Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 26

Das verschwundene Dokument

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Inhaltsverzeichnis

Ruth Alving stand mit bedrückter Miene am Fenster und sah hinaus in den verschneiten Garten. Sie hatte den Mund fest zusammengepresst, und in die klare weiße Stirn hatte sich eine senkrechte Falte eingegraben.

Aus dem Nebenzimmer klangen Stimmen an ihr Ohr. Dort befanden sich der Hausherr, Rochus Bernd, und seine beiden einzigen Verwandten, die Enkelkinder eines Cousins von ihm, die auch seinen Namen trugen.

Rochus Bernd war ein weißhaariger Greis. Er saß in müder, abgespannter Haltung in einem Lehnstuhl und sah unter den weißen buschigen Brauen hervor auf die beiden jungen Menschen, die ihm gegenüber Platz genommen hatten.

In seinen grauen Augen lag kein freundlicher Ausdruck. Er war nicht sehr gut auf seine beiden Verwandten zu sprechen und sah es nicht gern, wenn sie ihn besuchten.

Lena und Kurt Bernd waren weit davon entfernt, die Schuld daran bei sich selbst zu suchen. Sie waren fest davon überzeugt, dass Ruth Alving, das Mündel ihres Großonkels, ihn gegen sie beeinflusste. In ihren Augen war Ruth Alving eine gefährliche Erbschleicherin.

Rochus Bernd hatte Ruth Alving zu seinem Mündel gemacht, nachdem ihre beiden Eltern bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen waren: Sie hatten ein Landgut, das Rochus Bernd gehörte, bewirtschaftet und waren ihm treu ergeben gewesen.

Eines Tages hatte er sie, wie zuweilen, nach Berlin beordert, um mit ihnen Geschäfte zu besprechen. Er selbst stand damals noch mitten im geschäftlichen Leben, und seine Zeit war ihm zu kostbar, um auf das Gut zu reisen.

Kurzum, auf seinen Wunsch hatten sie auch diese Reise angetreten, die ihre letzte sein sollte. Der von ihnen benutzte Zug war entgleist. Unter den Toten, die der Unglücksfall forderte, befand sich das Ehepaar Alving. Mitten aus einem blühenden, schaffensfreudigen Leben wurden sie herausgerissen.

Rochus Bernd hatte sich nicht freimachen können von dem Gedanken, er sei indirekt schuld am Tod von Ruths Eltern, und dieses Gefühl trieb ihn dazu, sich in großmütigster Weise der verwaisten Ruth anzunehmen. Eine Tat, die ihm in Zukunft reichen Segen bringen sollte, denn Ruth wurde ihm lieb wie ein eigenes Kind und erhellte und erwärmte sein einsames Alter.

Rochus Bernd war seit langen Jahren Witwer, und seine einzige Tochter, die er sehr geliebt hatte, war ihm, als sie zweiundzwanzig Jahre zählte, auf tragische Weise genommen worden. So stand er ganz allein im Leben, bis er Ruth in sein Haus nahm.

Sie war jetzt zwanzig Jahre alt und Rochus Bernds rechte Hand in allen Dingen. Sie versah das Amt einer Sekretärin bei ihm und nahm sich des Haushalts in jeder Weise an. Sie erhielt alle Schlüssel von Wäschekammern, Vorratsräumen und Silberschränken, bestellte bei Lieferanten, rechnete mit ihnen ab und führte so genau über alles Buch, dass Onkel Rochus, wie sie ihren Vormund auf seinen Wunsch nannte, sie oft neckend damit aufzog und sich weigerte, die Bücher zu kontrollieren.

Dann pflegte sie ihn ernst und bittend anzusehen und zu sagen: „Ich tue das nicht deinetwegen und nicht meinetwegen, Onkel Rochus, du vertraust mir, wie ich mir selber vertraue. Aber ich will auch jederzeit imstande sein, anderen Menschen zu beweisen, dass alles korrekt ist. Du weißt, dass man mich mit misstrauischen Augen ansieht.“

Sie wussten beide, dass Ruth damit Lena und Kurt Bernd meinte, und so ließ der alte Herr sie gewähren und machte unter jede Monatsabrechnung, die Ruth ihm vorlegte, sein Abschlusszeichen.

Als der Vormund im Spätherbst ernstlich an einer schweren Grippe erkrankte, war ihm Ruth eine treue, nimmermüde Pflegerin. Sie teilte sich mit seinem alten Diener Heinrich die Nachtwachen und ließ dem verehrten Greis liebevolle Fürsorge angedeihen.

Das brachte die beiden Menschen einander noch näher, ein Umstand, der seinen auf seine Erbschaft wartenden Verwandten natürlich ein Dorn im Auge war.

Als er Ruth ganz zu sich ins Haus nahm, lebte der Vater von Lena und Kurt Bernd noch. Schon er hatte vergeblich von Tag zu Tag auf den Tod des alten Herrn gewartet. Er war Zeit seines Lebens ein Leichtfuß gewesen. Jede ernste Arbeit war ihm verhasst; er verbrachte seine Tage im Bett, seine Nächte in Bars und im Spielklub. Seine Gattin hatte auch nur ihrem Vergnügen gelebt und die Kinder sich selbst und den Dienstboten überlassen. Als sie an den Folgen einer Erkältung, die sie sich nach einer durchtanzten Ballnacht zugezogen hatte, starb, hinterließ sie keine Lücke. Aber nach ihrem Tod wurden die Verhältnisse ganz unhaltbar. Ihr Gatte gab sich vollends seinem ausschweifenden Leben hin, und die inzwischen unter der Obhut gewissenloser Dienstboten aufgewachsenen Kinder, die nie ein gutes Beispiel vor Augen gehabt hatten, traten ganz in die Fußstapfen der Eltern.

Lena, eine üppige Brünette mit schwarzen Feueraugen, hielt fleißig Umschau nach einem reichen Freier und entwickelte sich mehr und mehr zu einer raffinierten Kokotte. Aber reiche Freier waren auch in der zügellosen Nachkriegszeit nicht so leicht zu finden. Und so richteten sich Lenas Gedanken mehr und mehr auf das Erbe, das der Großonkel hinterlassen würde.

Kurt war das getreue Abbild seines Vaters. Er war faul, genusssüchtig, hatte trotz seiner Jugend schon einen durch Ausschweifungen zerrütteten Körper und pendelte zwischen Tanzbars und Spieltischen hin und her. Und sehr oft nahm er seine Schwester mit zu solchen Veranstaltungen, denn sie hingen wie die Kletten aneinander, nicht, weil sie sich liebten, sondern weil sie die gleichen Lebensziele hatten.

Einen Beruf übte Kurt so wenig aus, wie es sein Vater getan hatte. Wie er, suchte auch der Sohn am Spieltisch, beim Rennen oder durch nicht sehr einwandfreie Gelegenheitsgeschäfte zu Geld zu kommen. Und wenn er einmal ganz auf dem Trockenen war und nicht mehr aus und ein wusste, dann ging er zu Rochus Bernd, jammerte ihm von den schlechten Zeiten vor und bat um seine Hilfe.

Der alte Herr versagte diese Hilfe nie, obwohl ihm der Lebenswandel seiner Verwandten so gut bekannt war wie ihre Charaktereigenschaften. Aber er wollte sie nicht vollends in die Gosse kommen lassen, weil sie doch nun einmal seinen Namen trugen. Er half aber immer nur so weit, wie es unbedingt nötig war, denn er hatte keine Lust, sein in einem arbeitsreichen Leben erworbenes Vermögen sinnlos verschwenden zu lassen.

Als Rochus Bernd sein Mündel Ruth Alving ins Haus nahm, erfüllte seine Verwandten großes Missbehagen. Sie fürchteten, dass Ruth Alving ihren Einfluss geltend machen könnte, um sich zum mindesten einen Teil der Erbschaft zu erschleichen. Sie begrüßten es als ein großes Glück, dass Rochus Bernd, wie viele alte Leute, sich immer noch nicht entschließen konnte, ein Testament zu machen. Starb er, ohne ein Testament zu hinterlassen, dann musste ihnen alles zufallen. Machte er aber ein Testament, dann würde er sicher Ruth Alving hervorragend bedenken.

Und damit vermuteten sie richtig. Wenn Rochus Bernd schon einmal den Gedanken an ein Testament erwog, dann stand es bei ihm fest, dass Ruths Zukunft unbedingt sichergestellt werden sollte. Sie stand ihm näher als seine Verwandten. Und wenn er auch nicht daran dachte, sie zu übergehen, so war er doch willens, ganz anders zu testieren, als sie es erhofften. Der alte Herr hatte auch schon zuweilen mit seinem Notar, Dr. Jungmann, über seine Testamentspläne gesprochen, aber zur Ausführung waren diese Pläne noch nicht gekommen. Jedenfalls aber feindeten seine Verwandten die völlig unschuldige Ruth in gehässiger Weise an, und wenn in ihren frivolen Herzen noch Raum für ein Gebet gewesen wäre, so hätten sie sicher darum gebetet, Rochus Bernd möge recht bald, und ohne ein Testament zu hinterlassen, sterben.

Der Vater der beiden Geschwister sollte jedoch nicht in die Lage kommen, Rochus Bernd zu beerben. Er starb nach einem kurzen Krankenlager und ließ seine Kinder in nichts weniger als geordneten Verhältnissen zurück. Die Geschwister verkauften einen Teil der Möbel, bezogen zusammen eine Dreizimmerwohnung, hielten sich zur Bedienung ein Dienstmädchen und verjubelten bald den Erlös aus diesen Verkäufen. Und wenn sie nichts mehr hatten, musste der Großonkel helfen. Oft genug malten die Geschwister sich aus, wie sie leben wollten, wenn erst des Oheims Reichtum ihnen gehörte, wenn sie in der Villa Bernd wohnen und mit dem eigenen Auto fahren würden.

Sooft es der Großonkel erlaubte, besuchten sie ihn, schon um Ruth Alving zu kontrollieren, ihr das Leben schwer zu machen und sie in den Augen des alten Herrn herabzusetzen.

Auch heute hatten sie bei ihrer Ankunft Ruth in ziemlich ungezogener Art behandelt. Ruth hatte sie im Vestibül empfangen und hatte ihnen gesagt, Onkel Rochus sei noch immer nicht ganz wohl, sie möchten daher recht vorsichtig sein, um den alten Herrn nicht aufzuregen.

Während Kurt mit seinen begehrlichen Augen Ruths Jugendschöne Gestalt sah, saß Lena sie von oben herab ab.

„Wir bedürfen keiner Verhaltensmaßregeln, Fräulein Alving, die können Sie sich sparen.“

Und Kurt fuhr mit überlegenem Lächeln fort: „Ihre Fürsorge für unseren teuren Verwandten ist rührend, aber Ihre Verhaltensmaßregeln sind in der Tat überflüssig.“

Ruth, die diesen Ton von den Geschwistern gewöhnt war, blieb ruhig.

„Ich wollte Ihnen keine Vorschriften machen, sondern Ihnen nur mitteilen, dass Onkel Rochus noch nicht wieder ganz gesund ist.“

Lena hatte mit den Schultern gezuckt und Ruth von oben bis unten angesehen.

„Mein Gott, diese Anmaßung! Und das ist es doch wohl, wenn Untergebene widersprechen.“

Ruths Lippen zuckten, aber sie verlor ihre Selbstbeherrschung nicht.

„Ich bin nicht Ihre Untergebene, Fräulein Bernd, und was ich für meine Pflicht halte, werde ich tun, ob es Ihnen gefällt oder nicht.“

„Unverschämt!“, zischte Lena sie an und ging an ihr vorüber ins Zimmer.

Ihr Bruder folgte, Ruth mit einem unverschämten Lächeln musternd. Das junge Mädchen blieb, nach Fassung ringend, zurück und musste hören, wie Fräulein Bernd zu dem alten Herrn sagte: „Weißt du, Großonkelchen, dieses Fräulein Alving benimmt sich, als sei sie die Herrin dieses Hauses. Sie bekommt immer mehr Prinzessinnenallüren. Ich begreife nicht, dass du diese anmaßende und dabei langweilige Person Tag für Tag um dich leiden magst.“

Der alte Herr sah Lena bei diesen Worten mit seinen durchdringenden Augen seltsam an. „Hast du schon wieder etwas an Ruth auszusetzen? Sie ist mir eine treue, aufopfernde Pflegerin, eine nimmermüde Gesellschafterin. Ohne sie wäre mein Leben einsam und leer.“

„Aber liebes Großonkelchen, wenn du mir doch gestatten würdest, immer bei dir zu bleiben, ich würde dich noch viel aufopfernder und liebevoller pflegen.“

Mit einem sarkastischen Lächeln sah er sie an. „Du hast ja nicht einmal deinen Vater gepflegt, als er krank war. Er starb, während du dich auf einem Tanztee amüsiertest.“

„Ich konnte doch nicht vorher wissen, dass er starb.“

„Nein, aber du wusstest, dass er todkrank war und ließest ihn doch allein. Du besitzt jedenfalls nicht die aufopfernden Eigenschaften einer Krankenpflegerin, und ich würde einen sehr schlechten Tausch machen.“

Lena machte ein allerliebstes Schmollmäulchen und sah ihn kokett an. „Das käme doch auf die Probe an.“

Er wehrte ab. „Darauf will ich es nicht erst ankommen lassen.“

„Nun, ich stehe dir doch näher als Fräulein Alving.“

„Meinst du?“, fragte er mit seltsamer Betonung.

Lena konnte nur schwer ihren Ärger meistern.

„Sie darf immer bei dir sein – uns hältst du fern“, schmollte sie.

Der alte Herr sah sie scharf an. „Das hat seine Gründe, Lena.“

Nun verlor sie ihre Ruhe. „Oh, ich weiß, Fräulein Alving macht sich breit in deinem Herzen und verdrängt uns daraus. Sie berichtet dir allerlei Ungünstiges über uns, um sich bei dir einzuschmeicheln und uns in deinen Augen herabzusetzen.“

Rochus Bernd lachte hart und trocken auf. „Da kennst du Ruth Alving schlecht, die ist von anderer Art als ihr. Und von euch braucht sie mir nichts Ungünstiges zu berichten, das besorgen andere Leute zur Genüge. Also, lasst mir endlich Ruth ungeschoren! Sie ist der Sonnenschein meines einsamen Alters, und ich habe sie viel zu lieb, um zu dulden, dass ihr sie mit Feindseligkeiten verfolgt.“

Ruth hatte auch diese Worte gehört. Sie trieben ihr das Blut ins Gesicht. Und hastig wandte sie sich vom Fenster ab, um ins Zimmer zu treten. Es wurde ihr bewusst, dass Onkel Rochus nicht wusste, dass sie sich hier nebenan befand und alles hören konnte, was über sie gesprochen wurde. Deshalb trat sie schnell über die Schwelle des Zimmers.

„Ich bin hier, Onkel Rochus. Wenn du mich nicht brauchst, kann ich mich wohl zurückziehen?“

Der alte Herr richtete sich lächelnd auf. „Nein, bleib hier und komm herein! Ich wusste nicht, dass du nebenan warst. Hast du gehört, was gesprochen wurde?“

„Ja, ich konnte es leider nicht verhindern.“

Lächelnd nickte er ihr zu. „Es war wohl nicht für deine Ohren bestimmt; aber da du es gegen deinen Willen hörtest, mache es dir zunutze. Man hat hier nicht viel Gutes über dich gesagt.“

„Ich habe es gehört.“

„Hat es dich geärgert, Ruth?“

„Du sprachst ja Gutes von mir. Geärgert habe ich mich nicht.“

„Das ist gescheit, Ruth, manche Dinge muss man nicht so wichtig nehmen, dass man sich darüber ärgert. Aber nun lass den Tee servieren, kleine Hausfrau, denn nach dem Tee wollen die Herrschaften gewiss wieder aufbrechen!“

Ruth entfernte sich, und die Geschwister sahen ihr mit feindseligen Augen nach.

Rochus Bernd fing diese Blicke auf und wurde nachdenklich.

Als Ruth in Begleitung des alten Dieners Heinrich zurückkam, der den Teewagen hereinrollte, wurde der Tee eingenommen. Die Geschwister wagten keine weiteren Ausfälle gegen Ruth. Sie begnügten sich damit, sie voll Gehässigkeit anzusehen.

Als der Tee eingenommen war, verabschiedete Rochus Bernd die Geschwister ohne viel Umstände. Er bedürfe der Ruhe, sagte er.

Sie entfernten sich ohne Widerrede und verließen stumm das Haus. Sie sprachen auch kein Wort, während sie durch den großen, winterlich verschneiten Garten gingen, der die Villa Bernd umgab. Erst als sie die Straße hinabschritten, stieß Kurt Bernd zwischen den Zähnen hervor: „Ich könnte diese scheinheilige Erbschleicherin kalten Bluts umbringen.“

Seine Schwester sah ihn mit ihren schwarzen Flammenaugen spöttisch an. „Ich dachte, du hättest sie neulich mit sehr verliebten Blicken angesehen.“

Er zuckte die Schultern. „Nun ja, hübsch ist diese Person. Aber um mich in sie zu verlieben, ist sie mir zu gefährlich. Der alte Schwachkopf ist imstande, ihr den größten Teil seines Vermögens zu vererben, wenn er dazu kommt, ein Testament zu machen. Ein Glück, dass er immer wieder zögert, aus Angst, dass er abfahren muss, wenn er seinen letzten Willen niedergelegt hat. Er denkt durchaus nicht gern an den Tod und an alles, was damit zusammenhängt. So ist unsere einzige Hoffnung, dass er sich so lange vor einem Testament fürchtet, bis es zu spät ist. Sonst schnappt sie das fette Erbe, und wir werden mit einem Bettelgroschen abgespeist.“

Lenas dunkle Augen bekamen einen raubtierähnlichen Ausdruck. „Dann soll sie sich hüten; ich weiß nicht, wozu ich imstande wäre, wenn ihre Erbschleicherei Erfolg hätte.“

„Was könnte man nur tun, um sie unschädlich zu machen?“

Lena wickelte sich fröstelnd in ihren weiten schwarzen Samtmantel, der mit Skunkspelz besetzt war.

„Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, aber es fällt mir nichts ein. Sie sitzt zu fest in seiner Gunst, das hast du ja heute wieder gesehen. Unsere einzige Hoffnung bleibt, dass er sich fürchtet, ein Testament zu machen.“

„Anscheinend denkt er noch nicht an den Tod. Du hast ja gehört, er macht Reisepläne. Sobald er sich wieder kräftig genug fühlt, will er nach Italien, um sich vollends zu erholen.“

„Und diese Person wird ihn begleiten! Sie reist mit nach Italien – und wir bleiben zu Hause; sie fährt im Auto nach der Stadt, und wir stapfen hier durch den Schnee nach der Elektrischen; sie lebt wie eine Prinzessin in der Villa und wir müssen uns in einer Dreizimmerwohnung ducken. Wie ich sie hasse, diese hergelaufene Person!“

„Dass man so ohnmächtig zusehen muss“, knirschte Kurt zwischen den Zähnen hervor. „Sie sitzt in der Wolle, hat alles, was ihr Sinn begehrt, und wir müssen uns begnügen mit den Brosamen, die von seinem Tisch fallen.“

„Dabei spielt sie sich auf wie die Herrin des Hauses! Aber das kann ich dir sagen, Kurt, ich zahle es ihr heim, wenn wir erst mal die Erbschaft antreten. Dann kann sie etwas erleben!“

***

Ruth Alving hatte, als die Geschwister fortgegangen waren, Rochus Bernd in sein Arbeitszimmer begleitet. Er hatte ihr einige geschäftliche Briefe diktiert. Ruth kannte alle seine geschäftlichen Angelegenheiten. Sie wusste Bescheid über den Stand seines Vermögens, über seine Einkünfte, seine Ausgaben und war ihm auch sonst in allen Dingen eine verständnisvolle Helferin. Aber nie war ihr dabei der Gedanke gekommen, dass Rochus Bernd sie einmal in seinem Testament bedenken könne. Es erschien ihr zweifellos, dass die Geschwister Bernd als die einzigen Verwandten von Rochus Bernd auch seine Erben sein würden. Wenn auch der alte Herr nicht viel von ihnen hielt, so war er doch ein Mann, der Familienbande hochhielt.

Was aus ihr selbst wurde, wenn ihr Wohltäter eines Tages starb, darüber machte sich Ruth keine Sorgen. Sie traute sich zu, auf eigenen Füßen stehen zu können. Auch besaß sie für den Fall der Not ein Sparkassenbuch, auf das sie einzahlte, was sie von ihrem Taschengeld, das Onkel Rochus ihr auszahlte, übrig behielt.

Sie war ein tapferes, unverzagtes Geschöpf und ein vornehmer, uneigennütziger Charakter. An ihren Vormund band sie tiefe Dankbarkeit und große Verehrung: Er galt nach außen als ein harter, stolzer Mann, aber im Innern war er gütig und herzlich. Freilich, einmal hatte er, vor vielen Jahren, seiner Härte und seinem Stolz ein Opfer gebracht, er hatte mit dieser Härte sein eigenes Kind, seine einzige Tochter, gequält und hatte noch geglaubt, im Recht zu sein. Aber der tiefe Schmerz über den Verlust dieser geliebten Tochter hatte alle Härte in ihm ausgelöscht.

Zuweilen sprach er mit Ruth von seiner Tochter Maria, deren Bild über seinem Schreibtisch hing. Er hatte ihr erzählt, was geschehen war, ehe er sie verlor. Sie hatte ihm den Schmerz angetan, sich in einen Mann zu verlieben, den er nicht als Schwiegersohn anerkennen wollte, weil er ein Angestellter in seinem Geschäftsbetrieb war. Er war als Korrespondent bei der Firma Bernd tätig gewesen, war ein tüchtiger, fleißiger Mensch und aus guter Familie. Aber Rochus Bernd, der für seine schöne Tochter die Sterne vom Himmel hätte herabholen mögen, fand es unerhört, dass dieser Mann es gewagt hatte, seine Augen zu der Tochter seines Chefs zu erheben.

Als seine Tochter behauptete, sie heirate nur diesen Mann oder keinen, war er in Zorn geraten. Er wollte ihr diese unvernünftige Liebelei gründlich austreiben und schickte sie kurzerhand auf ein Jahr nach England zu einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter, die in dem Dorf Longvillage ein reizendes Häuschen bewohnte.

Den Korrespondenten hatte er noch vorher entlassen und so die Beziehungen zwischen den beiden Liebenden unterbrochen.

Schwer genug war es ihn angekommen, sich auf ein Jahr von seiner Tochter zu trennen, aber er hatte seinem Stolz dieses Opfer gebracht; die einzige Tochter von Rochus Bernd sollte nicht mit einem simplen Angestellten ihres Vaters Hochzeit machen.

