn Sie allein im Haus sind. Herr Andersen hätte ja später wiederkommen können.“
Sven schwoll die Zornesader an. Mit einer kurzen Verneigung sagte er schnell, ehe Hella antworten konnte: „Die Hausangestellte, die mir öffnete, hielt es nicht für nötig, mich der gnädigen Frau zu melden. Sie war also gar nicht in der Lage, mich abweisen zu lassen, da ich direkt hinaufgewiesen wurde. Im Übrigen hatte mein Besuch nur den Zweck, Frau Hella Boßneck Grüße ihres Vaters zu überbringen und mich persönlich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Dies ist geschehen, und Sie gestatten mir wohl, dass ich mich nun entferne. Leben Sie wohl, Hella.“
Er küsste der jungen Frau noch einmal die Hand, verneigte sich vor Frau Boßneck und ging davon.
Als er fort war, erging sich Emilie in allerlei Vorwürfen, dass Hella den Besucher in diesem Zimmer empfangen hatte.
Hella war außerstande, es länger mit anzuhören. Sie sehnte sich nach Alleinsein. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich in meinem Zimmer befinden, Schwiegermama, in dem Zimmer, das Sie sonst zu meiden pflegen. Es ist wohl besser, Sie lassen mich allein.“
Frau Emilie Boßneck war zunächst sprachlos. Dann warf sie den Kopf zurück. „Empörend! Mich in meinem eigenen Haus hinauszuweisen! Aber ich werde mich bei meinem Sohn beschweren.“ Damit ging sie hinaus.
***
Franz Boßneck kehrte schon am nächsten Tag von seiner Reise zurück. Ehe er seine Frau zu Gesicht bekam, gab ihm seine Mutter einen Bericht über Sven Andersens Besuch. Franz hörte verdrießlich zu. Kaum setzte er den Fuß ins Haus, musste er auch schon Unannehmlichkeiten hören!
Trotzdem versuchte er, die giftigen Äußerungen seiner Mutter abzuschwächen. „Du bauschst da eine an sich ganz harmlose Sache auf, Mutter. Andersen steht in einem fast brüderlichen Verhältnis zu Hella. Wenn da Liebe dahinter steckte, hätten sie sich ja heiraten können.“
Frau Boßneck verzog hämisch den Mund. „Der Millionärssohn ist ihr eben lieber gewesen als so ein Hungerleider.“
„Du übertreibst. Andersen ist eine Berühmtheit und verdient schönes Geld.“
„Na, mir soll es ja recht sein, wenn du dich damit zufrieden gibst. Hättest du gesehen, mit welchem Blick die beiden sich verabschiedeten, du würdest mir glauben, dass dieser Besuch sehr verdächtig war. Ich hielt es für meine Pflicht, dich zu warnen. Dass deine Frau über die Maßen kokett und gefallsüchtig ist, hörst du ja von allen Seiten. Aber du willst eben blind sein.“
„Nun hör aber auf mit der ewigen Litanei! Ich weiß alles, was du sagen willst, Hella ist aber nun einmal meine Frau – daran lässt sich nichts mehr ändern.“
„Warum nicht, eine Ehe kann geschieden werden.“
„Das weiß ich, aber ich habe keinen Grund, mich von Hella scheiden zu lassen – wenigstens keinen stichhaltigen. Sonst täte ich’s gewiss, schon um endlich Ruhe zu bekommen. Für sie wäre es auch das Beste, denn sie lebt sich doch nie in unsere Verhältnisse ein. Aber ein schweres Geld würde es kosten; wenn sie keine Schuld trifft, wird sie sich gewiss schadlos halten wollen. Dafür wird Ihr Vater schon sorgen.“
Frau Emilie drehte unschlüssig an ihrem Schürzenzipfel. „Was das betrifft, Franz, die Kleefelds würden es sich schon was kosten lassen, Elsa ist nun einmal blind und toll in dich vernarrt. Ihre Eltern sind zu jedem Opfer bereit, dich von der da oben zu lösen.“
Franz biss sich auf die Lippen und sah seine Mutter von der Seite an. „So weit seid ihr also schon einig?“
„Du kannst dir doch denken, dass wir uns darüber aussprechen.“
Franz stand noch eine Weile sinnend da. „Ach, lass mich in Ruhe! Ich mag jetzt nichts mehr davon hören!“
Er ging hinauf und begab sich in seine Wohnung.