Als das Jahr der Trennung vorüber war, ließ er seine Tochter wieder heimkehren. Sie war auch gekommen, und er hatte seine Augen ergötzt an ihrer reifer gewordenen Schönheit, und zugleich hatte ihm das Herz weh getan, weil sie blasser und zarter als sonst aussah, fast, als sei sie krank gewesen. Einige Zeit lebten sie nebeneinander dahin, einer den anderen schonend und jede kritische Frage vermeidend. Maria war dem Vater gegenüber sehr lieb und zärtlich, und er überhäufte sie mit liebevollen Aufmerksamkeiten. Und eines Tages nahm er sie bei den Schultern und fragte lächelnd: „Nun, Maria, hast du nun die Torheit überwunden, um derentwillen ich dich von mir gehen ließ?“

Da war ein Zittern über sie dahingeflogen und eine dunkle Glut in ihr Gesicht gestiegen. Und mit einem tiefen Atemzug hatte sie erwidert: „Nein, Vater, ich liebe Claus Herfurt heute noch wie einst und werde nie eines anderen Mannes Frau werden.“

Da hatte ihn der Stolz noch einmal gepackt, und in zorniger Empörung hatte er sie eine sentimentale Närrin gescholten, die ihrem Vater mit ihrem Eigensinn nur Kummer mache. Sie war sehr bleich geworden und hätte, die Hände flehend zu ihm erhebend, etwas sagen wollen, aber er war aus dem Zimmer gestürzt und hatte ihr zugerufen: „Nie wirst du zu einer solchen Verbindung meine Einwilligung bekommen. Herfurt hat dich längst vergessen, komme endlich zur Vernunft!“

Und so war er im Zorn von ihr geschieden.

Seine Tochter hatte, während er in Geschäften abwesend war, mit einem neuen Chauffeur, den er erst vor einigen Tagen engagiert hatte, eine Autofahrt unternommen.

Und von dieser Fahrt war Maria Bernd nicht lebend zurückgekehrt. Das Auto hatte sich überschlagen und seine Tochter und den Chauffeur unter sich begraben. Beide waren tot.

Rochus Bernd brach verzweifelt an der Bahre seines Kindes zusammen und konnte es nicht verwinden, sich im Zorn von ihr getrennt zu haben. Jetzt hätte er mit Freuden eingewilligt, dass sie Claus Herfurts Gattin würde, wenn er sie damit ins Leben hätte zurückrufen können.

Völlig gebrochen sandte er an Marias Tante nach Longvillage ein Telegramm, das ihr den Tod seiner Tochter meldete. Aber am Tag danach traf von Longvillage ein Telegramm ein, dass Miss Jenny Brown, Marias Tante, an einer Lungenentzündung gestorben sei.

Die Nachricht vom Heimgang der alten Dame ging ziemlich eindruckslos an Rochus Bernd vorüber. Er war in jener Zeit unempfänglich für alles. Fast menschenscheu verbiss er sich in seinen Gram, und nur langsam fand er sich wieder im Leben zurecht. Seither lebte er nur seiner Arbeit, seinen Geschäften – und der Erinnerung an seine Tochter. Erst nach vielen Jahren vermochte er dem Leben wieder einiges Interesse abzugewinnen.

Und nun, seit Ruth Alving in seinem Haus lebte, war ihm zuweilen, als sei Maria in veränderter Gestalt wieder zu ihm zurückgekehrt. Wenn sie sich so fürsorglich und liebevoll um ihn bemühte, konnte er sich einbilden, seine Tochter sei ihm wiedergeschenkt worden. Zweiunddreißig Jahre waren seit dem Tod seiner Tochter vergangen, und niemand als Ruth gegenüber hatte er ihre Erwähnung getan.

Ruth hatte ihn eines Tages gefragt: „Und jener Claus Herfurt – kam er nicht, um deiner Tochter das letzte Geleit zu geben? Hast du nie mehr etwas von ihm gehört?“

Rochus Bernd hatte finster den Kopf geschüttelt. „Er scheint sie schnell genug vergessen zu haben. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört.“

Ruth hatte lang in Maria Bernds schönes Gesicht gesehen. Ihr Bild über dem Schreibtisch war so lebendig, so sprechend. Konnte der Mann, der dieses entzückende Geschöpf geliebt hatte, jemals diesen süßen Reiz vergessen?

Auch heute, nach Beendigung der Geschäftsbriefe, sah Ruth sinnend zu dem schönen Frauenbild empor. Große graue Augen, von schwarzen Wimpern eingesäumt, schauten aus diesem Bild lächelnd und voll Güte heraus.

Sie hat dieselben Augen wie ihr Vater, aber sonst gleicht sie ihm nicht, dachte sie. Und dann fragte sie, sich aufrichtend: „Hast du noch etwas für mich zu tun, Onkel Rochus?“

„Nein, Ruth, für heute ist das Geschäftliche erledigt. Aber wir wollen noch ein wenig plaudern.“

„Wie du willst, Onkel Rochus.“

Er nickte ihr zu. „Immer wie ich will. Du hast wohl nie einen eigenen Willen?“

Lächelnd blickte sie ihn an. „Doch, Onkel Rochus, ich glaube, ich habe sogar einen recht kräftigen Willen. Aber der schaltet aus, wo du in Frage kommst. Da gilt nur dein Wille.“

„Und warum?“

„Weil du für mich die höchste Instanz bist. Ich bin dir so viel Dank schuldig, dass ich jede Gelegenheit ergreife, dir meine Dankbarkeit zu beweisen. Viele solche Gelegenheiten habe ich nicht.“

„Mehr als genug. Und Dank bist du mir nicht schuldig. Vergiss nicht, dass ich es war, der dir deine Eltern nahm. Nie kann ich das ganz gutmachen.“

Mit ernsten Augen sah sie ihn an. „Meine Eltern nahm mir Gott, nicht du, Onkel Rochus. Du sollst das nicht immer wieder sagen.“

„Nun ja, mein Kind, ich war nur sein Werkzeug. Aber du sollst nicht von Dank sprechen; wenn wir genau abwägen, wer mehr Grund zur Dankbarkeit hat, dann bin ich es bestimmt. Aber wir wollen nicht streiten und von etwas anderem sprechen, was mir heute besonders auf der Seele lastet. Vorhin, als Kurt und Lena Bernd hier waren, ist mir ein Gedanke gekommen, der mich sehr beunruhigt hat. Die beiden sind nach dem Gesetz meine Erben, falls ich keine testamentarischen Bestimmungen hinterlasse. Da ist es mir schwer auf die Seele gefallen, was aus dir werden soll, wenn diese beiden Menschen hier in meinem Haus nach Willkür schalten und walten können. Ich fing da einige Blicke auf, die dir galten und dir nichts Gutes prophezeiten. Deshalb habe ich mich entschlossen, endlich mein Testament zu machen, und zwar noch vor der Reise nach Italien. Ich will in den nächsten Tagen den Notar herausbitten. Das wollte ich dir sagen.“

Ruth drückte ihre Lippen auf seine Hand. „Ich bitte dich, sorge dich nicht um mich und bitte, kürze meinetwegen nicht das Erbe deiner Verwandten! Ich weiß ohnedies, dass sie in mir eine Erbschleicherin sehen.“

Sanft streichelte er ihre Hand. „Das darf dich nicht bedrücken, Ruth, ich kenne dich besser. Diese beiden Menschen sind nicht fähig, einen Charakter wie den deinen zu verstehen. Sie sind sehr unglücklich veranlagt und hatten keine richtige Erziehung – ich kann deshalb nicht einmal so streng mit ihnen ins Gericht gehen. Aber sie werden auch, wenn ich dich bedenke, noch genug haben, und ich werde, zu ihrem Heil, ihr Erbteil so anlegen, dass sie nur über die jeweiligen Zinsen verfügen können. Sonst sind sie sehr bald damit fertig und stehen doch wieder vor dem Nichts. Aber nun ein erfreulicheres Thema.“

Und sie plauderten von anderen Dingen.

***

Die Villa Bernd lag etwas abseits in einem Vorort der Stadt. Nach allen Seiten sah man im Sommer von den Fenstern der Villa aus ins Grüne. Ruth machte täglich Spaziergänge ins Freie. Vor seiner Krankheit hatte Onkel Rochus sie begleitet. Jetzt durfte er nur an sonnigen Tagen um die Mittagszeit hinaus.

Deshalb richtete Ruth ihre Spaziergänge immer für die Zeit ein, da der alte Herr ihrer nicht bedurfte.

Am nächsten Vormittag, während Rochus Bernd nach ärztlicher Vorschrift badete, wobei er von seinem alten Diener Heinrich bedient wurde, unternahm Ruth, wie fast täglich um diese Zeit, ihren Spaziergang. Schnell und elastisch schritt sie vom Haus her auf das schmiedeeiserne Gartentor zu. Etwas befremdet sah sie einen hoch gewachsenen jungen Herrn langsam am Gartengitter entlangschreiten, den sie schon, vor einer halben Stunde etwa, vom Fenster aus bemerkt hatte. Es war ihr aufgefallen, dass er sehr interessiert durch das Gitter nach dem Haus gesehen und sich das blanke Messingschild, das den Namen Bernd trug, betrachtet hatte.

Nun ging er noch immer da draußen auf und ab.

Der junge Herr war gediegen, aber ohne auffallende Eleganz gekleidet. Er machte einen vornehmen Eindruck, sah aber ein wenig wie ein Ausländer aus. Vielleicht ein Engländer oder ein Amerikaner, dachte Ruth.

Unwillkürlich sah sie sich den Fremden etwas genauer an, als es sonst ihre Art war.

Und als sie ihm näher kam und sein Gesicht erkennen konnte, stutzte sie. Irgendetwas in diesem großzügigen, interessanten Gesicht fiel ihr auf – eine unbestimmte Ähnlichkeit, die sie an jemand erinnerte. Sie wusste nur nicht, an wen.

Sinnend blickte sie ihm entgegen, und nun hatte sie auch der Fremde erblickt. Er wandte sich hastig um, als sei es ihm unangenehm, dass man ihn bemerkt hatte. Langsam schlenderte er weiter.

Als Ruth aus der kleinen Nebenpforte heraustrat und ihren Weg fortsetzte, musste sie an ihm vorübergehen. Wie einem inneren Zwang gehorchend, sah sie in sein edel geschnittenes Gesicht, und wieder fragte sie sich, an wen er sie erinnerte.

Seine Augen hefteten sich jetzt auch groß und forschend in die ihren, und unter dem Blick dieser tief liegenden grauen Männeraugen, die hell aus einem gebräunten Gesicht herausleuchteten, stieg plötzlich eine dunkle Röte in ihr Gesicht. Und ihr Herz begann schneller zu pochen.

Einen Moment schien es, als wolle er vor ihr stehen bleiben und etwas fragen. Unschlüssig stockte jedenfalls dicht neben ihr sein Fuß, aber dann ging er doch zögernd weiter.

Während ihres Spaziergangs musste sie immerfort an den Fremden denken. An wen erinnerte er sie nur? So sehr sie auch darüber nachsann, wollte es ihr nicht einfallen.

Als sie wieder zu Hause anlangte, sagte ihr der alte Heinrich, dass Herr Bernd Besuch habe. Ein Geschäftsfreund, der oft ein Stündchen mit ihm plauderte, war gekommen. Ruth wusste, dass Onkel Rochus jetzt gut versorgt war, und legte Hut und Jacke ab. Als sie die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer gehen wollte, kam ihr eine Dienerin entgegen und lieferte ihr einige Schlüssel ab.

„Wir haben die Speicherkammern sauber gemacht, – Fräulein Ruth, hier sind die Schlüssel. Aber es wäre wohl gut, Sie gingen selbst hinauf und sähen nach den Sachen, die oben hängen. Es sind da einige abgelegte Anzüge und Mäntel vom gnädigen Herrn, die offen dahängen. Da flogen Motten heraus, und es sind verschiedene Mottenschäden daran zu sehen. Und mir schien, als wäre auch eine Motte aus einem der großen Koffer gekommen, die da oben stehen und mit Kleidern gefüllt sind. Sie müssten auch mal nachgesehen werden.“

Ruth nickte freundlich. „Das werde ich gleich tun, Berta, ich habe gerade Zeit. Heinrich, wenn Herr Bernd nach mir verlangt, rufen Sie mich, ich gehe auf den Speicher.“

„Es ist gut, Fräulein Ruth.“

Sie holte aus ihrem Zimmer das Körbchen mit den Schlüsseln und stieg hinauf ins Dachgeschoss. Sie war schon oft hier oben gewesen und wusste, dass die beiden großen Koffer, von denen Berta gesprochen hatte, die Kleider Maria Bernds enthielten. Die beiden Koffer hatte sie mit in England gehabt.

Als sie die Speicherkammer betrat, sah sie sich erst mit kritischen Augen die abgelegten Anzüge und Mäntel an. Es waren wirklich Mottenschäden vorhanden. Es ist schade, wenn die Sachen verderben. Ich werde Onkel Rochus bitten, dass ich sie verschenken darf. Das ist etwas für Max Reichert, den Laufburschen von unserem Kolonialwaren. Seine arme Mutter weiß ohnedies nicht, wie sie für ihre drei Jungen Sachen beschaffen soll. Da bekommt jeder einen Anzug und auch einen warmen Mantel, dachte sie. Und dann suchte sie im Schlüsselkorb nach den Kofferschlüsseln. Sie öffnete damit die beiden großen Koffer und schlug die Deckel zurück.

Sie waren angefüllt mit Wäsche und Kleidern, die nach einer längst vergessenen Mode gearbeitet waren. Ruth nahm eines der Kleider nach dem anderen heraus, schüttelte sie aus und legte sie beiseite. Auch das weiße Kleid war dabei, das Maria Bernd getragen hatte, als sie dem Maler zu dem Bild gesessen hatte, das unten über dem Schreibtisch ihres Vaters hing.

Seine Trägerin war längst zu Staub und Asche geworden. Werke von Menschenhand überdauern so oft die Menschen selber. Und unter all diesen Kleidern hatte einst ein warmes, tief empfindendes Herz geschlagen, ein Herz, das heiß und treu geliebt hatte.

Ob jener Mann, dem diese Liebe und Treue gegolten hatte, ihrer wert gewesen war? Warum hatte er nie wieder etwas von sich hören lassen, seit ihn Rochus Bernd entließ? Hatte er nichts von dem tragischen Ende Maria Bernds gehört, oder hatte er sich nur ihrem Vater nicht wieder nähern wollen, nachdem die Geliebte gestorben war? Maria Bernd musste ein schönes, liebenswertes Mädchen gewesen sein. Konnte ein Mann so schnell vergessen, was er einmal geliebt hatte – oder hatte er Maria nicht so geliebt, wie sie es verdiente?

Verträumt hielt Ruth in ihrer Beschäftigung inne und schaute durch das Fenster der Speicherkammer hinaus auf die verschneiten Bäume. Und sie musste wieder an ihre Begegnung mit dem Fremden denken. Selbst der Gedanke an ihn verursachte ihr Herzklopfen – sie wusste, dass sie ihn nie wieder vergessen würde.

Ärgerlich über sich selber richtete sie sich empor und strich das blonde Haar aus der Stirn zurück. Hastig setzte sie ihre Arbeit fort, als wollte sie ihre Gedanken verscheuchen. Sie war bis auf den Grund des Koffers gekommen und packte nun die Sachen sorglich wieder ein.

Als sie ein feines, weiches Wollkleid zusammenlegte, freute sie sich über den prachtvollen, weichen Stoff und strich mit der Hand noch einmal wie liebkosend darüber hin. Und da fühlte sie plötzlich, dass es unter dem Stoff knisterte, als sei ein Papier darunter verborgen. Sie untersuchte es und fand in dem Rock des Kleides eine Tasche, und in dieser Tasche steckte, wie schnell hineingeschoben, ein zusammengefalteter Brief.

Ruth zog ihn heraus und sah darauf nieder. Vielleicht hatte dieser Brief, den man beim Einpacken übersehen hatte, Interesse für ihren Vormund.

An das Speicherfenster tretend, entfaltete sie das Schreiben und sah, dass es Schriftzüge von einer festen, charakteristischen Männerhand zeigte. Unwillkürlich las sie diesen Brief, der sie mehr und mehr fesselte. Er lautete:

Mein innig geliebtes Weib!

Wüsstest du, wie unruhig ich bin, weil ich dich allein heimkehren lassen musste zu deinem Vater. Viel lieber wäre ich mit dir zusammen vor seine Augen getreten, um ihm zu sagen: Wir zwei haben uns deinem strengen Gebot nicht fügen können, unsere Liebe war stärker als dein Wille, der uns auseinander reißen wollte. Wir haben uns in England wieder zusammengefunden und sind längst Mann und Frau. Und wir haben ein Kind, einen prächtigen Jungen, und sind unsagbar glücklich. Nur eines fehlt meiner angebeteten Maria zu ihrem Glück – der Segen ihres Vaters. Enthalten Sie uns diesen Segen nicht vor. Sie werden nicht das Herz haben, uns jetzt noch auseinander zu reißen.

So hätte ich zu deinem Vater gesprochen Maria. Aber du wolltest es nicht. Du wolltest selbst deinem Vater dieses Geständnis machen, wolltest ihn zart und schonend darauf vorbereiten, dass wir uns in Longvillage heimlich trauen ließen. Ach, Liebste, wie danke ich dir immer wieder von neuem, dass du mir diesen Beweis deiner Liebe gabst, dass du mich so unsagbar glücklich machtest und dass du mir vor deiner Abreise sagtest: „Wäre auch nun plötzlich alle Sonne aus meinem Leben, es wäre doch ein reiches, glückseliges Leben gewesen, da ich dieses eine wunderselige Jahr mit dir verleben und mein geliebtes Kind sehen durfte.“

Auch Tante Jenny bin ich in tiefstem Herzen dankbar, dass sie uns auf deine Bitte half, unser Glück zu begründen. Ich sehe dich noch im Geist in der winzig kleinen Dorfkirche vor dem Altar, schön und lieblich wie ein Engel des Lichts. Der alte Priester fügte unsere Hände ineinander, nachdem wir vor dem anwesenden Gemeindevorstand unsere Unterschrift abgegeben hatten. Wie schlicht und einfach war die Hochzeit der einzigen Tochter des reichen Rochus Bernd, des gewaltigen Fabrikherrn. Die Tatsache, dass sie des simplen Claus Herfurts Gattin geworden war, steht nun in dem vergilbten Kirchenbuch, in dem die Eheschließungen der einfachen Dorfbewohner auch eingetragen wurden. Du wurdest mein Weib – und alle Engel jauchzten. Große Förmlichkeiten gab es nicht. Ein schlichtes Stück Papier – unser Trauschein – zeugt von dem großen Ereignis. Und du bist mein – mein. Und mein und dein ist der goldene Bub, der mich mit den Augen seiner Mutter anstrahlt. Unser Gert! Mein liebes Weib, wie reich hast du mich gemacht! Und nun sitze ich hier und warte voll Unruhe auf Nachricht von dir.

Manchmal kommt eine jähe Angst über mich. dein Vater könnte dich gewaltsam zurückhalten. Ich muss dann hinaus ins Freie stürmen oder unseren kleinen Gert fest an mich drücken. Nein, wie kann ich solche unsinnigen Gedanken fassen! Du kommst wieder, Maria, kommst zu deinem Kind zurück, nichts und niemand kann dich uns fernhalten. Und dein Vater hat keine Macht über dich. Du bist ja mündig, als du mein Weib wurdest. So tröste ich mich, wenn mich diese Angst überfällt, dass ich dich nicht wieder an meinem Herzen halten dürfe. Und ich zähle die Stunden bis zu deiner Wiederkehr oder bis du mich rufst. Unser Bub schläft süß und sanft neben mir, seine Amme ist eben wieder heim zu Mann und Kindern. Sie hat ihn sorglich gebettet, und Nelly Flead, Tante Jennys Dienerin, schaut immer wieder mit ganz verliebten Augen nach ihm. Tante Jenny selbst kann sich heute nicht um ihn kümmern, sie fühlt sich krank und muss das Bett hüten. Wir werden den Arzt holen lassen müssen. Hoffentlich ist ihr Zustand nicht Besorgnis erregend.

Sonst weiß ich dir von hier nichts zu melden, als dass dein Claus vor Sehnsucht nach dir ganz unleidlich ist. Wäre ich doch bei dir! Sei nicht traurig, wenn dein Vater dir zürnt und nicht verzeihen will – dann kommst du in meine Arme. Ich verdiene ja gottlob mit meinen Übersetzungen genug, um allein für Weib und Kind sorgen zu können, denn mein Verlag will mich durch einen langjährigen Vertrag binden. Und du und ich werden auch in bescheidenen Verhältnissen unsagbar glücklich sein. Sag deinem Vater, dass du nichts als seinen Segen willst. Ich küsse dich heiß und innig, meine Maria.

Dein Claus

Ruth hatte diesen Brief in tiefster Bewegung gelesen. Obwohl sie merkte, dass er nicht für fremde Augen bestimmt war, vermochte sie ihren Blick nicht davon loszureißen. Als sie zu Ende war, ließ sie den Brief mit einem tiefen Atemzug sinken und fiel kraftlos in einen alten Sessel.

Was sollte sie mit diesem Brief tun? Sollte sie ihn in die Tasche des Kleides zurückstecken und darüber schweigen? Oder sollte sie ihn hinuntertragen zu Onkel Rochus, der ganz sicher keine Ahnung hatte von dem Geheimnis, das dieser Brief barg?

Ruth war sonst nicht leicht aus der Fassung gebracht. Sie hatte frühzeitig gelernt, sich zu beherrschen und mit ihren Gefühlen fertig zu werden. Aber jetzt zitterte sie vor Aufregung, wenn sie an Onkel Rochus dachte, wenn sie sich ausmalte, was er beim Lesen dieses Briefes empfinden musste.

Durfte sie ihm diesen Brief ausliefern? Es würde vielleicht seinen Zustand verschlimmern, wenn sie es tat.

Aber – durfte sie es wagen, ihm diesen Fund zu verheimlichen?

Nein, nein, es war wohl Gottes Fügung, dass er sie diesen Brief finden ließ. Nach mehr als dreißig Jahren – sollte er erfahren, dass Maria einen Sohn hinterlassen hatte – seinen Enkel. Während er solange liebeleer durchs Leben ging, hatte irgendwo in der Welt ein Enkel gelebt, lebte vielleicht noch. Und wenn, so musste er inzwischen zum Mann herangereift sein. Warum hatte er aber niemals seinen Großvater aufgesucht? Hatte ihn sein Vater davon zurückgehalten?

Ruth grübelte über diese Fragen nach, bis sie sich erinnerte, dass unten Pflichten auf sie warteten. Sie richtete sich auf, las den Brief noch einmal durch und steckte ihn zu sich.

Schnell packte sie nun die Koffer wieder ein und verschloss sie. Dann verließ sie den Speicher.

Sie kam gerade unten im Vestibül an, als sich der Besuch ihres Vormunds entfernen wollte.

Der alte Herr, Kommerzienrat Seidel, begrüßte sie lächelnd und sagte anerkennend: „Sie haben meinen alten Freund Bernd wieder hübsch gesund gepflegt, Fräulein Ruth, er hat sich famos erholt. Ich melde mich auch bei Ihnen zur Pflege, wenn es mich mal packen sollte.“

Ruth lächelte ein wenig geistesabwesend. „Das tun Sie nur, Herr Kommerzienrat. Aber ich rate Ihnen, lieber erst gar nicht krank zu werden. Nicht wahr, Sie finden Onkel Rochus gut erholt?“

„Sehr gut. Er freut sich auf die Reise mit Ihnen und macht Pläne wie ein Junger. Wenn Sie von Italien zurückkommen, wird er wieder ganz der alte sein.“

„Das mag Gott geben, Herr Kommerzienrat.“

„Also – auf Wiedersehen, Fräulein Ruth. Ihr Vormund wartet auf Sie, ich will Sie nicht länger aufhalten.“

„Auf Wiedersehen, Herr Kommerzienrat.“

Als Ruth in Rochus Bernds Arbeitszimmer trat, nickte er ihr lächelnd zu. „Ich habe mich mit meinem alten Freund Seidel verplaudert, wir haben ein wenig von der guten alten Zeit geschwärmt, wo man für einen Taler ein ganzes Schlemmersouper haben konnte. Solche Zeiten kommen nicht wieder, Kind.“

„Das glaube ich auch nicht, Onkel Rochus.“

„Aber nun musst du mir vor Tisch noch einen Brief schreiben, und dann führst du mich ein Viertelstündchen draußen im Garten herum.“

„Gern, Onkel Rochus. Also, bitte – was soll ich schreiben?“

Sie hatte an der Schreibmaschine Platz genommen, und er erwiderte: „Schreib an meinen Notar, Dr. Jungmann, er möge in den nächsten Tagen, sobald er Zeit hat, zu mir herauskommen, damit ich über mein Testament mit ihm beraten könne. Es müsse unter allen Umständen noch vor meiner Abreise fertig sein.“

Ruth begann zu schreiben, und da fiel ihr plötzlich ein, dass Onkel Rochus vielleicht ganz anders testieren würde, wenn er erfuhr, dass er wahrscheinlich einen direkten Erben hatte, den Sohn seiner Tochter. Ob sie es ihm jetzt gleich sagen sollte? Aber vielleicht war es besser, sie wartete damit, bis er nach Tisch sein Mittagsschläfchen gemacht hatte. Dann war er ausgeruht und konnte die Aufregung besser verkraften.

Als sie den Brief beendet und postfertig gemacht hatte, begleitete sie den alten Herrn ins Freie. Langsam gingen sie auf dem hart gefrorenen Schnee im Sonnenschein auf und ab. Plötzlich zuckte Ruth zusammen. Drüben am Gartenzaun kam wieder der junge Mann vorüber. Als er Ruth neben dem alten Herrn erblickte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen und sah mit großen Augen herüber.

Auch Rochus Bernd erblickte jetzt den Fremden. Seine scharfen, durchdringenden Augen ruhten forschend auf der kraftvollen Erscheinung des jungen Mannes. Und dann sagte er lächelnd: „Sieh nur, Ruth, du scheinst da eine Eroberung gemacht zu haben, denn nach mir dürfte der junge Herr da draußen nicht so intensiv herüberschauen.“

Ruth war jäh errötet, in ihrer Verwirrung wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

Der alte Herr lachte.

„Nun, nun, darum brauchst du nicht so rot zu werden. Ich verdenke es dem jungen Herrn nicht, dass er dich gern anschaut. Er ist es übrigens auch wert, dass ihn ein hübsches Mädel ansieht, denn er ist ein stattlicher Bursche. Schade, jetzt geht er weiter.“

Der Fremde war wohl zur Einsicht gekommen, dass sein Anstarren den beiden Menschen lästig sein konnte. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich ab und ging erst zögernd, dann schnell davon.

***

Als Rochus Bernd nach seinem Mittagsschlaf herunterkam, erwartete ihn Ruth schon in seinem Arbeitszimmer.

„Hast du gut geschlafen, Onkel?“, fragte sie herzlich.

„Vorzüglich, Ruth. Ich würde mich wieder ganz wie früher fühlen, wenn ich nicht zuweilen die beklemmenden Herzbeschwerden hätte. Aber das hat wohl kaum noch etwas mit meiner überstandenen Krankheit zu tun, sondern ist sicher eine Alterserscheinung. Ich bin nur so gar nicht gewöhnt, dass an meinem Organismus etwas nicht in Ordnung ist.“

„Auch das wird sich wieder verlieren, Onkel Rochus.“

„Ich will es hoffen.“

Damit ging er auf einen Schrank zu. Sie sah ihm lächelnd nach.

„Wenn man dich so kräftig und aufrecht gehen sieht, merkt man von deinem Alter nichts. Wie ein Junger schreitest du noch aus.“

Lächelnd, wie zur Probe, ging er im Zimmer auf und ab, sich Mühe gebend, recht elastisch auszuschreiten. Ruth sah ihm nach – und plötzlich zuckte sie zusammen. Wie eine Erinnerung flog es über ihr Antlitz. Mit einem Mal wurde ihr klar, an wen sie der junge Fremde erinnert hatte – an Onkel Rochus.

Ja, er hatte denselben Gang, dieselbe stolze Haltung. Genauso trug er den Kopf auf den breiten Schultern.

Wie ein Blitz zuckte diese Erkenntnis durch ihre Seele, und dann dachte sie an den Brief, den sie gefunden hatte, dachte daran, dass Onkel Rochus einen Enkel hatte und dass dieser Enkel, wenn er lebte, am Beginn der Dreißig stehen musste. Und der Fremde war in diesem Alter, er hatte mit einem seltsamen, brennenden Interesse nach der Villa Bernd – nach Rochus Bernd gesehen.

Ruth sah in zitternder Erregung vor sich hin. Konnte es möglich sein, dass der Fremde der Enkel ihres Vormunds war?

„Du scheinst ein wenig zerstreut zu sein, liebe Ruth“, hörte sie jetzt Onkel Rochus sagen.

Sie zuckte zusammen und sah erschrocken zu ihm auf. „Wie meinst du das, Onkel Rochus?“

Er drohte lächelnd mit dem Finger. „Deine Eroberung von heute Mittag hat dich entschieden zerstreut, Ruth. Ich habe dich schon zweimal gefragt, ob du spazieren warst, und du gabst mir keine Antwort.“

Sie strich sich das Haar aus der Stirn. „Ach, Onkel Rochus, die Eroberung hast du gemacht, nicht ich. Aber ich war wirklich etwas zerstreut, verzeih mir. Mich beschäftigt etwas – und … und ich möchte es mit dir besprechen.“

„Nun? Was hast du auf dem Herzen?“

„Bitte, setz dich erst hier in deinen bequemen Lehnstuhl, es dauert vielleicht ein wenig lange!“

Der alte Herr nahm lächelnd Platz und ließ sich willig ein Kissen in den Rücken legen. „So, Ruth, nun sitze ich bequem. Deine Vorbereitungen machen mich gespannt.“

Ruth nahm ihm gegenüber Platz und atmete tief auf. „Onkel Rochus, ich war heute vor Tisch, als du Besuch hattest, auf dem Speicher. Da hängen einige alte Anzüge und Mäntel von dir, an die sich die Motten gewagt haben. Es wäre schade, wenn die Sachen verderben. Man könnte jemanden noch sehr glücklich damit machen. Ich habe an den Laufburschen Max Reichert gedacht. Er ist ein so braver, fleißiger Junge, und seine Mutter ist Witwe und hat noch zwei schulpflichtige Knaben zu ernähren. Darf ich ihm die Sachen schenken?“

Er nickte. „Kleine Samariterin, also das hat dich so zerstreut? Also, meinetwegen, beglücke den braven Max mit den Sachen!“

„Das wird ihn sehr freuen, Onkel Rochus. Da oben auf dem Speicher sind überhaupt noch allerlei Schätze aufgestapelt. Zum Beispiel stehen da auch noch die beiden Koffer mit Kleidern, die deine Tochter mit in England hatte.“

Seine Augen blickten hinüber zu dem Bild seiner Tochter. „Richtig, Marias Koffer! Ich habe sie da hinaufstellen lassen, weil ich die Erinnerung damals nicht ertrug. Die Zeit hat auch hier heilend eingegriffen. Trotzdem – auch wenn du meinst, dass man diese Kleider jetzt nutzbar verwenden sollte, muss ich dir sagen, verwenden ich es nicht übers Herz bringe, sie an fremde Menschen fortzugeben. Mögen sie liegen – bis ich nicht mehr bin.“

Sie ergriff seine Hand. „Ich meinte das auch nicht, Onkel Rochus, ich – ich wollte nur einmal mit dir sprechen, über deine Tochter. Weißt du, wenn ich so ihr Bild ansehe, dort über deinem Schreibtisch, so meine ich, es war sehr grausam vom Schicksal, dass so viel Schönheit, Güte und Liebreiz vergehen musste. Nicht wahr, du hast sie namenlos geliebt?“

Er nickte mit trüben Augen. „Nach dem frühen Tod meiner lieben Frau war Maria mein alles – und ich habe sie geliebt, wie ein Vater nur sein Kind lieben konnte.“

„Und doch versagtest du ihr den heißesten Herzenswunsch.“

Er seufzte auf. „Dass ich’s getan habe! Wie kleinlich erscheint mir heute meine Weigerung, die mir damals mein eitler Vaterstolz abnötigte.

„Nicht wahr, du hättest ihr eines Tages doch deine Einwilligung gegeben, hättest du gemerkt, dass sie um keinen Preis von dem Mann ihrer Liebe lassen wollte?“

Rochus Bernd starrte vor sich hin. „Mein liebes Kind, ein Unglück, wie es mich betraf, macht mürbe. Ich weiß heute nicht, wie lange ich mich noch gegen diese Verbindung gesträubt hätte. Nur das weiß ich – glücklich wollte ich meine Tochter sehen, nur sah ich ihr Glück nicht in einer Verbindung mit jenem Mann, er schien mir nicht gut genug für meine Tochter. Ob ich ihm damit unrecht tat, weiß ich nicht, weiß nur, dass ich mein Leben und alles, was ich besitze, willig drangegeben hätte, wenn ich mein letztes Zorneswort an sie hätte widerrufen können. So erbärmlich erschien mir mein Widerstand gegen diese Verbindung, als ich mein Kind tot vor mir liegen sah!“

„Nicht wahr, du hättest ihr alles vergeben, wenn du sie hättest wieder ins Leben zurückrufen können?“

Wehmütig lächelte er. „Es hätte nichts gegeben, was ich ihr nicht verziehen hätte.“

Jetzt erhob sich Ruth und trat zu ihm heran.

„Onkel Rochus“, sagte sie bleich vor Erregung und mit bebender Stimme, „ich habe dich aus einer ganz besonderen Veranlassung auf dieses Thema gebracht. Es sollte dich langsam vorbereiten auf eine Kunde, die dich vielleicht ein wenig erregen wird.“

Überrascht sah er zu ihr auf. „Was meinst du?“

Sie presste seine kalten Greisenhände in ihre jungen, warmen. „Nicht wahr, du wirst dich nicht zu sehr aufregen, wenn ich dir sage, dass ich in der Tasche eines Kleides, das deiner Tochter gehörte, einen Brief fand, der etwas sehr Seltsames enthält?“

Er richtete sich auf und sah sie durchdringend an. „Einen Brief fandest du? Einen Brief von meiner Tochter?“

„Nein, ein Schreiben, das an sie gerichtet war – ein Schreiben von Claus Herfurt.“

Ein tiefer Atemzug hob seine Brust. „Ein Liebesbrief also von ihm an meine Tochter? Wohl aus der Zeit, ehe ich ihn entließ?“

„Nein, er ist nach dieser Zeit geschrieben – erst nach ihrer Rückkehr aus England.“

Es zuckte in seinem Gesicht. „Wirklich? Er hatte sie also nicht vergessen – nicht aufgegeben? Sieh, Ruth, das freut mich. Ich habe mir oft Vorwürfe gemacht in all den Jahren, dass ich zerstörend in das Liebesglück meiner Tochter eingriff. Ich sagte mir, sie hat hingehen müssen mit dem Bewusstsein, dass der Mann, den sie liebte, sie nicht einmal eines Kampfes wert gefunden hat. Ohne sich zu wehren, ließ er sich fortschicken und ließ nichts mehr von sich hören. Nun sagst du mir, dass sie noch brieflich in Verbindung miteinander standen. Sie wusste also, dass er sie nicht vergessen hatte, und das befähigte sie, mir zu sagen, dass sie nie einem anderen als ihm angehören würde. Ihr Liebesglück blieb ihr also wenigstens treu bis zum Tod. Dafür soll er gesegnet sein.“

Ruth nahm seine Hand und presste ihre Lippen darauf. „Lieber, lieber Onkel Rochus, nun habe ich den Mut, dir diesen Brief zu geben.“

Er lächelte. „Gehört denn so viel Mut dazu?“

„Mehr, als du denkst.“

Sie zog den Brief aus dem Ausschnitt ihres Kleides.

„Aber bitte, sei recht ruhig, mache dich auf eine große Überraschung gefasst.“

Durchdringend sah er sie an, während er nach dem Brief griff. Er entfaltete ihn und begann zu lesen.

Ruth beobachtete ihn in großer Besorgnis. Und ihre Angst war nicht umsonst gewesen.

Als er zu Ende war mit seiner Lektüre, sank er wie zerbrochen in sich zusammen und stöhnte tief auf. Mit einem erschütternden Blick auf Ruth sagte er mit rauer, versagender Stimme: „Ich hatte einen Enkel – und wusste es nicht. Meine Tochter hinterließ einen Sohn, der Blut war von meinem Blut – und niemand hat es mir gesagt. Einsam hat man mich gelassen – und ich hätte so reich sein können.“

Es lag ein erschütternder Klang in diesen Worten.

„Hätte ich dir diesen Brief nicht geben sollen, Onkel Rochus? Hab ich dir weh damit getan?“

Er legte die Hand auf ihren Scheitel. „Wenn du mir diesen Brief vorenthalten hättest, wärst du grausam gewesen. Das bist du gottlob nicht – ich danke dir.“

„Sag mir, Onkel Rochus – wirst du deinen Enkel anerkennen, wenn er noch lebt?“

Er stöhnte auf. „Will er denn etwas von mir wissen? Wenn er noch lebt – warum hat er denn nicht ein einziges Mal den Weg zu mir gefunden?“

„Vielleicht wagte er es nicht, vielleicht glaubte er, du würdest ihn nicht anerkennen, weil du seine Eltern trennen wolltest. Er war vielleicht zu stolz, als um diese Anerkennung zu bitten. Sein Vater zeigte dich ihm vielleicht im Licht eines harten, unerbittlichen Menschen. Möglich auch, sie warteten beide, Vater und Sohn, dass du sie rufen würdest, weil sie glaubten, deine Tochter habe dir ihr Geheimnis enthüllt. Aber da nach dem Telegramm an die Tante, aus dem Claus jedenfalls die schreckliche Nachricht vom Tod seiner Frau erfuhr, nichts mehr erfolgte, musste er annehmen, dass du weder von ihm noch von seinem Sohn wusstest oder wissen wolltest. Und aufdrängen wollte er sich nicht. Ein stolzer, gerader Mensch muss er gewesen sein. Gott mag wissen, wie ihn der Tod seiner über alles geliebten Frau getroffen hat. Wie sehr er sie liebte, das klingt doch aus jedem Wort seines Briefes.“

Er nickte schwer. „Ja, der Wahrheit dieses Gefühls kann ich mich nicht verschließen. Aber grausam war es dennoch von ihm, mir mein Fleisch und Blut vorzuenthalten. Er hätte wohl einen Weg finden können, wie er es mich wissen lassen konnte, dass ich einen Enkel habe, ohne dass er sich zu demütigen brauchte. Und im Herzen meines Enkels muss, wenn er noch am Leben ist, kein Funken eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit mir leben, sonst hätte er den Weg zu mir gefunden.“

Ruth dachte an den jungen Fremden, und in ihrem Herzen lebte jetzt die Gewissheit, dass er Ruth Bernds Enkel sein musste. Alles, was sie an ihm beobachtet hatte, stimmte damit überein. Und fliegend vor Erregung sagte sie: „Onkel Rochus, ich glaube, dein Enkel war auf dem Weg zu dir – vielleicht schon früher, aber heute gewiss.“

Er fuhr empor aus seiner gebrochenen Haltung und starrte sie an. „Wie kommst du zu diesem Glauben?“

Ruth erzählte von ihrer Begegnung mit dem jungen Fremden am Vormittag. Und dann fuhr sie fort: „Sieh, als ich dich vorhin hier hin und her gehen sah, da kam mir wie ein Blitz die Gewissheit, dass er dein Enkel ist. In Gang und Haltung ist er dir so ähnlich, wie zwei Menschen es nur sein können. Und er hat deine Züge, nicht so hart und fest, aber doch unverkennbar. Wie ein Wunder erscheint es mir, dass ich gerade heute den Brief fand, nachdem ich ihm begegnet war. Und wenn er dein Enkel ist, wie ich jetzt fest glaube, dann steht er dir ganz gewiss nicht gleichgültig gegenüber, denn er sah mit brennenden Augen zu dir herüber. Nicht mir galt sein Interesse, sondern dir allein.“

Er erfasste ihre Hände und drückte sie, dass es ihr weh tat.

„Ruth, wenn du Recht hättest! Wenn er es war! Aber … wenn er nun nicht wiederkäme, wenn dieser Blick auf ihn der einzige gewesen wäre, den mir das Schicksal gegönnt hat? Ruth, wie sollte ich ihn finden, wenn er nicht wiederkehrt?“

Sie atmete tief auf, und ihre Augen leuchteten. „Er wird wiederkehren, sei gewiss. Wie ihn die Sehnsucht nach deinem Anblick hier hertrieb, so wird er auch wiederkommen.“

Schwer und mühsam arbeitete seine Brust.

„Dann halte ihn fest und bringe ihn mir! Lass ihn nicht wieder davongehen. Ruth, liebe kleine Ruth, wie reich hast du mich gemacht! Ich habe einen Enkel! Gut, dass du schon an meinen Notar geschrieben hast, Ruth. Jetzt macht mir das Testieren Freude, jetzt freue ich mich wieder meines Reichtums. Ach, er würde ja auch ohne Testament meinem Enkel gehören. Nur für dich will ich etwas festlegen. Alles andere gehört meinem Enkel!“

Und erschüttert barg er sein Gesicht in den Händen.

***

Der junge Herr, den Ruth Alving nach seiner Ähnlichkeit mit Rochus Bernd für dessen Enkel hielt, war in der Tat Gert Herfurt.

Als er der Villa Bernd den Rücken gekehrt hatte, ging er mit schnellen Schritten zu seinem Hotel zurück. In seinem Zimmer warf er sich in einen Sessel und stützte den Kopf auf die Hand. Seine Gedanken umflatterten die Villa Bernd. Sie suchten dort einen alten weißhaarigen Herrn und eine reizende, junge blonde Dame, die er heute Morgen zum ersten Mal gesehen hatte und die auf ihn gleich auf den ersten Blick einen tiefen Eindruck machte. Wer mochte die junge Dame sein? In welchem Verhältnis stand sie zu Rochus Bernd, seinem Großvater, der doch, wie er in Erfahrung gebracht hatte, ganz allein und einsam in seiner vornehmen Villa lebte? Die junge Dame gehörte aber sicher ins Haus, sie musste auch in einem sehr innigen Verhältnis zu seinem Großvater stehen, das hatte er aus dem Verhalten der beiden Menschen entnommen, als er sie im Garten sah.

Sie hatte ihm sehr gefallen. Etwas in ihrer Art hatte gleich zu seinem Herzen gesprochen, und fast hatte er über ihrem Anblick vergessen, was ihn nach der Villa Bernd geführt hatte.

Er war von England herübergekommen, um seinen Großvater zu sehen. Vor kurzer Zeit war sein Vater gestorben, und erst kurz vor seinem Tod hatte er ihm eröffnet, dass sein Großvater mütterlicherseits noch am Leben sei. Und dabei hatte Claus Herfurt seinem Sohn die Geschichte seines Lebens, seiner Liebe erzählt.

Als Sohn eines Offiziers hatte er Sprachstudien betrieben, nach dem Abitur hatte er die Universität bezogen. Aber als sein Vater starb, konnte er das Studium nicht fortsetzen, er musste Geld verdienen. So hatte er eine Anstellung als Korrespondent bei der Firma Bernd angenommen.

Er hatte sein Amt zur größten Zufriedenheit seines Chefs ausgefüllt. Rochus Bernd hatte ihn zuweilen in seine Privatwohnung kommen lassen, um sich Briefe von ihm übersetzen zu lassen.

Und bei einer solchen Gelegenheit hatte er Maria Bernd kennen gelernt. Eines Tages hatte er auf Rochus Bernd warten müssen, und da hatte ihn seine Tochter in ihrer lieben, gütigen Art unterhalten, bis der Vater kam. Dieses kurze Alleinsein war für die beiden Menschen entscheidend gewesen. Claus Herfurt liebte von diesem Tag an die Tochter seines Chefs, und als er merkte, dass Maria ihn wiederliebte, kannte sein Glück keine Grenzen.

Die beiden Liebenden sahen sich fortan zuweilen heimlich, und Maria gab ihrer Besorgnis Ausdruck, dass der Vater nie seine Einwilligung zu ihrer Vereinigung geben würde. Aber sie gab ihm ihr Wort, dass sie nie von ihm lassen und, wenn es nicht anders ging, auch ohne des Vaters Zustimmung sein Weib werden würde.

Und dann hatte ihr Vater eines Tages entdeckt, wie sie zu Claus Herfurt stand. Er hatte sie zur Rede gestellt, und sie hatte sich mutig zu ihrer Liebe bekannt.

Der Vater hatte nichts von einer Verbindung der Liebenden wissen wollen und hatte seine Tochter nach England geschickt und Claus Herfurt entlassen. Die Liebenden hatten jedoch schon vorher miteinander eine Chiffre verabredet, unter der sie sich Nachrichten zukommen lassen wollten.

Und so erhielt Claus Herfurt von Maria ein Schreiben, in dem sie ihm mitteilte, dass der Vater sie nach England, in die Grafschaft Cornwall, zu einer Cousine ihrer Mutter, Miss Jenny Brown, schicken würde. Ihre Tante bewohnte ein Häuschen im Dorf Longvillage. Sie erwarte ihn dort.

Und Claus Herfurt hatte keinen Augenblick gezögert, Marias Wunsch Folge zu leisten.

Maria hatte Tante Jenny bereits auf ihre Seite gebracht. Die gutmütige alte Dame war zornig über den harten Vater, und als Claus Herfurt dann in seiner stattlichen, bezwingenden Männlichkeit vor ihr stand und seine Bitten mit denen Marias vereinigte, willigte sie in alles ein.

In kürzester Zeit war alles zu einer stillen Hochzeit gerichtet. Maria hatte ihre Papiere mitgebracht, Claus Herfurt ebenfalls, und so wurde wenige Wochen nach ihrer Abreise Maria Bernd Claus Herfurts Frau.