***
Eine Stunde später wurde Hella zu Tisch gerufen. Sie ging hinunter und nahm ruhig ihren Platz ein.
Ernst Boßneck schoss gehässige Blicke zu ihr hinüber. Berta zog die Mundwinkel verächtlich herab, und ihre Mutter teilte mit verkniffenem Gesicht die Suppe aus. Auf Franz Boßnecks Stirn standen Gewitterwolken. Niemand sprach ein Wort.
Nach beendigter Mahlzeit ging Hella in den Garten hinaus. Es war ein heißer, schwüler Septembertag. Die junge Frau hatte sich in einen Winkel hinter der Laube ein stilles Fleckchen zu ihrem Lieblingsplatz erkoren. Dort war sie ungestört und unbeobachtet. Niemand ahnte, dass sie dort manchmal stundenlang auf einem schmalen Feldstuhl saß, den Kopf an die Hinterwand der Laube gelehnt, und träumerisch zusah, wie die vom leichten Windhauch bewegten Blätter unruhige Schatten auf den sonnigen Weg warfen.
Die friedliche Stille ringsum tat auch heute ihren Nerven wohl.
Es sollte aber nicht lange so still bleiben, denn bald ertönten Stimmen im Garten. Hella lauschte, ob sie sich wieder entfernten, aber vergebens. Sie vernahm, dass ihre Schwägerin und ihre Schwiegermutter direkt auf die Laube zusteuerten. Dazwischen klang ein eigentümlich spitz und schrill klingendes Organ. Hella kannte es. So sprach Elsa Kleefeld.
Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber sie hätte an den Frauen vorbeigemusst. So blieb sie still sitzen in der Hoffnung, dass sich die drei bald wieder entfernen würden; zu ihrem Leidwesen aber nahmen sie gerade in der Laube Platz, hinter der Hella saß, und so musste sie jedes Wort hören, was zwischen ihnen gesprochen wurde.
„Wo ist denn die schöne Frau Hella?“, fragte Elsa in mokantem Tonfall.
„Natürlich in ihrem Heiligtum. Sie fühlt sie ja nur wohl, wenn alles kunterbunt um sie herumliegt. Du glaubst nicht, Elsa, wie es in diesem Zimmer aussieht! Schauderhaft. Wenn Mutter da oben nicht die Zügel festhielte, sähe es in der ganzen Wohnung so aus“, sagte Berta voll Entrüstung.
„Ja, Kind“, pflichtete Frau Emilie bei, „es ist ein schweres Kreuz mit dieser Frau. Und nicht einmal dankbar ist sie dafür, dass ich für sie den Haushalt besorge.“
„Das schlechte Geschöpf!“, rief Elsa schaudernd. „Mir tut nur der arme Franz Leid. Er muss hart büßen.“
„Ja, der arme Junge!“, seufzte seine Mutter.
„Wenn man ihm nur helfen könnte! Ach, gute Tante Boßneck, ich brächte gern jedes Opfer für seine Rettung.“
„Das weiß ich, Elschen. Sie lassen es Franz nicht entgelten, dass er so blind an Ihnen vorbeigelaufen ist. Er bereut es aber auch längst.“
Elsa seufzte. „Ja, wenn er nur erst frei wäre! Aber sie gibt ihn sicher nicht her, so sehr er sich auch danach sehnt. Haben Sie ihm schon gesagt, dass meine Eltern bereit sind, seiner Frau eine hohe Abfindungssumme zu geben, wenn sie ihn freilässt?“
„Ja, Elschen, gesagt hab ich’s ihm. Er war tief gerührt von Ihrer Güte, aber leicht ist es für einen Mann doch nicht, zu seiner Frau zu sagen: ’Geh, ich will mich von dir scheiden lassen!’ Es wird einen schlimmen Kampf mit ihr geben, sie ist so unglaublich renitent.“
„Ja, das glaube ich wohl. Und so eine ist ja auch zu allem fähig, so eine ausgefeimte Kokotte, die sich nicht scheut, Bildhauern Modell zu stehen.“
Hella saß wie zu Stein erstarrt. Die bodenlose Gemeinheit, die ihr hier entgegentrat, lähmte all ihr Denken und Empfinden. Wie war das nur möglich? Was hatte sie diesen Menschen getan, dass sie so erbärmlich von ihr sprachen? Es brauste vor ihren Ohren, sie verstand nicht mehr, was in der Laube gesprochen wurde. Erst als sich Elsa verabschiedete, kam sie wieder zu sich.