Sie lebten in dem freundlichen Landhäuschen Tante Jennys. Claus Herfurt knüpfte geschäftliche Verbindungen mit einem großen englischen Verlag an und übersetzte literarische und wissenschaftliche Bücher. So lebte das junge Paar in friedlicher Glückseligkeit, die nur zuweilen getrübt wurde, wenn Maria an ihren Vater dachte.

Mehr als ein Jahr war so vergangen. Maria hatte im zehnten Monat ihrer Ehe einem gesunden Söhnchen das Leben gegeben, und als der kleine Gert zwei Monate alt war, rief der Vater Maria nach Hause. Sie folgte diesem Ruf, um dem Vater persönlich in schonendster Weise ihre Beichte abzulegen. Würde sie seine Verzeihung erlangen, dann sollte Claus mit dem kleinen Gert folgen, andernfalls wollte sie zu ihrem Mann nach Longvillage zurückkehren. Nach einem schmerzlichen Abschied von ihrem Kind, ihrem Gatten und Tante Jenny reiste Maria ab.

Claus Herfurt suchte Trost in seiner Arbeit. Er hatte inzwischen auch noch mit einem deutschen Verlag abgeschlossen. Seine Übersetzungen waren vorzüglich, und er hatte Aufträge genug. So hätte er der Zukunft beruhigt ins Auge sehen können; aber seit der Abreise seiner Frau war er von einer fast krankhaften Unruhe erfüllt.

Dazu kam, dass die immer gütige Tante Jenny gleich nach Marias Abreise schwer erkrankte und nach wenigen Tagen starb.

Jenny Brown hatte ihr kleines Anwesen testamentarisch einem Fräuleinstift hinterlassen. Es sollten in ihrem Haus allein stehende alte Mädchen Aufnahme finden, und ihre treue Dienerin, Betty Flead, sollte bis an ihr Lebensende freie Wohnung und freie Verpflegung haben. Dieses Testament hatte die alte Dame schon vor Jahren gemacht. Vor ihrer Krankheit hatte sie noch mit Claus Herfurt darüber gesprochen, dass sie das Testament abändern und den kleinen Gert zu ihrem Erben einsetzen wollte. Sie war nicht mehr dazu gekommen.

Kurz nach Tante Jennys Tod traf Claus Herfurt dann der furchtbarste Schlag seines Lebens. Das Telegramm Rochus Bernds traf ein, das Jenny Brown das tragische Ende Marias meldete. Als er es gelesen hatte, brach der kraftvolle Mann wie ein gefällter Baum zu Boden. Er war in den folgenden Tagen dem Wahnsinn nahe, wusste nicht, was er tat und starrte wie ein Geistesgestörter vor sich hin. Betty Flead, die treue Dienerin der verstorbenen Jenny Brown, brachte ihm sein Kind und legte es ihm in die Arme und sagte weinend: „Ihr müsst euch fassen, junger Herr; Euch braucht Euer Kind, das auch das Eurer jungen Frau ist. Ihr dürft das Kind nicht vergessen.“

Da endlich raffte er sich auf aus der Lethargie seines Schmerzes und presste sein Kind in wildem Jammer an sich.

Vielleicht war es gut und heilsam für ihn, dass das Stift, das das Haus geerbt hatte, in diesen Tagen seine Rechte antrat. Claus Herfurt musste seine Sachen packen und das freundliche Landhaus, in dem er so glücklich gewesen war, verlassen. Dadurch wurde er ein wenig von seinem Schmerz abgelenkt.

Durch die Zeitungen erfuhr er Näheres über den Unglücksfall, dem seine Frau zum Opfer gefallen war.

Er wartete nun, dass eine Nachricht von Rochus Bernd kommen würde. Es erschien ihm zweifellos, dass Maria längst ihrem Vater gebeichtet haben musste.

Als keine Nachricht kam, sagte er sich, Rochus Bernd wollte weder etwas von ihm noch von seinem Sohn wissen.

Kam ihm aber doch zuweilen ein Zweifel, ob Maria dem Vater gebeichtet hatte, dann drückte er in verbissenem Trotz sein Kind an sein Herz und dachte: Um so besser – so brauche ich meinen Sohn nicht mit diesem Mann zu teilen, der sich zwischen mich und meine Liebe stellte. Weiß er durch Maria nichts von unserer Vermählung, so soll er auch von mir nichts erfahren.

Er war mit seinem Sohn in das Dachgeschoss des Pfarrhauses übergesiedelt. Hier lebte er einige Jahre still und zurückgezogen nur seiner Arbeit und seinem Kind.

Als Gert zehn Jahre alt war, beschloss sein Vater, mit ihm nach Deutschland zu gehen, um ihm eine deutsche Gymnasialbildung angedeihen zu lassen. Er reiste mit Gert nach Hannover. Dort blieben Vater und Sohn, bis Gert sein Abitur gemacht hatte. Claus Herfurt hatte seinen Sohn selbst in den neuen Sprachen unterrichtet, und da auch Gert großes Sprachtalent hatte, war er bald, wie sein Vater, in der Lage, Übersetzungen zu machen.

Sie gingen nun wieder nach England zurück, weil Claus Herfurt dort gute Beziehungen hatte.

Dann brach der Weltkrieg aus. Vater und Sohn wurden interniert.

Claus Herfurt begann zu kränkeln. Er konnte nicht mehr so viel arbeiten wie früher, und so kam es ganz von selbst, dass Gert in die Verträge seines Vaters eintrat. Seine Arbeiten fielen zur größten Zufriedenheit seiner Auftraggeber aus, und als Claus Herfurt dann nach einigen Jahren sein Ende nahen fühlte, konnte er über die Zukunft seines Sohnes beruhigt sein.

Aber während er tatenlos auf seinem letzten Krankenlager ruhte, kamen ihm doch Bedenken, ob er recht daran getan hatte, seinen Sohn völlig von seinem Großvater zurückzuhalten. Dass Rochus Bernd von der Existenz seines Enkels wusste, glaubte er nicht mehr. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass Marias Vater ein ganz einsames, zurückgezogenes Leben führte. Sicher hätte er diese Einsamkeit nicht ertragen, wenn er gewusst hätte, dass er einen Enkel hatte.

Jetzt, angesichts des Todes, fragte er sich: Tatest du recht, dass du dem Großvater den Enkel vorenthieltest? Und tatest du recht an deinem Sohn, dass du ihn vielleicht um ein reiches Erbe brachtest?

Und deshalb sagte er wenige Tage vor seinem Tod zu seinem Sohn: „Mein lieber Gert, wenn ich nicht mehr sein werde, dann sollst du eines Tages deinen Großvater in Deutschland aufsuchen.“

Überrascht hatte Gert ihn angesehen. „Lebt denn dein Vater noch?“

Claus Herfurt hatte den Kopf geschüttelt. „Nicht mein Vater, Gert, sondern der deiner Mutter.“

„Warum hast du nie von ihm gesprochen, Vater?“

„Ich hatte meine Gründe, aber diese Gründe erscheinen mir jetzt nicht mehr stichhaltig. Ich will mit dir darüber sprechen – du sollst alles hören aus meinem Leben und aus dem Leben deiner Mutter, was ich dir bisher verschwiegen habe.“

Und er hatte Gert alles erzählt.

Und zum Schluss sagte er: „Ich glaube nicht mehr, dass dein Großvater etwas von deiner Existenz gewusst hat. Einmal hätte doch bei ihm die Sehnsucht nach seinem eigenen Fleisch und Blut durchkommen müssen. Wahrscheinlich hatte deine Mutter doch nicht den Mut gefunden, ihm alles zu sagen, als sie ein jäher Tod hinwegriss. Ich habe mich zuweilen nach Rochus Bernd erkundigt. Er lebt einsam in seiner Villa und ist inzwischen ein sehr alter Herr geworden. Gesund und rüstig scheint er noch zu sein, obwohl er sich von seinen Geschäften zurückgezogen hat – er wird mich vielleicht um Jahre überleben. Mir lässt nun der Gedanke keine Ruhe, dass ich diesen Mann in meinem verbitterten Stolz um etwas Großes und Schönes gebracht habe, denn auf seinen Enkel könnte er sehr stolz sein. Und zugleich sage ich mir, dass ich dich nicht um ein großes, reiches Erbe betrügen darf, auf das du ein Anrecht hast. Deshalb, mein lieber Junge, wünsche ich, dass du nach meinem Tod nach Deutschland reist und deinen Großvater aufsuchst. Gib dich ihm zu erkennen als sein Enkel, lege ihm zu deiner Legitimierung den Trauschein deiner Eltern vor. Sieh, in dieser Brieftasche, zwischen Futter und Oberleder verborgen, trage ich seit Jahren diesen Trauschein bei mir, er ist ein unersetzliches Dokument. Du weißt, dass die Kirche und das Pfarrhaus von Longvillage im letzten Kriegsjahr ein Raub der Flammen wurden. Mit der Kirche verbrannten die Kirchenbücher und alle Gemeindeakten. Der alte Pfarrer und der Gemeindevorsteher sind längst gestorben. In der neu aufgebauten Kirche predigt ein neuer Pfarrer. Es wäre dir also nicht möglich, diesen Trauschein ersetzen zu lassen, solltest du ihn verlieren. Vielleicht würde dir dein Großvater auch ohne dieses Dokument glauben, dass du sein Enkel bist. Aber des Trauscheins bedarfst du vor allen Dingen, wenn du ihn nicht mehr am Leben treffen solltest. Ich hoffe aber, dass es ihm noch vergönnt ist, dir in die Augen zu schauen. Deshalb zögere nicht lange, ihn aufzusuchen.“

So hatte Claus Herfurt zu seinem Sohn gesagt, und Gert hatte geantwortet: „Ich werde deinen Wunsch erfüllen, lieber Vater.“

Bald nach dieser Unterredung war Claus Herfurt gestorben. Und Gert hatte, nachdem er ihn zur Ruhe bestattete, nur noch seine laufenden Geschäfte geordnet und war nach Deutschland gereist.

Gleich am Tag nach seiner Ankunft zog er Erkundigungen ein nach seinem Großvater. Er erfuhr, dass er noch am Leben sei und kürzlich eine schwere Krankheit überstanden habe. Heute Morgen war er nun nach der Villenkolonie hinausgegangen und hatte erst einmal sondieren wollen. Es wäre ihm lieb gewesen, seinen Großvater erst einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen, ehe er ihn aufsuchte. Deshalb umstrich er die Villa Bernd.

Am Vormittag war es ihm noch nicht gelungen, da hatte er nur die Begegnung mit der jungen Dame gehabt. Aber als er dann zurückkam, nachdem er eine Stunde im Wald herumgelaufen war, hatte er den alten Herrn im Garten gesehen. Und er hatte gleich gefühlt, dass dieser ehrwürdige Greis sein Großvater war. Tief bewegt war er davongegangen mit dem festen Entschluss, am nächsten Vormittag seinen Großvater aufzusuchen.

Und tief bewegt saß er nun hier im Hotel und hing seinen Gedanken nach.

„Morgen gehe ich zu ihm“, sagte er vor sich hin.

Und dann entnahm er seiner Brusttasche die Brieftasche, die sein Vater ihm gegeben hatte. Es war eine schlichte Ledertasche, schwarz, mit einem kleinen, runden roten Fleck in der unteren rechten Ecke.

Gert hatte sich nach seines Vaters Tod überzeugt, dass zwischen Oberleder und Futter der Trauschein seiner Eltern verborgen lag. Er hatte ihn wieder in sein Versteck zurückgeschoben, und die wenigen Stiche, die er hätte auftrennen müssen, wieder zugenäht. Einen Moment zögerte er, als er jetzt diese Stiche wieder auftrennen wollte, um den Trauschein herauszunehmen. Und schließlich unterließ er es. Dazu war Zeit, wenn er bei seinem Großvater war und den Schein vorlegen wollte.

Mit einem tiefen Atemzug erhob er sich und trat ans Fenster. Da unten brauste und brandete das Großstadtleben.

Sinnend ließ Gert seine Augen über das bewegte Bild schweifen. Und er dachte an ein blondes Mädchen mit blauen Augen.

***

Ruth hatte allerlei im Haushalt zu tun gehabt. Als sie unten im Souterrain in den Wirtschaftsträumen verschiedene Vorräte herausgab, kam der Laufbursche aus dem Kolonialwarenladen und brachte Waren, die Ruth bestellt hatte.

Max Reichert dienerte, die Mütze in der Hand, vor Ruth.

„Alles bringe ick Ihnen, Fräulein Alving, nur Zucker jibt es nich’. Der Chef lässt Ihnen sagen, et fehlte überall an Zucker. Sobald er welchen kriegt, dann kriegen Sie noch welchen.“

Ruth nickte ihm freundlich zu. „Es ist gut, Max, aber sorgen Sie ein wenig mit dafür, dass wir den Zucker bekommen.“

Max Reichert nickte und sah Ruth ganz verzückt an. „Na, vor Ihnen Fräulein Alving, da werde ick schon sorgen.“

Sie lachte. „Das soll mich freuen. Wie geht es denn der Mutter und den Brüdern?“

Er seufzte. „Na, man so! Is’ ja allens so teuer. Und wir drei Jören, wir können wat vadrücken. Ick sage Ihnen Fräulein Alving, et is’ ’ne schreckliche Zeit. Und alles jeht kaputt. Ich friere wie ’n Schneider in mein durchbrochenet Jewand.“

Damit zeigte er Ruth sein fadenscheiniges Röckchen.

Ruth glänzte die Freude aus den Augen, dass sie helfen konnte. „Ich habe etwas für Sie, Max. Herr Bernd hat mir erlaubt, Ihnen einige getragene Anzüge und Mäntel zu schenken. Daraus kann Mutter für ihre drei Jungen Anzüge und warme Mäntel nähen. Ich packe Ihnen das zusammen, sobald ich Zeit habe.“

„Sie sind ’n Engel, Fräulein Alving, und ick freue mir kaputt. Muttern wird ’n Stein vom Herzen fallen, det sie unsre Blößen bedecken kann. Wann kann ick mir die Sachen holen?“

„Ich lege sie zurecht – wenn Sie wiederkommen, Max.“

„Na schön! Nochmals villen Dank, Fräulein Alving.“

Damit dienerte Max Reichert aus der Vorratskammer hinaus. Ruth ordnete die Waren in ihre Behälter. Dann brachte sie ihre Wirtschaftsbücher in Ordnung.

Inzwischen war es Zeit zum Abendessen geworden. Ruth ging hinunter und sah Heinrich neben der Tür zum Arbeitszimmer des alten Herrn sitzen. Er war ein wenig eingenickt, wachte aber sogleich auf, als sie herankam und erhob sich.

„Hat Onkel Rochus noch nicht nach Ihnen verlangt, Heinrich?“, fragte sie.

„Nein, Fräulein Ruth, ich war die ganze Zeit hier. Aber der gnädige Herr hat noch nichts von sich hören lassen. Vielleicht ist er auch ein bisschen eingenickt.“

„Da müssen Sie ihn wohl wecken, Heinrich, es ist Zeit zum Abendessen.“

Heinrich klinkte leise die Tür auf und trat ein. Drinnen im Arbeitszimmer brannte das Licht. Ruth wollte eben zum Speisezimmer hinübergehen, als Heinrich verstört rief: „Fräulein Ruth – unser gnädiger Herr … Kommen Sie schnell – mir scheint, es ist ihm etwas zugestoßen!“

Ruth eilte erschrocken in das Zimmer. Im Lehnstuhl saß Rochus Bernd, mit zurückgelegtem Haupt, wie schlafend. Aber die Arme hingen steif herab, und der Unterkiefer war herabgefallen. Vor ihm stand das kleine Tischchen, auf das er den Brief gelegt hatte, den Ruth – in Marias Koffer gefunden hatte.

Etwas in dem starren, leblosen Gesicht ließ Ruth zusammenzucken. Sie fasste nach seiner Hand, sie war kalt und steif.

Ruth schluchzte auf. „Heinrich, schnell, telefonieren Sie nach dem Arzt!“, rief sie außer sich.

Heinrich eilte davon, so schnell ihn seine alten Beine trugen. Ruth beugte sich über den alten Herrn.

„Onkel Rochus, lieber Onkel Rochus, hörst du mich nicht?“, rief sie.

Er hörte sie nicht mehr, er war tot.

Sie fiel vor ihm nieder und küsste seine kalte Hand. Er war ihr immer ein großmütiger Vormund gewesen. Wie ein Vater hatte er für sie gesorgt. Sie hatte ihn lieb gehabt und ihn verehrt. Und es tat ihr weh, dass er von ihr gegangen war, ohne Abschied und ohne dass sie ihm noch einmal hätte danken können.

Sie sah den Brief Claus Herfurts auf dem Tisch liegen, und instinktiv steckte sie ihn zu sich. Es sollten nicht fremde, neugierige Augen darauf ruhen.

So tief hatte Rochus Bernd die Kunde von der Verheiratung seiner Tochter und die Existenz eines Enkels erregt, dass er die Freude nicht hatte überleben können.

Hätte ich ihm den Brief nicht geben sollen?, dachte sie bang.

Und wie fragend sah sie in das Gesicht des Toten, auf dem ein majestätischer Frieden lag. Und sie dachte an seine Worte, als sie ihm dieselbe Frage vorgelegt hatte, und richtete sich getröstet auf.

Als der Arzt kam, konstatierte er einen Herzschlag. „Hat Herr Bernd eine große Aufregung gehabt?“, fragte er.

Ruth wusste nicht, was sie erwidern sollte. Und sie sagte vorsichtig: „Er hat am Nachmittag mit mir von seiner verstorbenen Tochter gesprochen. Das hat ihn anscheinend sehr erregt.“

Der Arzt nickte. „In seinem Alter kommt es schon vor, dass selbst ohne besondere Erregung das Herz den Dienst versagt, zumal er eben erst eine fieberhafte Krankheit hinter sich hatte. Er klagte verschiedentlich über Herzbeschwerden. Jedenfalls ist er schon seit einigen Stunden tot.“

Bedrückt atmete Ruth auf und sah mit feuchten Augen auf den alten Heinrich, der zusammengesunken an einem Schrank lehnte und nach Fassung rang. Auch für Heinrich bedeutete der Tod seines Herrn einen schweren Verlust.

Ruth kam es nun erst zum Bewusstsein, wie sehr sich ihr ganzes Leben ändern würde, nun da sich die Augen ihres Wohltäters und Beschützers geschlossen hatte. Aber nachdem sich der erste Schmerz in Tränen Luft gemacht hatte, wurde sie ruhig und gefasst und besprach mit dem Arzt und Heinrich, wie der Tote gebettet werden sollte und was alles geschehen musste.

Vor allem galt es, die Verwandten ihres Vormunds zu benachrichtigen.

Sie begab sich zum Telefon und rief die Geschwister Bernd an.

Es meldete sich die Dienerin, die den kleinen Hausstand der Geschwister in Ordnung hielt. Ruth fragte sie, ob die Herrschaften zu Hause seien.

Die Dienerin erwiderte mürrisch: „Sie sind beide im Theater.“

„Wissen Sie, in welchem Theater?“, fragte Ruth.

„Wie soll ich das wissen, mir sagen sie es nicht“, maulte die Perle.

„Dann bestellen Sie den Herrschaften sofort, wenn sie nach Hause kommen, sie möchten in der Villa Bernd anklingeln.“

„Is’ jut, werde ich bestellen.“

Ruth hängte ab und seufzte. Aber sie wartete vergeblich. bis nach Mitternacht, ohne dass die Geschwister angeklingelt hatten.

Müde und abgespannt von allen Aufregungen dieses Tages ging sie endlich zu Bett.

Am nächsten Morgen, sobald sie sich erhoben hatte, klingelte sie nochmals bei den Geschwistern an. Wieder meldete sich die mürrische Dienerin. Ruth fragte erregt: „Haben Sie den Herrschaften nicht ausgerichtet, was ich Ihnen aufgetragen habe?“

„Nein, ich habe es nicht bestellen können. Bis ein Uhr habe ich gewartet, ob die Herrschaften nach Hause kommen würden, aber sie kamen nicht. Da bin ich schlafen gegangen. Man kann sich doch nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen.“

„Und heute Morgen?“, fragte Ruth, zitternd vor Ungeduld.

„Heute Morgen schlafen sie noch.“

„Dann wecken Sie die Herrschaften!“

„Ick werde mir hüten!“, klang es durch das Telefon. „Wenn ich die Herrschaft im Schlaf störe, kriege ich Zanke, und dann fliegt mir ’n Pantoffel an den Kopp. Das kenne ich aus Erfahrung.“

„Aber ich habe den Herrschaften etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.“

„Na, so wichtig wird es ja nicht sein. Sobald die Herrschaften aufstehen, werde ich es sagen.“

Damit hängte die mürrische Perle ab.

Ruth stand ratlos da. Sie war überzeugt, dass die Geschwister ihr die Schuld geben würden, dass sie nicht schon gestern Abend Kunde vom Tod ihres Großoheims erhalten hatten. Aber ändern konnte sie es nicht.

Es stürmten nun wieder tausend Anforderungen auf sie ein. Was bei einem Todesfall geordnet werden musste, fiel ihr zu. Der alte Heinrich stand ihr getreulich bei, und er sah sehr sorgenvoll aus, denn er wusste, dass er bei der neuen Herrschaft, für die er die Geschwister Bernd ansah, so wenig gut angeschrieben war wie Fräulein Ruth.

Wir beide werden sicher unser Bündel schnüren müssen, wenn die hier ans Ruder kommen, sagte er bekümmert zu sich selbst.

Aber vorläufig sprach er das nicht aus, denn Fräulein Ruth und er kamen an diesem Morgen kaum zu Atem. Und Ruth wartete von Stunde zu Stunde vergeblich auf den Anruf der Geschwister.

„Was tue ich nur, Heinrich? Die Geschwister Bernd lassen nichts von sich hören, und das Mädchen weigert sich, sie zu wecken.“

Heinrich winkte müde ab.

„Lassen Sie nur, Fräulein Ruth, die kommen noch immer zu zeitig.“

***

Es war in der zwölften Stunde. Die Geschwister hatten noch immer nicht angerufen. Sie schienen sehr lange zu schlafen.

Ruth hatte sich einige Minuten im Wohnzimmer ans Fenster gesetzt und sah hinaus ins Freie. Den ganzen Vormittag war sie nicht eine Sekunde zur Ruhe gekommen. Nun blieben ihr endlich einige Minuten, um sich zu sammeln. Aber sie sollte nicht dazu kommen, denn in diesem Augenblick sah sie draußen am Gartentor den jungen Fremden von gestern auftauchen. Sie sah, dass er die Klingel zog. Hastig sprang sie auf, lief ins Vestibül, wo der alte Heinrich stand und nach der Gartenpforte sah.

Ruth ergriff erregt seinen Arm.