Auch die beiden anderen entfernten sich.
Starr sah Hella zum Himmel empor, als wollte sie dort eine Antwort finden auf die Frage: Was soll ich tun? Endlich stand sie auf, ging ins Haus und kleidete sich an. Sie wollte hinaus ins Freie. Dort würde sie sich klar werden über das, was sie tun musste.
Sinnend ging sie am Fluss entlang. Sein leises, monotones Rauschen beruhigte den Aufruhr, der in ihr tobte. Nachdenklich folgte ihr Blick dem fließenden Wasser. Wer doch seinem Lauf folgen könnte, ohne umkehren zu müssen in die enge, kleine Stadt, mit den Menschen, die ihr übel wollten!
Sollte sie ihrem Vater die belauschte Unterredung mitteilen und von ihm ihre Sache führen lassen? Oder war es besser, sie sprach mit Franz? Er sehnte sich ja nach Freiheit, wie sie selbst, da galt es vielleicht nur, das erlösende Wort zu sprechen.
Voll Unruhe und innerer Bedrängnis kehrte sie endlich zur Stadt zurück, und auf dem Heimweg fasste sie den Entschluss, heute Abend mit Franz zu sprechen. Es war am besten so.
Als sie über den kleinen Marktplatz schritt, der still und verschlafen dalag, kam ihr ein Herr entgegen.
Er stutzte bei ihrem Anblick, und Hella wurde gleichfalls auf ihn aufmerksam. Sie sah in sein Gesicht, und ein Ausdruck des Erkennens flog über beider Züge. „Fräulein Rasmussen? Nein pardon, gnädige Frau – sind Sie das wirklich?“, rief er freudig erstaunt und zog den Hut.
Sie neigte grüßend den Kopf und reichte ihm die Hand. „Ich bin es in der Tat, Herr Werner.“
„Das nenne ich Glück, Sie hier zu treffen! Wie kommen Sie denn in diesen verschlafenen Erdenwinkel?“
„Dieser verschlafene Erdenwinkel ist zur Zeit mein Wohnsitz.“
„Nicht möglich! Unsere gefeierte Hella Rasmussen in dieser spießbürgerlichen Umgebung?“
„Und doch ist es so“, sagte sie lächelnd.
Der junge Künstler sah sie mit zweifelndem Kopfschütteln von der Seite an. Er war ein häufiger Gast in Rasmussens Haus gewesen und kannte Hella seit Jahren.
Er bat Hella, sie ein Stück Weg begleiten zu dürfen. Sie hätte ihm am liebsten diese Bitte abgeschlagen, denn an verschiedenen Fenstern erschienen schon neugierige Gesichter, und die junge Frau wusste, morgen war es in der ganzen Stadt herum, dass sie mit einem fremden Herrn auf der Straße zusammengetroffen war. Dann aber fand sie es lächerlich, dass sie sich darum kümmerte, und gab ihre Zustimmung.
„Also hierher hat Sie das Schicksal verschlagen, gnädige Frau? Mein Gott, wie halten Sie das nur aus? Ich bin seit gestern hier und komme mir schon vor wie ein Fisch auf dem Sand. Freilich, für ein junges Ehepaar mag das Leben hier seinen eigenen Reiz haben, aber für die Dauer halten Sie das sicher nicht aus, das prophezeie ich Ihnen.“
„Das wird die Zukunft lehren, Herr Werner. Aber nun sagen Sie mir, was Sie hier herführt?“
„Kunststudien.“
Hella musste lachen. „Hier Kunststudien – das ist allerdings ein unglaublicher Vorwand!“
„Aber ich bitte recht sehr, gnädige Frau.“ Er zog ein Skizzenbuch aus der Tasche und hielt es ihr hin. „Schauen Sie! Sind das nicht reizende Motive? Die ganze Stadt ist ein Erntefeld für mich. Die Zeit hat Ihren berüchtigten Zahn hier noch nirgends angesetzt. Alles wie vor hundert Jahren!“
Sie nickte lächelnd. „Gedenken Sie länger hier zu bleiben?“
„Leider muss ich schon heute Abend zurück, ich würde sonst nicht verfehlen, Ihnen morgen meine Aufwartung zu machen.“
Hella atmete auf. Gottlob, dass daran nicht zu denken war! Es war nicht nötig, dass man erfuhr, in welcher Umgebung sie hier lebte.
Berta entdeckte Hella und den Herrn zuerst. Aufgeregt rief sie ihre Mutter und dann auch Franz herbei, der eben nach Hause gekommen war.
Frau Emilie war außer sich. „Das ist doch unerhört! Deine Frau wird noch Schimpf und Schande auf unseren ehrlichen Namen bringen. Was sollen die Leute dazu sagen, dass sie mit fremden Herren so ungeniert herumläuft! An ihrem Ruf ist freilich ohnedies nicht viel mehr zu verderben. Neulich empfängt sie allein Herrenbesuch, und heute kommt sie wieder mit einem wildfremden Menschen an. Franz, es ist höchste Zeit, dass du dich von ihr trennst, sonst erleben wir noch etwas!“
Franz hörte den Schluss ihrer Rede schon nicht mehr. Wütend stürzte er hinter seiner Frau die Treppe hinauf. Sie hatte gerade Hut und Handschuhe abgelegt und stand vor dem Spiegel, um sich das Haar zu ordnen, als ihr Mann hereinkam.
Er trat mit finsterem Gesicht dicht an sie heran. „Wie kommst du dazu, die Begleitung eines fremden Herrn anzunehmen?“
Sie wandte sich vom Spiegel ab und sah ihm ernst ins Gesicht. „Natürlich war es kein fremder Herr, sondern ein junger Maler, der viel im Haus meines Vaters verkehrte. Wenn er nicht heute noch abreiste, hätte er uns morgen seine Aufwartung gemacht.“
„Das hätte gerade noch gefehlt!“
„Warum?“
„Es muss dir genügen, wenn ich dir sage, dass ich es nicht wünsche, dass du solches Künstlervolk empfängst.“
„Erlaube, das würde mir in diesem Fall durchaus nicht genügen. Warum soll ich einen Menschen, der meinem Vater und mir freundschaftlich nahe stand, abweisen lassen, wenn er mich zu besuchen gedenkt? Dafür müsstest du mir doch zumindestens einen vernünftigen Grund angeben.“
„Schlimm genug, dass dir mein Wille nicht einfach maßgebend ist. Das zeigt wieder einmal zur Genüge deine falsche Erziehung. Aber du sollst auch noch eine Begründung haben, damit dir in Zukunft nicht etwa einfällt, mir solch einen Menschen ins Haus zu bringen. Ich mag diese so genannten Künstler nicht bei mir sehen. Sie richten Unheil an mit ihren fantastischen Ideen. In unseren soliden bürgerlichen Kreisen meidet man solchen Verkehr.“
Hella setzte sich ans Fenster und schlang die Hände ineinander. „Ereifere dich nicht unnötig, es wird niemand aus meinen Kreisen zu uns kommen, und ich werde also glücklicherweise nicht gezwungen werden, unhöflich zu sein.“