„Heinrich, wenn der Herr da draußen nach Herrn Bernd fragt, so sagen Sie ihm nicht, dass er nicht mehr am Leben ist. Führen Sie ihn einfach ins Arbeitszimmer! Ich glaube, ich weiß, was ihn herführt, und werde es Ihnen später erklären.“

„Es ist gut, Fräulein Ruth.“

„Wenn er Ihnen seine Karte gibt, so bringen Sie sie mir. Ich warte im Wohnzimmer.“

„Soll geschehen, Fräulein Ruth.“

Sie nickte und huschte hinüber ins Wohnzimmer. Kaum war sie verschwunden, da betrat der junge Herr das Vestibül.

Heinrich trat ihm entgegen. „Womit kann ich dienen, mein Herr?“, fragte er.

„Bitte, bringen Sie Herrn Bernd diese Karte und fragen Sie ihn, ob er mich empfangen will.“

Heinrich nahm die Karte und ließ ihn in das Arbeitszimmer eintreten.

Dann brachte er Ruth die Karte.

Sie sah mit gespannter Erregung darauf.

„Er ist es!“, stieß sie hervor.

Heinrich sah sie fragend an. „Wer, Fräulein Ruth?“

Sie fasste sich. „Später, Heinrich. Haben Sie den Herrn ins Arbeitszimmer geführt?“

„Ja, Fräulein Ruth.“

„Es ist gut. Ich gehe hinüber. Wenn die Geschwister Bernd am Telefon nach mir verlangen, rufen Sie mich. Sonst aber lassen Sie mich ungestört mit dem Herrn sprechen.“

„Es soll geschehen, wie Sie wünschen, Fräulein Ruth.“

Ruth eilte nun erst hinauf in ihr Zimmer und steckte den Brief an sich, den sie gestern im Kleid Marias gefunden hatte, dann ging sie ins Arbeitszimmer. Als sie eintrat, sah Gert Herfurt sie überrascht an.

„Mein gnädiges Fräulein, verzeihen Sie, wenn ich hier eingedrungen bin. Ich möchte Herrn Rochus Bernd sprechen.“

Bei diesen Worten sah er, dass sie Trauerkleider trug. Gestern war das nicht der Fall gewesen, gestern trug sie ein graues Kostüm und eine helle Bluse.

Ruth wurde unter seinem Blick rot und blass. „Es wird Ihnen sicher sehr Leid tun, Herr Herfurt, dass Sie nicht schon gestern hier eingetreten sind“, sagte sie erregt. „Nun kommen Sie zu spät. Mein Vormund, Herr Rochus Bernd, ist gestern Nachmittag … verschieden.“

Er zuckte zusammen. „Nein, das ist doch nicht möglich – ich sah ihn doch gestern Mittag neben Ihnen draußen im Garten! Aufrecht stand er da und anscheinend gesund und kräftig“, stieß er hervor.

Sie sah, dass er tief bewegt war. „Ja, Sie haben recht gesehen, gestern war er noch ganz wohl. Er hatte zwar noch an den Folgen einer Grippe zu leiden, aber sonst war er über den Berg. Nur sein Herz war nicht mehr so recht intakt. Und … er hatte gestern eine große, wenn auch freudige Erregung. Dort, in jenem Lehnstuhl, hat er seinen letzten Atemzug getan.“

Gert Herfurt sah mit großen Augen auf den Lehnstuhl und rang nach Fassung.

„So kam ich zu spät“, sagte er halblaut.

Sie trat ihm näher, und ihre Augen leuchteten in die seinen.

„Nicht zu spät, um ihm noch eine große Freude zu machen. Er hat Sie gesehen, ein einziges Mal wenigstens gesehen. Und es hat ihn glücklich gemacht, dass Sie den Weg zu ihm finden wollten – endlich finden wollten“, sagte sie mit bebender Stimme.

Unruhig forschend sah er sie an.

„Mein gnädiges Fräulein, Ihre Worte berühren mich sehr seltsam. Wie sollte es möglich sein, dass – dass es Herrn Bernd eine Freude hätte bereiten können, dass ich da drüben stand … am Gartentor?“

Sie strich sich über ihr Haar.

„Bitte, nehmen Sie Platz! Ich habe Ihnen mehr zu sagen, als Sie ahnen.“

Er ließ sich in einen Sessel nieder, nachdem auch sie Platz genommen hatte. Sein Blick hing unverwandt an ihrem lieben blassen Gesicht.

„Ich bin sehr erstaunt, gnädiges Fräulein, dass – dass man mir in diesem Haus etwas zu sagen hat. Man kennt mich doch hier nicht.“

Ein blasses Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Doch, Herr Herfurt, ich kenne Sie. Außer mir hat freilich niemand in diesem Haus eine Ahnung, wer Sie sind, nur mein Vormund wusste es noch. Als ich Ihnen gestern Vormittag begegnete, draußen am Tor, da ahnte ich freilich selbst noch nicht, wer Sie waren. Mir fiel nur eine große Ähnlichkeit auf. Ich musste unablässig darüber nachgrübeln. Erst am Nachmittag, nachdem ich Sie nochmals bemerkt hatte, wusste ich plötzlich, wem Sie so ähnlich waren, nicht nur im Gesicht, auch in der Haltung, im Gang, in jeder Bewegung. Aber da war auch inzwischen etwas geschehen, was mir die Augen öffnen half.“

Er sah sie betroffen an. „Sie wissen, dass ich …?“

„Dass Sie der Enkel des Verstorbenen sind.“

Gert Herfurt fuhr auf. „So wusste mein Großvater um meine Existenz?“

„Nichts wusste er davon – bis gestern Nachmittag.“

Gert Herfurt strich sich über die Stirn, als sei ihm zu heiß.

„Sie sprechen in Rätseln, gnädiges Fräulein.“

Sie lächelte zu ihm auf, und dieses gütige Lächeln erschien ihm bezaubernder als je ein Frauenlächeln. Gebannt sah er in ihr Gesicht.

„Dieses Rätsel werde ich Ihnen schnell lösen können“, sagte sie und erzählte ihm nun erst einmal, dass sie gestern im Koffer seiner verstorbenen Mutter einen Brief gefunden hatte. „Ich fand ihn, während ich noch immer vergeblich über die Ähnlichkeit nachgrübelte, die mir an Ihnen auffiel. Und nun will ich Ihnen diesen Brief zu lesen geben, Herr Herfurt, will ihn überhaupt in Ihre Hände legen, denn er ist nicht für fremde Augen bestimmt. Sie können den Brief Ihrem Herrn Vater zurückgeben.“

„Mein Vater ist tot, er starb vor zwei Monaten.“

„Oh, Sie hatten einen schweren Verlust. Bitte, nehmen Sie dann den Brief an sich! Aber lesen Sie ihn erst, damit Ihnen alles, was ich noch zu sagen habe, verständlich wird.“

Er tat es, und nachdem er den Brief gelesen hatte, sah er sie mit brennenden Augen an. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust.

„Ah, nun verstehe ich. Sie gaben meinem Großvater diesen Brief, und erst durch ihn erfuhr er, dass meine Eltern verheiratet waren und … dass ich existiere?“

„So ist es.“

„Und … wie nahm er es auf?“

„Tief erschüttert.“

„Zürnte er meinen Eltern?“

Sie schüttelte den Kopf.

„O nein, sein Stolz und seine Härte haben ihm längst Leid getan. Er segnete Ihren Vater, dass er seiner Tochter ein Jahr des Glücks beschert hatte. Aber er empfand auch einen herben Schmerz, dass er seit dreißig Jahren einsam gewesen war und nicht erfahren hatte, dass er einen Enkel besaß, der ihm diese Einsamkeit verklärt hätte.“

Er richtete sich straff auf. „Sie glauben also, dass er mich als Enkel anerkannt haben würde?“

Ihre Augen wurden feucht vor Erregung.

„Wüssten Sie, wie es auf ihn gewirkt hat! Ich kann es Ihnen nicht besser erklären, als wenn ich Ihnen jedes Wort unserer Unterredung wiederhole.“

Und in schlichten Worten schilderte sie ihm die letzte Stunde, die sie mit Rochus Bernd verlebt hatte.

„Sie sehen, wie er sich danach sehnte, Sie zu sehen, wie es ganz selbstverständlich für ihn war, dass Sie sein einziger Erbe sind. Er wollte es noch notariell festlegen, aber dessen bedarf es ja zum Glück nicht, um Sie in Ihre Rechte einzusetzen. Sie brauchen sich ja nur als sein Enkel zu legitimieren, um ohne weiteres Ihr Erbe antreten zu können. Es existieren allerdings noch entfernte Verwandte von Ihrem Großvater, die Enkel eines Cousins von ihm, die sich bereits als seine Erben betrachten, weil sie glaubten, seine einzigen Verwandten zu sein. Diese beiden Menschen werden Ihnen allerdings feindlich gegenüberstehen, darauf machen Sie sich gefasst. Aber es darf Sie nicht kümmern. Mein Vormund dachte nicht gut von diesen beiden Geschwistern, und er hätte sie nicht gern als seine Erben gesehen. Jedenfalls weiß ich, dass von dem Moment an, dass er von Ihrer Existenz wusste, nur ein Erbe für ihn existierte – Sie.“

Er sah sie mit großen, ernsten Augen an. Vielleicht kam ihm eine Ahnung davon, dass sie ihm verschwieg, was ihr Vormund über ihre Beteiligung an seinem Erbe gesagt hatte.

„Glauben Sie wirklich, dass ich ihm als einziger Erbe galt?“

Sie wurde glühend rot, und da sie nicht lügen wollte, umging sie seine Frage und sagte ruhig: „Ich kann Ihnen darauf am besten mit seinen letzten Worten antworten, die er zu mir sprach. Er sagte wörtlich: ‚Nun habe ich einen Erben nach meinem Herzen – jetzt macht mir das Testieren Freude, jetzt freue ich mich wieder meines Reichtums. Alles gehört meinem Enkel – meinem Enkel – meinem Enkel!’ Das kam wie ein Jauchzen aus seiner Brust. Hätten Sie es gehört, es würde Sie tief erschüttert haben.“

Ruth hatte mit bebender Stimme gesprochen. Gert Herfurts Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Er kämpfte seine Rührung mannhaft nieder, aber sie war ihm doch deutlich anzumerken.

Er fasste Ruths Hand.

„Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, gnädiges Fräulein, dass Sie mir das alles mitgeteilt haben. Wie dies alles auf mich wirkt, kann ich Ihnen nicht sagen. Auch ich weiß erst seit kurzer Zeit, dass von mir ein Großvater lebte. Mein Vater enthüllte es mir erst auf seinem Krankenbett, kurz vor seinem Tod. Als ich Ihnen gestern Vormittag begegnete, hätte ich Sie gern angesprochen und mich nach dem Ergehen meines Großvaters erkundigt. Aber ich wagte es nicht, obwohl Ihnen die Güte aus den Augen leuchtete und … obwohl Sie mir gleich sehr sympathisch waren.“

„Hätten Sie es nur getan! Vielleicht hätte ich Sie doch noch zu Ihrem lebenden Großvater führen können.“

Er atmete tief auf. „Wie oft unterlässt man etwas, das man so gern tun möchte, aus kleinlichen Formenrücksichten. Es lässt sich auch nicht mehr nachholen. Aber ich muss noch etwas zur Sprache bringen. Darf ich Ihnen einige Fragen vorlegen?“

„Bitte sehr.“

„Sie sind Waise?“

„Seit meinem zwölften Jahr.“

„Und … sind Sie reich?“

„Nein, ich habe von Ihres Großvaters Güte gelebt, der mich wie ein eigenes Kind hielt.“

„Dann trete ich vielleicht auch Ihren Erbansprüchen zu nahe?“

„Ich habe keine Erbansprüche.“

„Aber mein Großvater hatte sicher die Absicht, Sie in seinem Testament zu bedenken. Bitte, seien Sie mir gegenüber ehrlich.“

Eine dunkle Glut, die in ihr Gesicht schoss, verriet ihm, dass er recht vermutete. Ruth zögerte eine Weile, dann sah sie ihn offen an.

„Ich will nicht unehrlich sein, aber bitte, erlassen Sie mir, darüber zu sprechen. Onkel Rochus hat mir eine so vortreffliche Erziehung geben lassen, dass ich auf eigenen Füßen stehen kann. Mir ist es fast eine Erleichterung, dass er mich nicht in einem Testament bedenken konnte, denn ich gelte in den Augen seiner Verwandten als eine Erbschleicherin. Ich bin froh, dass ich mich von diesem Verdacht reinigen kann.“

Er sah bewundernd in ihre klaren, reinen Züge. „Ich hoffe, dass es mir vergönnt sein wird, den Willen meines Großvaters in Bezug auf Ihre Person zu erfüllen.“

Sie hob abwehrend die Hand. „Nein, bitte sprechen Sie davon nicht. Ich danke Ihnen für Ihren guten Willen, aber ich habe in diesem Haus schon so viele Wohltaten erhalten, dass ich die Schuld der Dankbarkeit nicht vergrößern darf, so bitte ich Sie, den alten Diener Ihres Großvaters und einige andere treue Dienstboten nicht zu vergessen. Der alte Heinrich ist seit vierzig Jahren in seinem Dienst gewesen, und wenn er in dieser schweren Zeit aus dem Haus gewiesen würde, käme es ihm sehr schwer an.“

Impulsiv führte er ihre Hand an seine Lippen. „Darüber werden wir noch reden, wenn es so weit ist. Selbstverständlich werde ich alte, treue Diener meines Großvaters nicht vergessen. Mir ist es nur peinlich, dass ich Sie benachteiligen muss … und auch die Verwandten meines Großvaters. Ich dürfte ihnen wohl sehr ungelegen kommen.“

Ruth atmete auf. „Darüber besteht für mich kein Zweifel. Ich weiß, dass sie sicher mit dieser Erbschaft rechnen. Sie werden außer sich sein, wenn sie erfahren, dass ihnen das reiche Erbe verloren geht. Das sage ich Ihnen, damit Sie sich darauf gefasst machen, dass Ihnen von dieser Seite Feindseligkeiten bevorstehen. Es ist sonst nicht meine Art, über andere Menschen zu sprechen, aber ich halte es für meine Pflicht gegen meinen Wohltäter, Sie vor diesen beiden Menschen zu warnen. Ich halte sie zu allem fähig. Bitte, sehen Sie sich vor!“

„Ich danke Ihnen für diese Warnung. Eine Gefahr, die man kennt, ist keine Gefahr mehr. Aber nun habe ich noch eine herzliche Bitte an Sie.“

Sie sah ihn mit ihren schönen, seelenvollen Augen fragend an. „Was kann ich für Sie tun?“

„Bitte, führen Sie mich zu meinem Großvater! Ich möchte ihn noch einmal sehen und zugleich Abschied von ihm nehmen.“

Ihre Augen leuchteten auf.

„Ich freue mich, dass Sie diesen Wunsch aussprechen. Viel Fremdes liegt zwischen Ihnen und Ihrem Großvater, das müssen Sie hinwegräumen. Und ich gönne es ihm, dass sein Fleisch und Blut an seinem Totenlager steht und dass die Augen seines Enkels auf ihm ruhen – voll warmer Teilnahme. Er ist es wert, glauben Sie es mir, wenn er auch einst Ihren Vater zurückgewiesen hat.“

Mit einem guten Lächeln sah er sie an. „Sie brauchen nicht sein Fürsprecher zu sein, mein eigenes Herz spricht für ihn.“

Ihre Blicke trafen sich. Selbstvergessen sahen sie sich eine Weile an, und er hielt dabei ihre Hand fest in der seinen. Sie hielt seinen Blick aus, bis ihr die Glut verräterisch ins Gesicht stieg. Da löste sie schnell und verwirrt ihre Hand aus der seinen.

„Kommen Sie!“, sagte sie hastig. Damit führte sie ihn hinüber in den Saal, in dem Rochus Bernds sterbliche Überreste aufgebahrt lagen. Hier ließ sie ihn mit dem Toten allein.

***

Langsam ging Ruth ins Vestibül. Sie fand dort den alten Heinrich, der sorgenvoll vor sich hin starrte.

Ruth legte ihm die Hand auf den Arm.

„Heinrich, Sie sind seit vierzig Jahren im Dienst Ihres Herrn gewesen, nicht wahr?“

Er nickte mit seinem weißen Kopf. „Ja, Fräulein Ruth, und nun, da ich ihm nicht mehr dienen kann, komme ich mir so überflüssig vor. Und was soll aus mir werden, wenn ich jetzt das Haus verlassen muss?“

Sie sah ihn voll Güte an. „Dazu wird es nicht kommen, Heinrich, der neue Herr wird Ihnen einen geruhsamen Lebensabend gönnen nach so langer Dienstzeit.“

Heinrich machte eine wegwerfende Bewegung. „Mit Verlaub, Fräulein Ruth, von Herrn Kurt Bernd halte ich so wenig wie von seiner Schwester. Wenn die beiden hier einziehen, kann ich mein Bündel schnüren – und Sie auch, denn der gnädige Herr hat noch kein Testament gemacht. Er sagte mir gestern Morgen, als ich ihn ankleidete, es solle noch vor seiner Reise geschehen.“

Ruth nickte. „Ja, Heinrich, ein Testament hat er nicht gemacht. Aber haben Sie sich den Herrn angesehen, der vorhin gekommen ist?“

„Nicht sehr genau, meine alten Augen sehen nicht mehr gut.“

„Nun, sonst wäre Ihnen wohl aufgefallen, wie sehr er unserem teuren Verstorbenen ähnlich ist. Sie sollen es wissen, Heinrich, damit Ihr Sorgenbündel ein wenig leichter wird. Sie schwatzen ja nicht, solange es nicht sein darf. Die Tochter Ihres Herrn haben Sie doch noch gekannt, nicht wahr?“

Heinrich nickte.

„Unser Fräulein Maria! Das will ich meinen.“

Ruth fasste seine Hand. „Heinrich, der Herr, der vorhin gekommen ist, ist der Sohn von Frau Maria Herfurt, geborene Bernd. Sie hat in England geheiratet damals, heimlich, und kam nach Hause, um ihrem Vater zu gestehen, dass sie Claus Herfurts Frau und Mutter eines Sohnes geworden war. Mein Vormund hat das gestern erst erfahren, kurz vor seinem Tod. Und nun ist heute sein Enkel gekommen, um ihn kennen zu lernen. Er steht jetzt drinnen an seinem Totenlager. Leider kam er zu spät, um mit ihm zu sprechen, aber gesehen hat ihn gestern sein Großvater, und die Freude, dass er einen Enkel hat, hat sein Herz nicht fassen können. Und nun seien Sie außer Sorge, Heinrich, der junge Herr, das ist Art von der Art seines Großvaters, der lässt einen alten, treuen Diener nicht darben.“

Der alte Diener war kraftlos vor freudigem Erstaunen in einen Sessel gesunken.

„Du lieber Herrgott, da habe ich nun um ein Wunder gebetet, dass ich nicht auf die Straße gestoßen werde auf meine alten Tage – und nun ist das Wunder geschehen“, stammelte er fassungslos.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Ruth legte den Finger auf die Lippen.

„Nicht schwatzen, Heinrich, bis alles klar ist. Wenn Herr Herfurt herauskommt, bitten Sie ihn, er soll noch einen Augenblick warten. Ich will jetzt zum Telefon.“

Heinrich nickte und sah Ruth noch ganz konsterniert nach.

Sie ging ans Telefon und nahm den Hörer.

„Wer dort?“

Lenas Stimme antwortete: „Ich bin hier, Fräulein Alving. Was ist denn los? Unsere Dienerin sagt mir eben, dass Sie schon gestern Abend angerufen haben. Wir kamen spät heim und haben verschlafen. Also, was gibt es?“

Und nach dieser Frage hörte Ruth ein herzhaftes Gähnen.

„Es tut mir Leid, Fräulein Bernd, dass ich Sie erst jetzt erreiche. Aber Ihr Mädchen wollte Sie partout nicht wecken, trotz meiner Dringlichkeit.“

„Mein Gott, ist es denn so eilig, was Sie mir zu sagen haben?“

„Wenigstens sehr wichtig … und sehr traurig. Ich muss Ihnen mitteilen, dass Onkel Rochus gestern Abend plötzlich einem Herzschlag erlegen ist.“

Eine Weile lautlose Stille und dann ein Aufschrei: „Er ist tot?“

„Ja, Fräulein Bernd, leider. Wir haben ihn vor dem Abendessen tot in seinem Zimmer aufgefunden.“

Wieder eine Pause. Und dann herrschte Lena Ruth wie eine Dienerin an: „Und das erfahre ich jetzt erst?“

Ein verächtliches Lächeln huschte um Ruths Mund. Sie hatte gewusst, dass dieser Vorwurf kommen würde.

„Da Sie früher nicht zu erreichen waren, Fräulein Bernd, konnte ich Sie erst jetzt benachrichtigen“, sagte sie kurz.

„Ohe, mein Fräulein, nicht diesen anmaßenden Ton, verstanden! Sie hätten sich unter allen Umständen aufmachen und uns suchen müssen.“

„Wollen Sie mir bitte sagen, wo ich hätte suchen sollen? Ihr Mädchen wusste nicht einmal, in welchem Theater Sie waren. Auch hätte ich gar keine Zeit gehabt, denn ich hatte genug zu tun.“

„Aha – nun ja, man kann sich denken, was Sie zu tun haben. Es gab wohl schnell noch ein Schäfchen ins Trockene zu bringen?“

Ruth wurde vor Empörung blass bis in die Lippen. „Ich verbitte mir solche Anschuldigungen, Fräulein Bernd. Meine Koffer stehen Ihnen zur Durchsicht zur Verfügung, falls Sie es wünschen und ein Recht dazu haben.“

„Kommen Sie nur herunter von Ihrem Thron, meine Gnädigste. Ganz sicher werde ich es wünschen und ein Recht dazu haben. Aber ehe ich an Ihre Koffer komme, werden sie schon hübsch leer sein. Man kennt das.“

„Diese Beleidigungen fallen auf Sie zurück, ich stehen Ihnen schutzlos gegenüber. Haben Sie sonst noch Wünsche?“

„Selbstverständlich, wir wünschen draußen zu speisen. Und in einer halben Stunde soll das Auto hier sein, damit wir endlich nach dem Rechten sehen können.“

„Das hätten Sie schon früher tun können, wenn Sie zu erreichen gewesen wären. Ich sende den Wagen in einer halben Stunde.“

Damit hängte Ruth ab, zitternd vor Empörung, und schritt hinaus ins Vestibül. Da stand Gert Herfurt mit ernstem Gesicht neben dem alten Heinrich. Er sah forschend in ihr blasses, zuckendes Gesicht und sah, dass sie mit Tränen kämpfte.

„Ich hoffe, Sie hatten nichts Unangenehmes am Telefon zu erledigen, gnädiges Fräulein?“

Sie schluckte ihre Tränen tapfer hinab. „Es war Fräulein Lena Bernd. Sie machte mir Vorwürfe, dass ich sie nicht früher erreichen konnte, obwohl ich alles versucht habe. Und sie wagte es, mir zu sagen, dass ich die Zeit wohl benutzt habe, um mein Schäfchen ins Trockene zu bringen und stellte mir in Aussicht, dass sie meine Koffer untersuchen werde.“

„Empörend!“, stieß Gert Herfurt heraus.