„Bitte, lass diesen Ton, er ist durchaus nicht am Platz! Du tust immer, als geschehe dir wer weiß was für Unrecht, wenn man dich zur Vernunft bekehren will. Im Haus deines Vaters hat ein sehr freier Ton geherrscht, dadurch bist du verdorben für solide Verhältnisse. Bei uns herrschen strenge Sitten. Kunstgelichter halte ich mir vom Hals, das kannst du gelegentlich auch Herrn Andersen zu verstehen geben. In unseren Kreisen brauchen die Frauen keine Anbeter und Schleppenträger. Sie haben ihren Mann, ihren Haushalt – damit basta!“
„Ihr habt mir nicht einmal einen Haushalt zu führen gestattet. Ich lebe ein so inhaltsloses Leben, dass es zum Erbarmen ist. Im Haus meines Vaters hatte ich Arbeit und geistige Anregung. Aber hier – niemand steht zu mir, nicht einmal mein Mann.“
„Das ist deine eigene Schuld. Warum hast du dich hier so unbeliebt gemacht.“
„Sag lieber: Deine Mutter, deine Schwester und die Damen Kleefeld haben dafür gesorgt, dass man mich von Anfang an mit Misstrauen empfing.“
„Das redest du dir nur ein. Sicher ist, dass du dich in Gesellschaft stets nur mit Herren unterhalten hast. Das hat man dir natürlich sehr verdacht.“
„Ich habe mich allerdings stets lieber mit gescheiten Männern als mit dummen Frauen unterhalten.“
„Es gibt noch mehr gescheite Frauen außer dir.“
„Nun, wenn es hier wirklich welche gibt, so habe ich nicht das Vergnügen gehabt, sie kennen zu lernen.“
„Natürlich, du schiltst sie einfach dumm, weil sie dir den gewohnten zwanglosen Verkehrston nicht gestatten wollen. Die Herren finden dich freilich sehr amüsant, dein Entgegenkommen schmeichelt ihrer Eitelkeit, jeder bildet sich ein, dir besonders lieb und angenehm zu sein. Dadurch zwingst du sie in deinen Bann. So kalt du zu den Frauen bist, so zuvorkommend umschmeichelst du die Herren. Dafür sind sie ja auch alle ganz toll mit dir, und wenn ich nicht gerade dein Mann wäre, würde ich vielleicht auch mit einstimmen, wenn es am Biertisch heißt: Die junge Frau Boßneck ist eine entzückende Frau! Die Frauen aber beurteilen dich schärfer. Meine Mutter und meine Schwester müssen genug über sich ergehen lassen in Bezug auf dich.“
„Und sind dabei meine eifrigsten Ankläger – ich weiß es.“
„Ist auch kein Wunder. Deine Koketterien müssen jede anständige Frau gegen dich einnehmen.“
Sie zuckte zusammen und sah ihm mit einem unbeschreiblichen Blick ins Gesicht. „Ich kokettiere niemals“, sagte sie dann.
Er lachte überlaut. „Das musst du mir nicht aufbinden wollen. Ich kenne dein hervorragendes Talent aus eigener Erfahrung.
„Wie meinst du das? Ich verstehe dich nicht“, sagte sie verwundert.
„Denkst du denn, ich hätte mich damals so kopflos mir dir verlobt, wenn du mich durch dein kokettes Entgegenkommen nicht direkt dazu gezwungen hättest?“
Sie erhob sich langsam, halb gelähmt vor Schreck und Entsetzen. Ihre weit geöffneten Augen sahen starr in sein Gesicht, und aus ihrem Antlitz war jeder Blutstropfen gewichen.
„So hast du das aufgefasst?“, rief sie. Er antwortete nicht.
Langsam raffte sie mit unnachahmlicher Gebärde ihr Kleid zusammen und wich von ihm zurück bis an die Wand des Zimmers. Fremd und kalt wurde ihr Blick, sie sah ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Dann schritt sie der Tür zu.
Er hielt sie ärgerlich auf, indem er seine Hand auf ihren Arm legte. „Wo willst du hin? Ist das eine Art, ein Gespräch abzubrechen?“
Sie streifte mit einer energischen Bewegung seine Hand von ihrem Arm. „Rühr mich nicht an! Zwischen uns gibt es keine Gemeinschaft mehr nach diesem Auftritt.“
„Weil ich dir das Kokettieren verbiete – sehr gut!“
„Spare dein Worte! Du kannst mich nicht mehr beleidigen. Ich habe eben ganz klar sehen gelernt. Verzeih nur, dass ich so schwer von Begriff war und mich nicht leichter abschütteln ließ. Heute Nachmittag erst habe ich zufällig gehört, wie sehr du dich danach sehnst, mich loszuwerden. Elsa Kleefeld ist ja sogar bereit, dich von mir loszukaufen. Herrlich habt ihr euch mit euren ’soliden bürgerlichen Begriffen’ das ausgedacht! Du hättest dir und mir viel Qual und Erniedrigung sparen können, wenn du offen und ehrlich vor mich hingetreten wärst und hättest mir gesagt: Lass uns das Band lösen, das wir so schnell und unüberlegt geknüpft haben. Wir hätten uns ruhig und ohne Groll trennen können. Dass du mir aber, um mich zu kränken, daraus einen Vorwurf machst, dass ich in jugendlicher Begeisterung dir damals mein Herz entgegentrug und dir damit offen zeigte, wie groß ich von dir dachte, das ist so erbärmlich und niedrig von dir, dass ich nicht einmal mit Achtung an dich zurückdenken kam,. Ich schäme mich – schäme mich bis zur Verzweiflung, dass ich dein Weib geworden bin, und diese Scham werde ich nie wieder ganz verwinden können. Ich reise noch heute Abend zu meinem Vater zurück – meine Sachen sendest du mir wohl nach.“
Franz hatte ihre Worte schweigend über sich ergehen lassen. Jetzt schüttelte er den Bann ab, der ihn lähmte. „Was fällt dir ein? Willst du einen Skandal provozieren?“
Sie verzog spöttisch den Mund. „Deine Mutter wird dich schelten, dass du nicht mit beiden Händen zugreifst, dass du mich so billig loswerden kannst. Bedenke doch: Elsa Kleefeld braucht mir keine Abfindungssumme zu geben, ich gebe dich ihr ganz umsonst.“
Er stampfte in wilder Wut mit dem Fuß auf. „Du bleibst, bis ich es für gut halte, dich gehen zu lassen.“
Sie warf stolz den Kopf zurück. „Ich gehe. Fritz Rasmussens Tochter hat ertragen, was zu ertragen war. Jetzt hält mich nichts mehr hier. Dein Verhalten gibt mir ein Recht, dich zu verlassen. Und willst du mich dennoch halten, so rufe deine Eltern herbei. In diesem Fall werden sie, denke ich, einer Meinung mit mir sein.“
Damit ging sie zur Tür hinaus. In ihrem Zimmer machte sie sich schnell für die Reise fertig und verließ kurze Zeit darauf ohne Abschied das Haus, in dem sie so viel gelitten hatte.
Franz aber ging hinunter zu seinen Eltern, die bereits mit dem Essen warteten.
„Nun, hast du ihr den Standpunkt klar gemacht?“, fragte seine Mutter eifrig. „Wo bleibt sie denn? Wir wollen essen.“
„Dann lasst uns anfangen! Hella hat soeben das Haus für immer verlassen und kehrt zu ihrem Vater zurück.“
„Bravo! Hast du ihr so energisch den Laufpass gegeben? Alle Achtung! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut“, sagte sein Vater erfreut.
***
Rasmussen, durch ein Telegramm unterrichtet, erwartete Hella am Bahnhof. Zitternd vor Aufregung lag sie in seinen Armen.
Beide sprachen kein Wort.
Rasmussen sah mit Sorge in ihr blasses Gesicht mit den glänzenden Augen. Sorgsam half er ihr in ein Taxi und setzte sich zu ihr. Keine Frage, kein Wort richtete er an sie, er wusste, in manchen Stimmungen ist Schweigen die einzige Wohltat.
Es hatte geregnet. Der Schein der Laternen fiel in gleichmäßigen Zwischenräumen durch die Wagenfenster auf die blassen, ernsten Gesichter von Vater und Tochter.
Hella schauerte zusammen, und Rasmussen legte schützend den Arm um ihre Schultern. Ein wohliges Gefühl der Geborgenheit beruhigte ihre Nerven.
Daheim angelangt, wurden sie von Frau Liebentrut empfangen. Rasmussen hatte ihr vorher Weisung gegeben, Tee zu bereiten und Hella nicht mit Fragen zu quälen. So machte sich die alte Frau nur liebevoll um Hella zu schaffen, half ihr, Hut und Mantel ablegen und brachte ihr bequeme Schuhe, ganz wie früher, wenn Hella von einem Fest nach Hause zurückkehrte.