Ruth atmete zitternd auf. „Oh, von dieser Seite wundert mich nichts. Es ist mir nichts Neues, dass die Geschwister mir zutrauen, dass ich mich auf unrechtmäßige Weise am Erbe meines Vormunds bereichere. Aber in so unverschämter Weise hätte Fräulein Bernd das nicht auszusprechen gewagt, solange ich unter dem Schutz des Verstorbenen stand.“

Wie beschützend trat der alte Heinrich neben sie.

„Kränken Sie sich nicht, Fräulein Ruth, Sie stehen ja viel zu hoch über solchen Verdächtigungen. Fräulein Bernd sucht die Leute nur hinter dem Busch, wo sie selbst gesteckt hat. Ich will nichts gesagt haben, aber ich denke mir mein Teil.“

Ruth fasste sich mühsam. „Das war erst der Auftakt zu dem, was mir von dieser Seite noch bevorsteht“, sagte sie tonlos.

Impulsiv ergriff Gert ihre Hand.

„Mein gnädiges Fräulein, darf ich mich nicht auch in dieser Angelegenheit als Erbe meines Großvaters betrachten – darf ich Ihnen nicht in seiner Vertretung meinen Schutz angedeihen lassen?“

Ein wohliges Gefühl des Geborgenseins erfüllte Ruths Seele. Sie sah mit feucht schimmernden Augen zu ihm auf.

„Ich danke Ihnen für Ihren guten Willen, und wenn ich mich einmal nicht selbst schützen kann, will ich vertrauensvoll um Ihren Schutz bitten.“.

„Ich werde immer und jederzeit dazu bereit sein.“

Ruth gab nun Heinrich den Auftrag, zu bestellen, dass der Chauffeur in einer halben Stunde die Geschwister Bernd abholen sollte.

„Fräulein Bernd wünscht mit ihrem Bruder heute Mittag hier zu speisen, und man soll ihr das Auto schicken“, sagte sie.

„Nun, sie sollen sich nicht eher hier als Herren aufspielen, bis sie ein Recht dazu haben“, knurrte Heinrich kampfesmutig.

Als Ruth mit Gert Herfurt allein war, sagte er lächelnd: „Sie haben einen treuen Freund in dem alten Heinrich. Er hat mir verraten, dass mein Großvater davon gesprochen hat, dass er Ihre Zukunft durch sein Testament sicherstellen wollte. Er hat mir überhaupt viel Gutes von Ihnen erzählt.“

Sie errötete. „Heinrich ist Partei. Er liebt alles, was sein Herr liebte, und mag niemanden leiden, den er nicht leiden mochte.“

„Dann mochte mein Großvater die Geschwister Bernd gar nicht leiden.“

„Nein, das stimmt. Aber, bitte, nun sagen Sie mir noch, wie ich mich den Geschwistern Bernd gegenüber verhalten soll. Wünschen Sie, dass ich Ihnen sage, dass Sie der Enkel von Rochus Bernd sind und als solcher Ihr Erbe antreten werden, oder wollen Sie hier auf die Herrschaften warten und ihnen selber die Mitteilung machen?“

Er überlegte. Dann sagte er ruhig: „Ich möchte erst einmal mit einem Notar sprechen und mich informieren, wie ich mich zu verhalten habe. Können Sie mir einen guten Notar empfehlen?“

„Oh, suchen Sie Dr. Jungmann auf, er war der Notar und Rechtsbeistand Ihres Großvaters. Er ist äußerst tüchtig und wird Ihnen gut raten.“

„Vielen Dank, gnädiges Fräulein. Das will ich tun. Inzwischen ermächtige ich Sie, den Geschwistern Bernd über mein Auftauchen zu erzählen, was Sie für gut halten. Und nun will ich nicht länger stören. Von meinem Großvater habe ich Abschied genommen – ich werde die Stunde nicht vergessen, in der ich mit ihm wie mit einem Lebenden sprach. Und ich werde erst wiederkommen, wenn ich ihm die letzte Ehre erweise. Bevor er nicht zur letzten Ruhe bestattet ist, will ich es vermeiden, Streit in dieses Haus zu tragen. Sein Frieden soll nicht gestört werden. Und, nicht wahr, Sie werden bleiben, bis alles geregelt ist?“

„Wenn man es mir gestattet, zu bleiben, dann bleibe ich gewiss.“

„Wer soll es Ihnen verwehren? Hat hier jemand ein Recht, Sie gehen zu heißen?“

Sie atmete auf. „Außer Ihnen wohl niemand. Aber es könnte sein, dass die Geschwister Bernd mir das Bleiben durch ihr Benehmen unmöglich machen.“

„Nein, Sie dürfen nicht fortgehen – versprechen Sie es mir! Mir ist, als seien wir uns in dieser Stunde näher gekommen, als manche Menschen, die seit Jahren zusammen leben. Ich muss Sie wiedersehen“, sagte er erregt und sah sie flehend an.

Wie eine warme Welle gingen seine Worte über sie hin.

„Ich werde bleiben, selbst wenn ich meinen Stolz bezwingen und Demütigungen ertragen muss“, sagte sie leise.

Inbrünstig küsste er ihre Hand. „Ich danke Ihnen – nun bin ich ganz ruhig. Leben Sie wohl, Fräulein Alving. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen!“

Sie sagte es leise, wie im Traum. Und wie im Traum sah sie ihm nach und lauschte den Worten nach, die er mit ihr gesprochen hatte.

***

Lena Bernd war zunächst ziemlich fassungslos, als sie vom Tod ihres Großoheims erfahren hatte, nicht etwa vor Schmerz, sondern vor Freude. Endlich, endlich hatte es ein Ende mit diesem elenden Leben!

Sie rannte zu Kurts Zimmer und klopfte an die Tür.

„Bist du endlich wach, du Murmeltier?“, rief sie.

Aber drinnen blieb alles stumm. Sie riss ungeduldig die Tür auf.

„Kurt! So höre doch! Herrgott, hast du einen Schlaf! Kurt, wach auf, Onkel Rochus ist tot – Onkel Rochus ist tot!“, rief sie.

„Was ist denn los?“, fragte er schlaftrunken.

Sie schüttelte ihn an den Schultern. „Unser Erbonkel ist tot – Friede seiner Asche!“

Jetzt sprang Kurt mit einem Satz aus dem Bett.

„Was sagst du?“, fragte er, sie mit brennenden Augen anstarrend.

„Also, noch einmal – der Großonkel ist gestorben“, wiederholte sie.

Er fuhr mit der Hand durch das Haar. „Machst du auch keinen Witz?“

Sie zeigte eine würdevolle Miene. „Mit solchen Dingen scherzt man nicht. Also, los, mach dich fertig! Bald wird das Auto hier sein.“

Kurt fuhr ohne Umstände mit dem Kopf in die Waschschüssel. Lena hatte sich auf sein Bett gesetzt und spielte mit einer Zigarettenschachtel.

„Kriege ich eine?“, fragte sie kess.

Er rieb sich mit dem Frottierhandtuch das Haar trocken.

„Nee, die lass mir in Ruhe! Sind präparierte. Ich nehm sie manchmal, wenn mir die Gallensteine zu schaff en machen“, erwiderte er.

„Und das soll helfen?“ Ungläubig sah sie zu ihm hinüber.

„Und ob. Nach fünf Minuten fühlst du keinen Schmerz mehr, bist völlig bewusstlos und weißt nichts mehr von dir und der Welt.“

Sie stellte die Schachtel hin.

„Du, wenn ich mal Schmerzen bekommen sollte, gibst du mir so eine Zigarette ab, ja?“ Sie sprang plötzlich auf. „Gott, ich muss mir ja ein schwarzes Kleid anziehen. Hab ich denn eins? Warte mal, ach ja – ich kann das schwarzseidene Abendkleid anziehen und wickle mir einen schwarzen Schleier um den Hals. Vorläufig muss es gehen. Von der Villa Bernd aus telefoniere ich an ein Atelier, damit man mir Trauerkleider vorlegt. Um einen so reichen Erbgroßonkel muss man gebührend trauern, nicht wahr?“

„Ja doch. Und nun geh, und Lina soll uns ein anständiges Frühstück machen!“

„Hm!“ Damit ging Lena hinaus. Draußen öffnete sie die Küchentür.

„Kochen Sie einen starken Bohnenkaffee, Lina, aber ein bisschen dalli! Und holen Sie Weißbrot dazu und auch Eier!“

Lina sah ihre Herrin frech an.

„Eier und Weißbrot? Denn jeben Sie mir Geld, pumpen tut uns keener mehr.“

„Was kümmert mich das – und Geld … Ich pfeife auf Geld.“

Das Mädchen stemmte die Arme in die Seiten. „Jotte doch, Sie haben wohl geerbt oder in der Lotterie jewonnen?“

Lena richtete sich stolz auf.

„Jawohl, mein Großonkel Bernd ist gestorben und wir sind seine Erben. Jetzt geht es hier mit einem anderen Ton, und Ihre Unverschämtheiten haben ein Ende. Also, vorwärts – in einer Viertelstunde muss das Frühstück bereitstehen!“

Damit knallte Lena die Küchentür zu. Die Perle sah konsterniert nach der Tür und duckte sich unwillkürlich. Als ihr Lena dann einen Hundertmarkschein aushändigte, sagte sie: „Wenn unser Auto unten hält, melden Sie es mir!“

Die Perle glotzte sie dumm an. Aber das Auto schien ihr zu imponieren. Sie beeilte sich nach Kräften und servierte das Frühstück pünktlich und sogar mit einiger Nettigkeit. –

Das Auto musste natürlich noch eine gute Viertelstunde warten, ehe die Geschwister herabkamen. Lena trug ein schwarzes Kleid, darüber ihren schwarzen Plüschmantel und auf dem Kopf einen schwarzen Seidenhut, von dem sie eine farbige Federgarnitur entfernt hatte.

Kurt hatte noch einen Trauerflor gefunden, den er nach dem Tod seines Vaters getragen hatte, und ihn um den Ärmel seines Mantels befestigt. Er begrüßte den Chauffeur, der den Wagenschlag öffnete, mit vornehmer Herablassung.

Als sie in der Villa ankamen, trat ihnen Ruth im Vestibül entgegen. Sie begrüßte die Geschwister höflich, aber zurückhaltend. Und als Lena ihr befahl, ihren Mantel aufzuhängen, zuckte es nur leise um Ruths Mund. Ohne ein Wort der Gegenwehr übergab sie Heinrich den Mantel.

Kurt warf dem alten Diener auch seinen Mantel zu und wandte sich an Ruth. „Gab es keine Möglichkeit, uns früher vom Ableben unseres teuren, unvergesslichen Großonkels zu verständigen, Fräulein Alving?“

„Nein Herr Bernd, es gab keine Möglichkeit. Wünschen Sie, an die Bahre des Verstorbenen zu treten?“

Die Geschwister legten sofort ihre Gesichter in würdevollen Ernst.

„Selbstverständlich. Wo ist unser teurer Großonkel aufgebahrt?“, fragte Kurt.

Aber Lena machte eine abwehrende Bewegung.

„Ich vermag es nicht, ihn anzusehen. Ich würde fassungslos zusammenbrechen. Und ich will sein liebes Bild so in der Erinnerung festhalten, wie ich ihn im Leben gekannt habe. Geh du allein zu ihm, Kurt, und bringe ihm meine letzten Grüße!“

Und sie drückte das Taschentuch an ihre Augen. Kurt sah fahl und gelb aus, aber er nahm sich zusammen und trat in den Saal.

Die Damen betraten das Wohnzimmer, und kaum waren sie dort angelangt, als Kurt auch schon wieder zu ihnen kam.

„Lassen Sie mir eine Flasche Wein bringen, Fräulein Alving, von dem schweren Burgunder, den mein Großonkel immer zum Frühstück getrunken hat. Davon muss doch noch ein großer Vorrat vorhanden sein.“

Ruth neigte das Haupt und klingelte.

Als Heinrich erschien, sagte sie: „Bringen Sie eine Flasche Burgunder, Heinrich.“

„Wie viele Gläser, Fräulein Ruth?“

Ruth sah Lena fragend an.

„Wünschen Sie auch davon?“

„Selbstverständlich.“

„Also zwei Gläser, Heinrich.“

„Aber ein bisschen dalli, alter Mummelgreis“, sagte Kurt.

Der Diener ging hinaus.

„Was gibt es heute Mittag für ein Menü?“, fragte Lena von oben herab.

Ruth wandte sich ihr zu. „Es gibt Haferflockensuppe, Mohrrüben und Schweinefleisch und zum Nachtisch Grießspeise mit Kompott.“

Lena rümpfte die Nase. „Weshalb wollen Sie uns ausgerechnet so ein frugales Mittagessen vorsetzen? Weshalb bekommen wir nicht ein Menü, wie es sonst hier im Haus üblich ist?“

„Es ist hier nie anders gespeist worden, Fräulein Bernd, Onkel Rochus liebte die Einfachheit und hielt es für eine Sünde, zu prassen, in einer Zeit, wo Tausende hungern müssen.“

„Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass man hier immer so einfach diniert hat.“

„Ich will Ihnen ganz gewiss nichts weismachen, Fräulein Bernd, denn ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte. Das Menü war stets für eine Woche im Voraus bestimmt, und die Köchin kann Ihnen die Küchenzettel von einem ganzen Jahr vorlegen.“

„Na, wie lange bleibt denn Heinrich mit dem Wein? Der leistet doch absolut nichts mehr. Hier muss man mal mit eisernem Besen auskehren. Ich möchte wissen, weshalb mein Großonkel diesen alten Nichtstuer noch bezahlt hat“, zankte Kurt ungeduldig.

Ruth sah ihn ernst an. „Vielleicht, weil Heinrich seinem Herrn vierzig Jahre treu gedient hat. Im Übrigen ist er noch immer fleißig und regsam und tut seine Pflicht in vollem Maß.“

„Ich wüsste nicht, dass mein Bruder Sie danach gefragt hat, Fräulein Alving. Wo haben Sie übrigens die Schlüssel hier vom Haus, die mein Großonkel Ihnen anvertraut hat?“

„Diese Schlüssel habe ich noch in Verwahrung.“

„Holen Sie sie, ich will sie jetzt selbst an mich nehmen“, befahl Lena.

Ruth wandte sich ruhig nach ihr um. „Ich bedauere, Ihrer Aufforderung nicht Folge leisten zu können, Fräulein Bernd. Ich bin verantwortlich für alles, was ich unter Verschluss habe, und werde die Schlüssel und die Wirtschaftsbücher natürlich nur an den gesetzlichen Erben ausliefern, sobald das Gericht darüber bestimmt hat.“

„Nun, was ist da erst zu bestimmen? Die gesetzlichen Haupterben sind wir, meine Schwester und ich“, rief Kurt.

„Darüber steht mir kein Urteil zu“, erwiderte Ruth.

Lena sah Ruth mit funkelnden Augen an. „Sie sind ja immer um meinen Großonkel gewesen, sollten Sie nicht wissen, ob er ein Testament gemacht hat?“

„Doch, darüber kann ich Ihnen genaue Auskunft geben, da Onkel Rochus mich darüber informiert hat.“

„Und? Hat er ein Testament gemacht?“, fragte Kurt schnell.

„Nein, Herr Bernd, Onkel Rochus hat kein Testament gemacht“, erwiderte Ruth ruhig.

Ein Aufatmen der Geschwister verriet ihr, wie sehr sie gefürchtet hatten, dass ein Testament vorhanden sei.

„Wissen Sie das bestimmt?“

„Ja, er hat dieser Tage erst mit mir davon gesprochen, und ich habe kurz vor seinem Tod an Dr. Jungmann schreiben müssen, dass er kommen und mit Onkel Rochus sein Testament besprechen sollte, weil er es vor seiner Reise noch machen wollte.“

Triumphierend blitzten Lenas Augen auf.

„Ah, das wird Ihnen schmerzlich sein, dass dieses Testament nicht zustande kam. So haben Sie sich viel Mühe umsonst gemacht“, sagte sie höhnisch.

Der alte Heinrich, der jetzt den Wein brachte, hörte diese Worte.

Ruth war blass geworden vor Empörung, aber sie sagte gelassen: „Darauf werden Sie hoffentlich keine Antwort von mir verlangen.“

Lena zuckte spöttisch die Achseln. „Sie haben sich eben verrechnet, mein Fräulein. Und da Sie wissen, dass Onkel Rochus kein Testament gemacht hat, so müssen Sie auch wissen, dass wir selbstverständlich seine Erben sind, und Sie können mir daher ruhig die Schlüssel ausliefern. Ich ziehe es vor, sie in sicheren Gewahrsam zu nehmen.“

Ruth sah sie mit großen Augen an.

„Ich bedauere, Ihnen trotzdem die Schlüssel nicht ausliefern zu können, denn es steht durchaus nicht fest, dass Sie die Erben meines Vormunds sind.“

Heinrich machte ein befriedigendes Gesicht. Aber Lena und Kurt fuhren zornig auf Ruth ein: „Was wollen Sie damit sagen?“

„Ich will damit nur sagen, dass es feststeht, dass Sie nicht die einzigen Verwandten von Onkel Rochus sind.“

Die Geschwister starrten Sie an, als spräche sie in einer fremden Sprache mit ihnen.

„Unsinn! Das wissen wir besser als Sie!“, fuhr Kurt auf.

„Anscheinend doch nicht. Ich weiß, dass ein sehr naher Verwandter von Onkel Rochus aufgetaucht ist.“

Die Geschwister fuhren auf. „Was soll das heißen? Von welchem Verwandten sprechen Sie?“

Ruth atmete tief auf, und ihre Augen leuchteten.

„Ich spreche von dem Enkel von Rochus Bernd.“

Eine Weile blieb es still in dem weiten Raum. Die Geschwister starrten Ruth verständnislos an. Dann lachte Kurt heiser auf.

„Sie scheinen allerdings zu Fastnachtsscherzen aufgelegt zu sein. Wie soll unser Großonkel zu einem Enkel kommen? Seine einzige Tochter starb als Mädchen.“

Ruth schüttelte den Kopf. „Nein, sie starb als die Frau von Claus Herfurt, mit dem sie sich in England heimlich trauen ließ. Und dieser Ehe ist ein Sohn entsprossen, Gert Herfurt, der heute Morgen hier war, leider zu spät, um seinen Großvater noch lebend anzutreffen.“

Wieder lachte Kurt heiser auf. „Das ist ja ein aufgelegter Schwindel!“

„Anscheinend mit Ihrer Hilfe in Szene gesetzt!“, ergänzte Lena wütend.

Ruth zuckte die Achseln. „Es gehört Ihre Fantasie dazu, mir so etwas zuzutrauen. Ich habe Ihnen jetzt gesagt, wozu ich ermächtigt war. Herr Herfurt wird, wenn nicht früher, zur Beerdigung seines Großvaters kommen und sich wahrscheinlich mit Ihnen ins Einvernehmen setzen. Weiter habe ich nichts dazu zu sagen. Nur das will ich Ihnen noch sagen, dass Herr Herfurt wirklich der Enkel von Rochus Bernd ist. Das werden Sie schon an seiner großen Ähnlichkeit mit seinem Großvater sehen.“

„Pah, wenn er weiter keine Beweise hat! Diese Ähnlichkeit kann ein Zufall sein, der zu einem Schwindel ausgenutzt werden soll. Ob mit oder ohne Ihre Hilfe, das werden wir ja feststellen. Und nun lassen Sie uns allein!“

Ruth verneigte sich stumm und ging.

Als die Geschwister allein waren, sahen sie sich eine Weile in atemloser Erregung ins Gesicht. Endlich brach es über Lenas Lippen: „Was hältst du von dieser Geschichte, Kurt?“

Er biss die Zähne wie im Krampf aufeinander.

„Dieser Herr Herfurt soll sich hüten – das wird ein Kampf bis aufs Messer! Ich lasse mich nicht um ein Erbe bringen, das mir gehört.“

„Ich auch nicht, Kurt! Aber hältst du es für möglich, dass Maria Bernd sich in England verheiratet hat?“

Er zuckte die Schultern und starrte finster vor sich hin. Dann stieß er einen Fluch aus und goss ein Glas von dem schweren Wein wie Wasser hinunter.

***

Der Tag der Beerdigung war herangekommen. Als Gert Herfurt eintraf, um seinem Großvater die letzte Ehre zu erweisen, fragte er Heinrich: „Ist alles gutgegangen bis heute?“

Heinrich sah ihn trübe an.

„Ach, gnädiger Herr, das arme Fräulein Ruth führt jetzt ein Höllenleben. Die Geschwister Bernd behandeln sie schlimmer als einen Dienstboten. Der selige gnädige Herr würde sich im Sarg umdrehen, wenn er das mit ansehen müsste.“

„Nur noch ein wenig Geduld, Heinrich. Bald soll das anders werden“, erwiderte Gert.

Bei den Beisetzungsfeierlichkeiten nahmen die Geschwister alle Kondolationen entgegen, als seien sie einzig dazu berechtigt. Und wenn die alten Freunde des Verstorbenen, die im Haus verkehrt hatten, Ruth herzlich trösteten, dann funkelte sie Lena zornig an.

Erst nach den Beisetzungsfeierlichkeiten stellte sich Gert den Geschwistern vor und bat sie um eine Unterredung.

Die Geschwister maßen ihn wie einen Feind, dessen verwundbare Stelle sie erspähen wollten. Seine Ähnlichkeit mit Rochus Bernd hatten sie sehr wohl bemerkt, und ihre Stimmung wurde immer schlechter.

Vom Friedhof aus fuhren sie zusammen mit Gert und Ruth nach der Villa Bernd. Während Ruth sich in die Küche begab, traten die Geschwister und Gert ins Wohnzimmer.

Kurt ging sofort auf sein Ziel los.

„Was haben Sie uns zu sagen, Herr Herfurt? Sie deuteten an, dass Sie eine wichtige Eröffnung machen wollen.“

Gert stand in seiner ganzen stolzen Jugendkraft, die so herrlich mit seiner vornehmen Erscheinung harmonierte, der verlebten, unsympathischen Persönlichkeit Kurts gegenüber.

„Nicht eigentlich eine Eröffnung, Herr Bernd. Diese Eröffnung hat Ihnen Fräulein Alving wohl bereits gemacht. Ich wollte Ihnen nur noch einmal persönlich wiederholen, dass ich der Enkel des verstorbenen Rochus Bernd bin.“

Kurt sah ihn feindselig an, und auch Lenas Augen glühten wie im Hass zu ihm empor.