Diese stummen Beweise treuer Liebe der alten Frau lösten Hellas Erstarrung. Die Tränen traten ihr in die Augen, und haltloses Weinen erschütterte sie.
Rasmussen setzte sich zu ihr und zog sie in seine Arme. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte sich aus.
Frau Liebentrut hatte sich still entfernt. Vater und Tochter waren allein.
Draußen aber, im Garten, unter den Fenstern, lief ein Mann ruhelos auf und ab, und seine Augen schienen die Wände durchbohren zu wollen.
***
Am anderen Morgen war es sehr spät, als Hella erwachte. Als sie den altvertrauten Raum vor sich sah, schloss sie nochmals die Augen. Sie fürchtete, zu träumen. Aber dann klang ein leises, klingendes Geräusch an ihr Ohr. Sie lauschte. Wie lange hatte sie das nicht gehört! Es kam aus des Vaters Atelier herüber, und sie wusste, es entstand durch das Aufschlagen des Eisens an den Stein. Ihr Vater war bei der Arbeit.
Nun richtete sie sich auf und kleidete sich schnell an.
Daheim – daheim – daheim!, klang ihr der helle, singende Ton in den Ohren. Es war wunderbar.
Als sie aus ihrem Zimmer trat, stand Frau Liebentrut vor ihr.
„Gerade wollte ich nachsehen, ob Sie schon ausgeschlafen haben, Fräulein Hellachen – wollte sagen: gnädige Frau.“
Hella legte ihren Arm um die Schultern der alten Frau. „Liebentrutchen, nennen Sie mich nur wie früher, dann ist mir viel wohler! Gutes Liebentrutchen, wie bin ich froh, dass ich Ihr gutes, liebes Gesicht wieder vor mir habe! Gelt, Sie haben mich noch ein wenig lieb, wenn ich auch als davongelaufene Frau ins Vaterhaus zurückkehre?“
„Du meine Güte natürlich. Der Herr Professor hat mir erzählt, wie schlecht es Ihnen gegangen ist! Na, man sieht’s Ihnen ja auch an, so blass und elend schauen Sie aus. Aber das wollen wir schon wieder kriegen. Und nun schnell gefrühstückt, sonst schmeckt das Mittagessen nicht. Hab doch Ihre Leibspeisen heute auf dem Küchenzettel.“
Hella wurde das Herz weit. Sie ging ins Speisezimmer, wo das Frühstück für sie stand. Einen langen Blick warf sie durch das Fenster nach Svens Atelier hinüber. Sie ahnte nicht, dass Andersen schon lange auf der Lauer stand und auf den Augenblick wartete, wo sie am Fenster erschien.
Er hatte bereits mit Rasmussen gesprochen und alles erfahren.
Als Hella noch beim Frühstück saß, trat er plötzlich bei ihr ein. Sie erhob sich und sah ihn mit ernsten Augen an. Er eilte auf sie zu und gab ihr die Hand. „Hella – Hella! Dass Sie nur wieder da sind!“
Ein mächtiges, alles durchdringendes Gefühl sprach aus dem bebenden Ton seiner Stimme.
Hella erzitterte. Ein Schauer unendlicher Glückseligkeit durchdrang sie.
Svens Augen leuchteten. Aber er trat zurück von ihr, obwohl er sie am liebsten an sein wild klopfendes Herz gerissen hätte. Erst musste sie frei sein – ganz frei.
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Das Leben zwischen den drei wieder vereinten Menschen nahm seinen alten Gang; fast schien es, als sei Hella niemals fortgewesen.
Nur war aus dem fröhlichen, lustigen Mädchen eine ernste Frau geworden, und zwischen ihr und Sven herrschte ein anderer Ton.
Mit unendlicher Zartheit begegnete Sven der geliebten Frau, und diese ehrerbietige Zartheit heilte Hella nach und nach von dem Gefühl der Beschämung und Demütigung. Sie erkannte mehr und mehr, welch ein Schatz von Liebe und Güte in Svens Brust verborgen lag. Obwohl er nie ein Wort von Liebe sprach und sich zur größten Zurückhaltung zwang, merkte sie doch, wie sein ganzes Sein von glühender Sehnsucht nach ihr durchdrungen war. Und nun erst erkannte sie auch an sich selbst das wahre Wesen der Liebe.
Während Rasmussen mit großer Energie die Scheidung seiner Tochter betrieb, erholte sich Hella im Schutz treuester Liebe von all den trüben Erfahrungen ihrer kurzen Ehe.
Als endlich die Scheidung ausgesprochen wurde, löste ein Tränenstrom die letzten Spuren der Bitterkeit aus ihrer Seele, und als sie nicht lange danach erfuhr, dass Franz Boßneck sich mit Elsa Kleefeld verheiratet hatte, fühlte sie sich vollends von ihm losgelöst.
Eines Tages saß Hella in ihrem kleinen Salon und sah träumerisch hinaus in den Garten, der verschneit und winterstill vor ihren Blicken lag.
Da trat Sven zu ihr ein und stellte sich ihr gegenüber, die Hand auf den Kaminsims gestützt.
Hella sah ihn lächelnd und etwas befangen an. „Was soll ich von Ihnen denken, Sven? Mitten am hellen Tag unterbrechen Sie Ihre Arbeit, um mir… stumme Gesellschaft zu leisten?“
Er sah sie mit brennenden Augen an. „Ich kann nicht arbeiten, Hella. Es lässt mir da drüben keine Ruhe. Ich stehe stundenlang untätig am Atelierfenster und schaue herüber zu Ihnen.“
Sie erglühte, sprach aber kein Wort.
Er trat dicht zu ihr heran. „Hella, Sie wissen, was mich so ruhelos macht. Seit ich weiß, dass Sie frei sind, kann ich nichts mehr denken und tun. Ich möchte Sie schonen, möchte Ihnen Zeit lassen, zu verwinden, aber ich kann nicht mehr.“ Er fasste ihre Hände und zog sie zu sich empor.
Sie sah ihn innig an.
„Hella, darf ich denn endlich glücklich sein? Willst du mir angehören in Freud und Leid?“
Sie legte ihre Arme um seinen Hals und lehnte ihren Kopf an seine Wange. „Wenn du mich haben willst, so nimm mich hin! Mein Herz gehört nur dir allein.“
Er zog sie fest an sich. Seine Arme zitterten, und dieses Zittern verriet ihr die Macht, die sie, über diesen Mann hatte.
Sie blieben beisammen, bis in der Dämmerstunde Rasmussen aus seinem Atelier kam. Er fand die Liebenden innig umschlungen am Fenster stehen. Das strahlende Glück in ihren Augen sagte ihm alles. Mit frohem Gesicht trat er auf sie zu und schloss beide zugleich in seine Arme.
„Meine Kinder, ich bin glücklich, dass ihr euch angehören dürft nach so langer Irrfahrt. Nun seid ihr beide für immer auf dem rechten Boden, auf dem der Liebe.“
***
Die Hochzeit fand auf Svens dringenden Wunsch schon nach wenigen Wochen statt. Eine Hochzeitsreise machten sie nicht, denn Sven wollte Hella im Frühsommer nach Schweden zu seinen Eltern bringen, um sich auch ihren Segen zu holen.
Das junge Paar bezog die Villa Rasmussens, und der Professor richtete sich in Svens Gartenhäuschen ein. Frau Liebentrut blieb natürlich im Haus.
August Brösselt war erst sehr betrübt gewesen, dass er nicht mehr für seinen Herrn kochen und wirtschaften konnte. Aber er fand sich bald darein, Frau Liebentrut an die Hand zu gehen, denn zu tun gab es genug für ihn, zumal als zwei Kinder ihren Einzug hielten in der Villa Rasmussen.
Ihrem Großvater waren diese Kinder der Inbegriff aller irdischen Glückseligkeit.
Im Hause Boßneck aber dachte nur einer noch manchmal an die reizende Erscheinung, die ein kurzes Jahr darin ein Scheindasein geführt hatte. Aber er wehrte dieser Erinnerung, so viel er konnte. Franz Boßneck wollte sich nicht eingestehen, dass seine erste Frau liebenswerter gewesen war als die zweite, wenn sie sich auch willig von ihm tyrannisieren ließ.