„Sie gestatten, dass ich vorläufig an Ihren Angaben zweifle. Mein Großonkel hat nie einen Enkel erwähnt, er hat oft genug mit uns davon gesprochen, dass wir seine einzigen Verwandten und mithin seine Erben sind. Es ist doch wohl anzunehmen, dass er das nicht behauptet haben würde, wenn er einen Enkel gehabt hätte.“

„Das wusste er eben selbst nicht, bis am Tag seines Todes.“

„Und warum haben Sie nicht schon früher versucht, sich Ihrem Großvater zu nähern?“

„Ich habe es nicht getan, weil mein Vater mir erst vor kurzer Zeit Mitteilung davon gemacht hat, dass ich Rochus Bernds Enkel bin.“

„Nun – dafür müssen Sie Beweise haben.“

Bei diesen Worten Kurts hingen die Augen der Geschwister in brennender Erwartung an Gert Herfurts Gesicht.

Er blieb ganz ruhig. „Diese Beweise besitze ich selbstverständlich. Aus dem Trauschein meiner Eltern geht eindeutig hervor, dass meine Mutter eine geborene Bernd war.“

Die Geschwister rangen eine Weile nach Fassung. Dann sagte Lena mit rauer Stimme: „Haben Sie das Dokument bei sich?“

„Ja, gnädiges Fräulein.“

„Dann zeigen Sie es uns, damit wir uns von der Wahrheit Ihrer Worte überzeugen können!“

Gert fasste unwillkürlich nach der Stelle, wo seine Brieftasche ruhte. Aber dann zog er seine Hand wieder zurück.

„Verzeihen Sie mir, wenn ich diesem Ersuchen nicht Folge leiste. Dieser Trauschein meiner Eltern existiert nur dieses eine Mal und ist unersetzlich. Die Kirche und das Gemeindehaus von Longvillage, wo meine Eltern heirateten, sind mitsamt den Kirchenbüchern und Gemeindeakten durch einen Brand vernichtet worden. Ich könnte mir das Dokument also nicht noch einmal verschaffen. Außerdem ist das Papier im Laufe der Jahre ein wenig brüchig geworden. Ich möchte es deshalb nicht öfter als unbedingt nötig aus meiner Brieftasche nehmen. Da ich es ohnedies bei Gericht vorlegen muss, können Sie aber versichert sein, dass es vorhanden ist.“

Eine Weile herrschte eine schwüle, atembeklemmende Stille. Lena und Kurt zermarterten sich die Köpfe, wie sie sich in den Besitz dieses Trauscheins setzen konnten. Während Kurt aber zu keinem Resultat kam, durchzuckte Lena plötzlich ein Gedanke: Sie dachte an die betäubenden Zigaretten, die ihr Bruder besaß. Wenn man Gert Herfurt mit Hilfe einer solche Zigarette betäubte und ihm die Brieftasche entwendete, war die Gefahr beseitigt.

Lena schloss die Augen, so überwältigt war sie von ihrer Idee. Aber wie sollte sie sich mit Kurt verständigen? Sie musste ihn dazu bringen, Gert Herfurt eine solche Zigarette anzubieten. Aber wie? Und wann? Zeit gewinnen – Zeit gewinnen, dachte sie immer wieder.

Und als Kurt jetzt etwas auf Gerts Worte erwidern wollte, sprang sie auf, legte mit einem seltsam dringlichen Blick ihre Hand auf seinen Arm und sagte mit erzwungener Ruhe: „Lass mich reden, Kurt, du bist zu erregt!“

Und in ihrem Blick las er ein Warnzeichen, das ihn verstummen ließ.

Dann wandte sie sich mit einem Lächeln an Gert: „Sie können uns wohl nachfühlen, Herr Herfurt, dass uns Ihre Mitteilungen sehr überraschend kommen und uns ein wenig aus dem Gleichgewicht bringen.“

Gert verneigte sich. „Allerdings, gnädiges Fräulein, Sie haben immer damit gerechnet, dass Sie meinen Großvater beerben würden, und es muss eine große Enttäuschung für Sie sein, dass jetzt ein anderer Erbe auftaucht.“

Lena hatte ihrem Bruder verstohlen ein Zeichen gemacht, er möge sie ruhig gewähren lassen. Nun nickte sie Gert zu.

„Nicht wahr, das ist verständlich. Aber wenn Sie wirklich der legitime Enkel unseres Großoheims sind und das durch den Trauschein Ihrer Eltern beweisen können, dann müssen wir, zumal kein Testament besteht zurückstehen, was uns allerdings sehr schmerzlich sein wird, da wir unsere ganze Lebensführung dem Umstand angepasst haben, dass uns eines Tages ein reiches Erbe zufließen würde.“

„Das verstehe ich, gnädiges Fräulein, und wenn ich das Erbe antrete, werde ich Sie bitten, mir zu gestatten, dass ich diesem Umstand Rechnung trage und Ihnen, da wir doch nun einmal Verwandte sind, wenigstens eine Abfindungssumme auszahle. Vielleicht kann ich Ihnen auch ein kleine Rente aussetzen, in der Art, wie Sie bereits bisher von meinem Großvater unterstützt wurden.“

Es blitzte wie Hohn aus den Augen der Geschwister. Wieder hinabtauchen in das elende Leben, wie sie es bisher geführt hatten – dazu hatten sie beide keine Lust. Lena vermochte sich aber besser zu beherrschen als Kurt.

„Wir sind leider nicht in der Lage, dieses Angebot zurückweisen zu können, und schließlich kann es uns ja auch nicht demütigen, da es, wie wir bestimmt wissen, im Sinn unseres Großoheims ist. Er hätte uns sicher nicht darben lassen, auch nicht, wenn ein Enkel aufgetaucht wäre. Sicherlich hätte er uns auch dann großmütig in seinem Testament bedacht. Jedenfalls sind wir nicht gewillt, uns Ihnen feindlich gegenüberzustellen. Wir können friedlich miteinander verhandeln. An unserem verwandtschaftlichen Entgegenkommen sollen Sie nicht zweifeln, und ich schlage vor, wir benutzen das heutige Zusammenkommen, um uns ein wenig näher kennen zu lernen. Wenn es Ihnen recht ist, speisen wir heute hier im Haus zusammen und plaudern dann nach Tisch noch ein wenig miteinander.“

Gert verneigte sich artig. Er war sehr zufrieden, dass etwaige Feindseligkeiten vermieden wurden, und konnte nur sagen, dass Lena Bernd fabelhaft Haltung bewahrte.

„Ich nehme die Einladung mit Dank an“, erwiderte er freundlich.

„Und was tun wir nun bis zum Essen, um uns die Zeit zu vertreiben?“, fragte Lena lächelnd.

„Wenn Sie gestatten, möchte ich erst einmal nach meinem Hotel telefonieren.“

Lena nickte lebhaft. Es kam ihr sehr gelegen, dass sie einige Minuten mit ihrem Bruder allein sein konnte.

„Bitte, lassen Sie sich nicht abhalten! Ich gehe inzwischen mit meinem Bruder ein wenig im Garten promenieren. Wenn Sie telefoniert haben, kommen Sie uns nach.“

„Mit Vergnügen, gnädiges Fräulein.“

Gert war sehr froh, dass er sich für eine Weile von den Geschwistern trennen konnte, denn ihn verlangte danach, mit Ruth einige Worte wechseln zu können. Das Telefon war nur ein Vorwand gewesen. So trennten sie sich. Die Geschwister nahmen ihre Mäntel und gingen hinaus in den verschneiten Garten und Gert ging scheinbar zum Telefon.

Als er aber Heinrich sah, fragte er ihn: „Wo finde ich Fräulein Alving?“

„Sie ist drüben im Speisezimmer, gnädiger Herr.“

Und er ging Gert voran und öffnete ihm die Tür zum Speisezimmer.

Ruth stand an der Tafel und ordnete Tannenzweige und rote Winterbeeren in einer Vase.

„Darf ich eintreten, Fräulein Alving?“, fragte er.

Sie errötete.

„Bitte sehr! Ich wollte nur noch einmal die Tafel übersehen, ob alles in Ordnung ist. Fräulein Bernd pflegt sonst nicht mit Vorwürfen zu sparen. – Aber nun sagen Sie mir – wie verlief die erste Fehde?“

Er lächelte.

„Zuerst drohte es kritisch zu werden, aber wider Erwarten nahm Fräulein Bernd sehr bald Vernunft an. Sie hat mich sogar zum Essen eingeladen. Das kann mir nur lieb sein. Ich möchte nicht mit den Geschwistern in Streitigkeiten geraten, und da ich ihnen immerhin eine Hoffnung zerstöre, fand ich ihr Benehmen immerhin aller Anerkennung wert. Ich habe ihnen auch gesagt, dass ich eventuell etwas für sie tun werde. Das ist, glaube ich, im Sinne meines Großvaters. Und … die Geschwister waren meinem Anerbieten gegenüber nicht so abweisend wie Sie, mein gnädiges Fräulein.“

Es lag ein leiser Vorwurf in seinen Worten. Ruths Lippen umspielte ein Lächeln.

„Habe ich Ihnen damit weh getan?“, fragte sie.

„Ganz ehrlich – ja.“

„Das wollte ich nicht.“

„Aber Sie müssen mir doch nachfühlen, dass es meine Pflicht ist, Sie vor Not und Sorgen zu bewahren.“

Sie sah ihn dankbar an. „Ich hoffe, dass mir das selbst gelingt, Herr Herfurt. Und ich will Ihnen freiwillig versprechen, wenn ich einmal nicht aus und ein weiß vor Sorgen, dann will ich mich vertrauensvoll um Hilfe an Sie wenden, so, wie ich mich im gleichen Fall an Onkel Rochus gewandt hätte. Sind Sie damit zufrieden?“

Sie sah so reizend aus, dass er sie am liebsten in die Arme genommen hätte.

„Ihr Versprechen ist ein kostbares Geschenk für mich, Fräulein Alving. Es zeigt mir, dass ich mir Ihr Vertrauen errungen habe. Und das freut mich unsagbar. Ich habe gleich beim ersten Sehen herzliche Sympathie für Sie empfunden, und das wächst mit jeder Stunde. Mir ist, als hätten Sie schon immer in mein Leben gehört, als kenne ich Sie schon seit Jahren – so lieb und vertraut sind Sie mir. Und wenn ich Sie so vor mir sehe in Ihrer holden Güte, mit dem goldenen Haar und den lieben, lieben Blauaugen, dann wird mir so froh zu Sinn, als hätte mir das Schicksal etwas Wunderholdes geschenkt, auf das ich mich nun alle Tage freuen darf. Und es macht mich froh und glücklich, dass ich fühlen darf, dass auch Sie mir sympathisch gegenüberstehen. Und ich wünsche mir, dass dieses Gefühl bei Ihnen auch noch wächst – darf ich das?“

Ihre Augen strahlten offen und klar in die seinen.

„Onkel Rochus war mir lieb und teuer, ich hegte eine schrankenlose Hochachtung und Verehrung für ihn. Und … Sie sind ihm so ähnlich in allen Dingen – ich kann nicht anders, als Ihnen mit herzlicher Sympathie gegenüberzustehen.“

„Dann innigen Dank! Sie ahnen nicht, wie glücklich mich Ihre Worte machen. Aber jetzt muss ich Sie verlassen, man erwartet mich im Garten. Bei Tisch sehen wir uns doch wohl wieder?“

Ruth schüttelte den Kopf. „Nein, ich bitte, dispensieren Sie mich! Ich habe es in diesen Tagen vermieden, mit den Geschwistern Bernd zusammen zu speisen, da man mich wie eine Dienerin behandelt. Ich habe die Mahlzeiten in meinem Zimmer eingenommen und will es auch heute tun.“

Ein Schatten flog über sein Gesicht. „Ich muss gestehen, dass ich hauptsächlich deswegen zusagte, hier zu speisen, weil ich hoffte, dabei auch Ihre Gesellschaft zu genießen.“

„Es tut mir Leid. Aber es ist besser so.“

„Sehe ich Sie heute nicht mehr?“

„Vermutlich nicht, da ich gleich nach Tisch einige Besorgungen machen muss.“

„Das bedauere ich sehr.“

Sie reichten sich die Hände, und er hielt die ihre etwas länger fest als üblich. Dass sie dabei erglühte, erfüllte ihn mit heißer Freude.

***

Der alte Heinrich hatte nach Tisch auf Lenas Geheiß den Mokka im gelben Salon, der ans Speisezimmer grenzte, serviert. Lena sagte ihm, er könne sich nun zurückziehen, man bedürfe seiner nicht mehr. Die Geschwister waren nun allein mit Gert. Sie plauderten eine Weile, und dann zog Kurt sein Zigarettenetui hervor.

„Nun wollen wir zusammen eine Friedenspfeife rauchen, Herr Herfurt. Bitte, bedienen Sie sich! Auf ein gutes Einvernehmen in Zukunft!“

Damit hielt er Gert das Etui hin.

Ahnungslos griff Gert zu. Er merkte dabei nicht, dass Kurt selbst sich nicht aus dem Etui bediente, sondern eine Zigarette aus der Rocktasche zog.

Behaglich lehnten sich die beiden Herren zurück und rauchten. Aber kaum hatten sie einige Züge getan, als Lena mit einem erschreckten Ausruf aufsprang.

„Kurt, um Gottes willen, jetzt haben wir ganz die Verabredung mit Dr. Halm und seiner Frau vergessen! Um drei Uhr sollten wir sie treffen. Wie spät ist es denn?“

Kurt schlug sich an die Stirn und zog die Uhr. „Donnerwetter, das ist unangenehm. Aber halt, noch können wir zurechtkommen, es ist noch eine halbe Stunde Zeit. – Lieber Herr Herfurt, Sie müssen uns entschuldigen. Wir bedauern, Ihnen nicht länger Gesellschaft leisten zu können. Aber bitte, lassen Sie sich nicht stören! Trinken Sie behaglich Ihren Mokka, und rauchen Sie Ihre Zigarette. Wir sehen uns ja morgen wieder. Also, auf Wiedersehen!“

Und wie in höchster Eile reichten die Geschwister Gert die Hand.

Gert fühlte sich seltsam müde. Er sah, dass die Geschwister das Zimmer verließen und schloss schläfrig die Augen. Schon halb eingeschlafen, dachte er: Den schweren Wein bei Tisch hätte ich nicht trinken sollen, der hat es in sich. Und dann rauchte er mechanisch weiter und dämmerte in vollständige Betäubung hinüber.

Kurt und Lena standen inzwischen in atemloser Erregung im Speisezimmer und lauschten an der Tür. Sie ahnten nicht, dass im Erker, hinter einem Vorhang verborgen, der alte Heinrich saß. Er konnte sich schlecht gegen ein Mittagsschläfchen wehren, denn er war daran gewöhnt, weil sein Herr auch immer nach Tisch geschlafen hatte. Um aber auf alle Fälle auf dem Posten zu sein, falls man ihn brauchte, wagte er nicht, sein Zimmer aufzusuchen, und hatte sich deshalb das Erkereck im Speisezimmer ausgesucht. Aufgestört durch das Eintreten der Geschwister, hielt er sich doch ängstlich in seinem Versteck, fürchtend, dass Kurt ihn auszanken und ihm Faulheit vorwerfen würde. Unruhig blinzelte er durch einen winzigen Spalt im Vorhang und sah die Geschwister lauschend an der Tür stehen, die nach dem gelben Salon führte.

Hoffentlich gehen sie bald, dachte er und beobachtete nun erstaunt, wie die Geschwister sich abwechselnd zum Schlüsselloch hinabbeugten, und sich dann erregt etwas zuflüsterten. Und dann öffnete Kurt Bernd ganz leise die Tür und verschwand im gelben Salon. Lena Bernd stand indessen mit allen Anzeichen einer starken Erregung an der Tür.

Heinrich wurde die Sache immer rätselhafter. Endlich öffnete sich die Tür zum gelben Salon wieder, und Kurt Bernd erschien. Heinrich sah, dass er irgendetwas Schwarzes in seine Brusttasche steckte. Und nun ergriff er Lenas Arm.

„Schnell fort!“

„Hast du?“

„Ja, ja, aber nun fort!“

Und sie eilten aus dem Zimmer.

Heinrich kratzte sich nachdenklich den Kopf.

Wenn ich nur wüsste, was das bedeuten sollte! Warum flüsterte Herr Bernd so heimlich mit seiner Schwester? Und warum sahen sie beide durch das Schlüsselloch? Sie wollten gewiss Herrn Herfurt beobachten, denn der ist noch im gelben Salon.

So war Heinrichs Gedankengang. Aber dann überwältigte ihn die Müdigkeit, und da seine Peiniger nun fort waren, überließ er sich mit Behagen seinem Nickerchen. –

Die Geschwister hatten aufgeatmet, als sie im Auto saßen und davonfuhren.

Und nun fragte Lena heiser: „Hast du die Brieftasche wirklich?“

„Ja doch, ich habe sie.“

„Lass uns gleich nachsehen, ob der Trauschein auch wirklich darin steckt.“

Kurt Bernd zog die schwarze Brieftasche mit dem kleinen roten Fleck in der rechten Ecke heraus. Mit zitternden Händen nahm er alle Papiere heraus, sah in alle Fächer, ob sie auch leer waren, und warf dann die Brieftasche mit einem kräftigen Schwung aus dem Fenster. Lena wollte seine Hand fassen.

„Was tust du, weshalb wirfst du sie hinaus?“

„Damit wir sie los sind. Sie ist ja leer, und es ist besser, wenn man sich von solchen Schuldbeweisen befreit.“

Lena blickte hinaus, wo sie sich befanden. Sie fuhren gerade durch ein kleines Gehölz, das etwa zehn Minuten von der Villa Bernd entfernt war.

Dann wandte sie sich dem Bruder wieder zu.

„Nun lass uns den Trauschein suchen!“

Sie blätterten aufgeregt die Papiere durch … und fanden den Trauschein nicht. Nichts als einige Geschäftsbriefe enthielt die Tasche. Und keine Ahnung kam den Geschwistern, dass sie den Trauschein mit der scheinbar leeren Brieftasche zum Wagenfenster hinausgeworfen hatten, die nun in niedrigem Gestrüpp am Weg hing.

Immer wieder blätterten sie die Papiere durch, immer aufgeregter wurden sie, und schließlich starrten sie sich in die verstörten Gesichter.

„Was soll das heißen? Es ist kein Trauschein unter den Papieren, alles nur unwichtige Briefe“, sagte Kurt.

„Aber er hat doch erwähnt, dass das Dokument in seiner Brieftasche steckt!“

Noch einmal suchten sie die Papiere durch, sahen auf dem Boden des Autos nach und durchsuchten die Polster – nichts war zu finden:

„Alles war so famos gegangen. Und nun umsonst“, jammerte Lena.

Kurt steckte die Papiere wütend zu sich und warf sich stöhnend in das Polster zurück. Und Lena zergrübelte sich den Kopf nach einem anderen Ausweg.

Bald darauf waren sie in ihrer Wohnung angelangt. Kurt ging sofort in die Küche und verbrannte die Papiere im Herd. Denn immerhin – man konnte nicht wissen, was geschah.

Stumm und trübe vor sich hin brütend, saßen die Geschwister in dem kleinen, ungemütlichen Wohnzimmer. Sie wussten nicht, was sie nun tun sollten, wussten nur, dass sie zu allem fähig gewesen wären, um sich das bedrohte Erbe zu retten. Denn sie befanden sich tatsächlich in einer ziemlich verzweifelten Lage.

***

Als Ruth Alving schneller, als sie geglaubt hatte, wieder nach Hause kam, trat ihr der alte Heinrich entgegen, der sein Nickerchen beendet hatte.

Sie gab ihm einige kleine Pakete und bat ihn, sie ins Wohnzimmer zu legen. Sie wollte nur schnell Hut und Mantel ablegen.

„Sind die Geschwister Bernd noch da, Heinrich?“, fragte sie.

„Nein, Fräulein Ruth, die sind vor etwa einer Stunde fortgefahren“, erwiderte er und wusste nicht recht, ob er Ruth erzählen sollte, was er belauscht hatte. Aber er schämte sich ein wenig seines Nickerchens und schwieg lieber.

„Und Herr Herfurt – ist der auch fortgegangen?“

„Das weiß ich nicht, Fräulein Ruth.“

Ruth nickte ihm zu.

„Ich werde nachsehen“, sagte sie.

Ruth begab sich durch das Speisezimmer in den gelben Salon, und als sie einen Blick hineingeworfen hatte, blieb sie einen Moment überrascht stehen. Drüben am Kamin stand ein Tischchen mit Mokkatassen, und daneben in einem Sessel saß Gert Herfurt … und schlief. Auf dem Boden lag eine halb aufgerauchte Zigarette.

Sie machte die Tür noch einmal auf, huschte hinaus und schlug die Tür fest ins Schloss. Nach einer Weile betrat sie dann das Zimmer noch einmal.

Gert war erwacht, aber er sah um sich, als wisse er nicht, wo er sich befand.

„Nun, Herr Herfurt, Sie haben wohl aus Langeweile ein Schläfchen gemacht?“, fragte Ruth scherzend.

Gert sah sie geistesabwesend an, aber dann ermannte er sich, mit allen Kräften gegen eine ihm ganz fremde Schlaftrunkenheit ankämpfend, und sprang auf.

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung, gnädiges Fräulein, aber ich weiß wirklich nicht, wie ich dazu gekommen bin, einzuschlafen. Und Sie sind schon wieder zurück? Wie lange habe ich denn dann geschlafen?“

Er fasste nach seiner Uhr und sah nach der Zeit. Er erinnerte sich, dass die Geschwister ihn um halb drei verlassen hatten. Und jetzt war es halb vier.

Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe fast eine volle Stunde fest geschlafen. Das begreife ich nicht. Nie in meinem Leben habe ich um diese Zeit geschlafen, und mein Kopf schmerzt zum Zerspringen.“

„Es ist eine sehr schwüle, beklemmende Luft hier im Zimmer, mir fiel es gleich auf, als ich eintrat. Wir wollen das Fenster öffnen.“

Und Ruth trat an das Fenster heran.

Gert Herfurt sah an sich herab, als fasse er noch immer nicht, dass er geschlafen hatte. Und da sah er die Zigarette am Boden liegen. Schnell hob er sie auf und legte sie in den Aschenbecher. Und dabei stieg ein seltsam schwüler Duft zu ihm auf. Er nahm die Zigarette nochmals aus dem Aschenbecher und hielt sie an seine Nase.

„Ein eigentümliches Aroma“, sagte er. „Die schlechte Luft im Zimmer scheint von der Zigarette herzurühren.“

Ruth lächelte.

„Es ist besser, wir verlassen jetzt das Zimmer, bis es ausgelüftet ist. Kommen Sie mit ins Wohnzimmer hinüber, Herr Herfurt, dort lasse ich Ihnen eine Tasse Tee servieren, zur Aufmunterung.“

„Wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisten, Fräulein Alving, nehme ich gern eine Tasse Tee.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, und Ruth rückte ein Tischchen zurecht.

Heinrich brachte den Tee. Ruth füllte die Tassen und bediente Gert mit Zucker.

Sie plauderten ruhig und unbefangen von allen möglichen Dingen. Und nach einer halben Stunde erhob sich Gert.

„Ich habe Sie schon allzu lange gestört, mein gnädiges Fräulein – vorläufig bin ich noch Gast in diesem Haus und habe mich schon ganz ungebührlich darin benommen, indem ich ein Mittagsschläfchen hier abhielt.“

„Hoffentlich haben Sie kein Kopfweh mehr.“

„Nein, es ist völlig verschwunden. Also, morgen Vormittag werde ich hier mit den Geschwistern Bernd wieder zusammentreffen. Sie waren wirklich sehr liebenswürdig, nachdem sie die Enttäuschung etwas verwunden haben. Vorher werde ich den Notar aufsuchen und ihm den Trauschein meiner Eltern vorlegen. Die Geschwister hätten ihn gern gesehen, aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn zu zeigen. Es ist ein so kostbares Dokument, und hier auf meiner Brust ruht es sicher und wohlgeborgen, bis ich es dem Notar übergebe.“

Dabei legte Gert seine Hand auf die Stelle, wo sonst die Brieftasche ruhte, und fuhr dann erschrocken, mit einem jähen Griff in die Brusttasche zurück. Sein Gesicht verfärbte sich. Er suchte alles ab und starrte Ruth entgeistert an.

„Was ist Ihnen, Herr Herfurt?“, fragte sie besorgt.

„Meine Brieftasche – meine Brieftasche mit dem Dokument ist verschwunden“, sagte er tonlos.

Sie sprang auf.

„Verschwunden? Wie ist das möglich? Sie werden sie doch nicht verloren haben?“

Er schüttelte benommen den Kopf.

„Nein, nein, ich hatte sie bestimmt noch, als ich zu den Geschwistern davon sprach, denn da fasste ich danach und fühlte sie noch am alten Platz. Und nun ist sie nicht mehr da.“

Eine Weile sahen sie sich ratlos an. Dann ermannte sich Ruth.

„Wenn Sie genau wissen, dass Sie die Tasche hier im Haus noch hatten, kann Sie Ihnen ja nur hier verloren gegangen sein. Wir müssen suchen, sie ist ihnen vielleicht entfallen. Ich will gleich Heinrich rufen, er soll uns suchen helfen.“

Und sie klingelte.

Nun trat Heinrich ein. Ruth erklärte ihm, was geschehen war, und bat ihn, suchen zu helfen.

„Bitte, beschreiben Sie uns die Brieftasche, Herr Herfurt“, bat sie. Gert tat es. Eine schlichte schwarze Kalbfelltasche, unten in der rechten Ecke ein rundes rotes Fleckchen in der Größe eines Kupferpfennigs.

Die drei Personen begannen nun zu suchen, im Wohnzimmer, im Vestibül, draußen im Garten und im Speisezimmer – überall, wo Gert heute gewesen war. Aber nirgends war die Brieftasche zu sehen.

Schließlich kamen sie auch in den gelben Salon, wo das Fenster noch offen stand. Die Mokkatassen und der Aschenbecher standen noch auf dem Tischchen.

Gert hatte während der ganzen Zeit darüber nachgedacht, wie und wo ihm die Brieftasche abhanden gekommen sein konnte. Und jetzt schoss ihm plötzlich ein Verdacht durch den Kopf. Es war ausgeschlossen, dass ihm die Brieftasche in wachem Zustand abhanden gekommen sein konnte – es musste geschehen sein, als er schlief. Er stand wie erstarrt und sah Ruth mit großen Augen an, während Heinrich das Fenster schloss. Dann nahm er den Aschenbecher auf, fasste mit spitzen Fingern nach dem Zigarettenrest und roch daran. Ruth sah ihn fragend an.

„Was ist Ihnen?“

Er fasste sich an die Stirn.

„Ein. Verdacht – vielleicht ein dummer, törichter Verdacht, aber … ich kann ihn nicht ohne weiteres von mir weisen. Ich bilde mir plötzlich ein, dass mein unfreiwilliger Mittagsschlaf mit dem Verschwinden meiner Brieftasche zusammenhängt.“

Ruth stand jetzt dicht vor ihm, und auch Heinrich kam herbei.

„Was meinen Sie, Herr Herfurt?“

Er sah in ihr blasses Gesicht.

„Fräulein Alving, ich möchte wetten, dass ich die Brieftasche noch bei mir trug, als ich mich hier hersetzte und einschlief. Warum ich einschlief, ist mir unerklärlich, aber … diese Zigarette hat einen seltsamen Geruch, was mir schon vorhin auffiel.“

Sie nickte, nachdem sie an der Zigarette gerochen hatte.

„Derselbe Geruch hing in dem ganzen Zimmer, als ich eintrat. Deshalb öffnete ich das Fenster.“

Gert rieb sich die Stirn.

„Diese Zigarette erhielt ich von Herrn Bernd. Und ich hatte sie kaum in Brand gesetzt, als Fräulein Bernd aufsprang und ihren Bruder an eine Verabredung erinnerte, von der sie vorher nichts erwähnt hatte. Sie verabschiedeten sich sehr eilig und liefen in großer Hast aus dem Zimmer. Schon da spürte ich diese mir sonst ungewohnte Schläfrigkeit. Ich bin dann eingeschlafen, aber ich war doch die ganze Zeit allein – oder?“

Heinrich hatte alles mit angehört und sagte nun hastig, mit allen Anzeichen großer Erregung: „Da muss ich etwas sagen, Herr Herfurt, was ich beobachtet habe.“

„Was denn, Heinrich?“

Der alte Diener erzählte nun, was er von seinem Erkereck aus beobachtet hatte.

Gert und Ruth hörten mit angespanntem Interesse zu und wurden immer erregter. Als Heinrich geendet hatte, sagte Gert heiser: „Es erscheint also zweifellos, dass ich das Opfer eines verbrecherischen Anschlags geworden bin, der auf großes Raffinement schließen lässt. Die Geschwister habe mich mit irgendetwas, wahrscheinlich mit der Zigarette, eingeschläfert, und mir dann die Brieftasche mit dem Dokument entwendet. Demnach bin ich nicht mehr imstande, mein Erbrecht geltend zu machen, und diese beiden Menschen werden sich das Erbe aneignen.“

Und er erzählte Ruth und Heinrich von dem Brand der Kirche und des Gemeindehauses von Longvillage.

„Hätte ich diese Teufelsbraten doch nur nicht entwischen lassen“, jammerte Heinrich. „Denn Gott gnade uns, wenn die hier an die Regierung kommen.“ Damit ging er bedrückt hinaus.

Ruth strich sich über die Stirn. „Was tun wir jetzt nur? Irgendetwas muss doch geschehen! Wollen Sie die Geschwister nicht aufsuchen und ihnen auf den Kopf zusagen, was sie getan haben?“

Gert sah starr vor sich hin.

„Und was würde ich damit erreichen? Sicher haben sie die Brieftasche mit Inhalt sofort vernichtet. Wenn ich es ihnen auch auf den Kopf zusage, sie würden doch leugnen. Beweisen könnte man es ihnen nur, wenn man die Brieftasche bei ihnen finden würde. Und das ist wohl ausgeschlossen. So raffinierte Verbrecher vernichten zuerst die Beweise. Wenn ich nur wüsste, ob sie den Trauschein auch wirklich gefunden haben!“

„Wie sollten sie nicht? Sie haben doch sicher sofort alle Papiere durchgesehen.“

Er sah sie nachdenklich an.

„Das Dokument befand sich nicht mit den anderen Papieren in der Brieftasche, sondern in einem Versteck, zwischen Futter und Oberleder eingenäht. Es wäre immerhin eine Möglichkeit, dass ihnen dieses Versteck entgangen wäre. Wenn ich das nur ergründen könnte!“

„Aber – wie soll man das ergründen?“, fragte Ruth bang, mit blassem Gesicht.

Er nahm ihre Hand.

„Wenn Sie wüssten, wie wohl mir Ihre Teilnahme tut! Es könnte mich fast mit meinem Verlust aussöhnen.“

Sie atmete verzagt. „Sind Sie nun sehr unglücklich, wenn Ihnen das Erbe verloren gehen würde?“

Er sah ihr tief in die Augen. „Unglücklich? Unglücklich würde ich sein, wenn Sie mir gleichgültig gegenüberstehen würden – oder wenn ich plötzlich außerstand wäre, mein Brot selber zu verdienen. Nein, unglücklich macht es mich nicht, denn ich bin jung und gesund und kann arbeiten. Wenn ich den Verlust des Erbes trotzdem beklage, so geschieht es hauptsächlich darum, weil ich ohne Erbschaft nicht so imstande sein werde, der Frau, die ich heimführen möchte, ein sorgloses Leben zu bereiten wie mit der Erbschaft.“

Ruth wurde sehr bleich und sah ihn unruhig forschend an.

„Sie sind verlobt?“, fragte sie leise.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Verlobt? Nein, Fräulein Ruth. Bis vor ganz kurzer Zeit habe ich nie daran gedacht, mich an eine Frau fürs ganze Leben zu binden. Aber zuweilen kommen solche Gedanken über Nacht. Und ich gestehe, dass ich mich damit befasst habe, seit mir an einem sonnigen Wintertag ein, frühlingshaftes Glück mit goldenem Haar und blauen Augen über den Weg lief. Was meinen Sie, Fräulein Ruth, ob mein blondes Glück auch einem armen, vermögenslosen Mann folgen würde in ein sehr, sehr bescheidenes Dasein, aus dem ich nicht immer die Sorgen werde verscheuchen können?“

Sie war unter seinen Worten tief erglüht. Deutlicher als seine Worte sprachen seine Augen, die sich in die ihren senkten. Es jubelte und jauchzte in ihrem Herzen.

„Ich glaube es bestimmt“, erwiderte sie innig.

Er zog ihre beiden Hände an seine Lippen.

„Ruth, liebe Ruth, nun bin ich so glücklich, dass es mich kaum noch berühren kann, ob ich erben werde oder nicht. Aber kampflos werde ich den Verbrechern ihre Beute trotzdem nicht überlassen.“

„Was wollen Sie tun?“

„Es ist mir noch nicht ganz klar.“

„Aber Sie begeben sich nicht in Gefahr?“, fragte sie angstvoll.

„Nein, nein, fürchten Sie nichts! Ich weiß ja nun, mit wem ich es zu tun habe. Aber sollten Sie morgen merken, dass die Geschwister wieder mit mir allein sein wollen, so legen Sie ihnen bitte keine Hindernisse in den Weg! Ich könnte vielleicht das Alleinsein mit den beiden sehr nötig brauchen.“

Sie nickte und atmete zitternd auf.

„Hüten Sie sich nur vor diesen Menschen! Mir ist so bange vor ihrer Schlechtigkeit. Immer habe ich sie schon zu allem Schlechten fähig gehalten, und leider habe ich mich nicht getäuscht.“

„Es ist ein wohliges Gefühl für mich, dass Sie sich um mich bangen. Aber seien Sie unbesorgt! Jetzt kenne ich ja meine Gegner und werde gewappnet sein.“

***

Am nächsten Morgen suchte Gert, ehe er nach der Villa Bernd hinausfuhr, Dr. Jungmann auf. Er berichtete ihm, was am Vortag geschehen war. Dr. Jungmann hörte aufmerksam zu. Als Gert ihm schließlich enthüllte, auf welche Weise er in Erfahrung bringen wollte, ob die Geschwister das Dokument wirklich entdeckt hatten, lachte der Notar auf.

„Famos! Ich bin sehr gespannt, ob die Geschwister Ihnen in die Falle gehen.“

„Ich hoffe es.“

Gert verabschiedete sich dann und fuhr nach der Villenkolonie hinaus. Im Vestibül kam ihm Ruth entgegen.

„Sind die Geschwister schon hier“, fragte er, nachdem er Ruth begrüßt hatte.

„Vor zehn Minuten sind sie gekommen.“

Seine Augen blitzten.

„Und haben Sie etwas Besonderes an ihnen bemerkt?“

„Sie scheinen ziemlich deprimiert zu sein.“

Gert sah sie nachdenklich an.

„Also haben sie das Dokument nicht gefunden. Das schließt aber nicht aus, dass sie die Brieftasche samt dem Trauschein vernichtet haben. Aber ich hoffe, bald alles, was ich wissen möchte, in Erfahrung zu bringen. Wenn irgend möglich, speise ich auch heute mit den Geschwistern zusammen. Es liegt mir daran, dieselbe Szenerie wie gestern herzustellen. Bitte, Fräulein Ruth, halten Sie sich ganz zurück, wie gestern auch. Und Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie sich heute nach Tisch, sobald wir das Speisezimmer verlassen haben, in dem Erkereck verstecken würden, wo Heinrich gestern sein Mittagsschläfchen hielt. Ihre jungen Augen und Ohren sind schärfer als die Heinrichs. Mir liegt daran, Zeugen in der Nähe zu haben. Ich hoffe und setze voraus, dass ich heute noch einmal mit einer Zigarette in ein unfreiwilliges Mittagsschläfchen versenkt werde.“

Ruth sah ihn erschrocken an.

„Sie wollen sich doch nicht noch einmal betäuben lassen?“

Er drückte ihre Hand.

„Seien Sie außer Sorge, diesmal wird es mir bestimmt nicht schaden!“

Und ihr zunickend, ging er schnell davon. Scheinbar unbekümmert trat er in das Zimmer, wo sich die Geschwister befanden. Sie sahen ihm gespannt entgegen.

„Guten Morgen, meine verehrten Herrschaften! Ich bitte um Verzeihung, wenn ich etwas warten ließ. Aber mir scheint, die deutsche Luft macht mich zum Langschläfer. Denken Sie, gestern, als Sie mich verlassen hatten, bin ich hier eingeschlafen, habe eine volle Stunde wie ein Murmeltier geschlafen, bis Fräulein Alving kam und mich weckte. Ich habe mich herzhaft geschämt, aber ich kann nichts dafür. Der Luftwechsel muss wohl schuld sein“, plauderte er.

Ein wenig kokett sah Lena zu ihm auf. „Im Übrigen scheint Ihnen aber die deutsche Luft gut zu bekommen. Sie sehen sehr gut gelaunt aus.“

Gert merkte sehr wohl, dass hinter ihrem koketten Wesen etwas anderes lauerte. Auch merkte er, dass Kurt ihn forschend ansah.

„O ja, ich bin auch gut gelaunt, obwohl ich einen Verlust hatte. Aber bei allem Pech hatte ich so viel Glück, dass ich sehr froh sein kann.“

„Darf man fragen?“, sagte Lena neckend.

Er ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel nieder.

„Gewiss, gnädiges Fräulein. Also – auf unerklärliche Weise ist mir gestern eine alte Brieftasche verloren gegangen. Ich trage nämlich immer zwei Brieftaschen bei mir. Die eine enthält den Trauschein meiner Eltern und andere wichtige Papiere. In der anderen verwahre ich meine Geschäftsbriefe. Zum Glück habe ich nur diese unwichtige Brieftasche verloren.“

Lena sah Gert mit einem starren Blick an.

„Also die richtige Brieftasche mit dem Dokument besitzen Sie noch? Da können Sie sehr froh sein, und Sie haben wirklich Veranlassung zu guter Laune.“

„Nicht wahr?“, fragte Gert und drückte ostentativ auf seine Brusttasche. „Bedenken Sie, ich wäre nicht imstande, mein Erbrecht nachzuweisen, wenn mir das Dokument abhanden gekommen wäre. Ich bin auch immer doppelt vorsichtig damit und trage diese wichtige Brieftasche nicht im Rock wie die anderen, sondern innen in der Weste, wo ich mir eine Tasche habe anbringen lassen. Da kann sie so leicht kein Dieb finden.“

„Nun, man soll nichts berufen.“

Gert lachte genauso forciert wie Lena und ihr Bruder. Aber er las in ihren blassen, verzerrten Gesichtern wie in einem aufgeschlagenen Buch. Er gab sich aber scheinbar ganz harmlos, und als Lena ihn aufforderte, zu Tisch zu bleiben, sagte er leichthin: „Herzlich gern, gnädiges Fräulein. Nur – wird es Fräulein Alving nicht zu viel, schon wieder Gäste zu bewirten?“

Lena lachte laut auf.

„Haben Sie eine Ahnung von der Speisekammer in der Villa Bernd! Unser Großoheim war ein guter Wirtschafter und hat reichlich Vorräte einkaufen lassen. Fräulein Alving hütet sie zwar wie Fafner den Nibelungenschatz. Die Köchin ist jedoch zugänglicher, die freut sich, wenn sie etwas Gutes auf den Tisch bringen darf.“

***

Es war alles wie gestern. In scheinbar bester Stimmung. nahmen die drei Menschen die Mahlzeit ein, und nur ein sehr genauer Beobachter hätte gemerkt, dass Kurt Bernd nervös mit seinem Brot spielte und dass Lenas Augen unruhig flackerten. Nachdem man das Mahl eingenommen hatte, begab man sich in den gelben Salon. Noch während Heinrich im Speisezimmer Ordnung schaffte, huschte Ruth hinter den Vorhang im Erker.

Als das Speisezimmer in Ordnung gebracht und der Mokka serviert war, folgte Heinrich Ruth in den Erker, wo sie beide in atemloser Unruhe warteten, was geschehen würde.

Im gelben Salon plauderte Lena sehr angeregt mit den beiden Herren. Aber dann mahnte sie ihren Bruder, dass sie nun nach Hause fahren müssten.

Kurt nickte.

„Ja doch, Lena. Es ist schade, dass wir fort müssen, hier ist es so gemütlich. Lass mir wenigstens noch Zeit, eine Zigarette anzuzünden. Bitte, bedienen auch Sie sich, Herr Herfurt – und dann überlasse ich Sie neiderfüllt Ihrer Siesta.“

Er hielt Gert das Zigarettenetui hin. Er bediente sich, ließ jedoch die Zigarette fallen, und während er sie aufhob, vertauschte er sie schnell mit einer anderen, die er bereitgehalten hatte, und ließ die von Kurt in seiner Rocktasche verschwinden.

Sie zündeten sich nun beide ihre Zigarette an und verabschiedeten sich voneinander. Gert ließ sich in denselben Sessel nieder, in dem er gestern gesessen hatte und sagte schläfrig: „Ich bin wahrhaftig schon wieder müde. Diesen Burgunder möchte ich nicht alle Tage trinken, da könnte ich nicht arbeiten.“

Kurt lachte heiser auf. „Das übt sich mit der Zeit. Auf Wiedersehen, Herr Herfurt!“

„Auf Wiedersehen!“, rief auch Lena und verließ mit ihrem Bruder das Zimmer. Drüben saß Ruth mit Heinrich auf dem Posten, und sie beobachteten durch den Vorhangspalt die Geschwister. Sie sahen, wie sie eine Weile abwartend stehen blieben. Kurt drückte seine Zigarette aus und steckte sie zu sich. Er sah fahl aus, und seine Zähne knirschten aufeinander.

Lena zerrte nervös an ihren Handschuhen und sah immer wieder nach ihrer Armbanduhr.

Dann sagte sie leise, aber so, dass es die beiden Lauscher verstehen konnten: „Es ist so weit, du kannst hineingehen.“

Kurt schlich an die Tür heran, und Lena folgte ihm. Er beugte sich zum Schlüsselloch hinab und richtete sich nach einer Weile wieder empor.

„All right, er schläft“, sagte er befriedigt. Leise öffnete er die Tür.

Er warf einen scharfen Blick auf den fest schlafenden Gert und ging nun dicht an ihn heran. Vorsichtig öffnete er erst den Rock und dann die Weste. Er suchte im Innern der Weste nach der Tasche, von der Gert gesprochen hatte, und fand sie auch. Sorgsam zog er sie heraus. Er legte sie neben sich auf das Tischchen und knöpfte nun erst wieder Rock und Weste zu. Dann wandte er sich zum Gehen.

In diesem Moment sprang Gert empor, fasste nach seinem Revolver, den er zu sich gesteckt hatte, und rief mit scharfer Stimme: „Halt! Hände hoch!“

Kurt streckte nun die Arme empor. In der einen Hand hielt er krampfhaft die Brieftasche.

Nun trat Gert näher zu ihm heran.

„So, mein verehrter Herr Bernd, nun können wir uns in aller Ruhe unterhalten. – Hallo! Fräulein Alving! Heinrich!“

Laut und deutlich drang seine Stimme zu den Lauschenden im Nebenzimmer.

Ruth kam mit fliegenden Schritten herbei und atmete auf, als sie Gert heil und unversehrt vor sich sah. Heinrich folgte ihr.

„Fräulein Alving, verzeihen Sie, wenn ich Sie in eine sehr ungewöhnliche Situation verwickle“, sagte Gert ruhig. „Ich bat Sie, sich mit Heinrich im Erker des Speisezimmers zu verstecken und auf meinen Ruf zu achten, weil ich Zeugen brauche. Da – sehen Sie sich Herrn Bernd an! Er hat mich heute zum zweiten Mal beraubt. In seiner Hand befindet sich, wie Sie sehen, meine Brieftasche, die er mir aus meiner Westentasche entwendet hat. Er hatte mich gestern mit einer Zigarette betäubt, die ein starkes Narkotikum enthielt. Heute bot er mir wieder eine solche Zigarette an. Gestern bin ich arglos in die Falle gegangen. Heute war ich gewarnt. Ich habe die betäubende Zigarette ausgetauscht. Sie befindet sich hier in meiner Rocktasche; ich werde sie dem Gerichtschemiker vorlegen. Und nun, Heinrich, nehmen Sie, bitte, Herrn Bernd mein Eigentum ab!“

Heinrich tat, wie ihm Gert geheißen hatte.

Gert steckte seine Brieftasche zu sich.

„So, Herr Bernd. Und nun werden Sie mir sagen, wo Sie die andere Brieftasche, die Sie mir gestern raubten, gelassen haben. Wenn Sie mir das nicht wahrheitsgemäß mitteilen, müssen Sie es vor Gericht tun.“

Kurt Bernd und seine Schwester hatten wie erstarrt dagestanden. Zu sicher hatten sie sich gefühlt, zu fest hatten sie daran geglaubt, dass ihnen ihr Bubenstück zum zweiten Mal gelingen würde.

Kurt atmete zitternd auf.

„Also, ja, ich habe Ihnen gestern die Brieftasche entwendet – ich wollte das Dokument vernichten, das meine Schwester und mich der Armut, der Not und Sorge preisgeben musste. Wir haben jahrelang auf das Erbe gehofft, haben damit gerechnet und unsere ganze Lebensführung darauf eingestellt. Und nun sollten wir leer ausgehen. Das wollten wir nicht, und deshalb beschlossen wir, Ihnen den Trauschein Ihrer Eltern zu rauben, ohne den Sie das Erbe nicht zugesprochen erhalten. Wir wollten ihn vernichten. Noch im Wagen habe ich die Brieftasche entleert und aus dem Wagenfenster geworfen, etwa zehn Minuten von hier entfernt, in dem kleinen Gehölz an der Fahrstraße. Die Papiere habe ich durchgesehen und gemerkt, dass der Trauschein nicht darunter war. Ich habe sie zu Hause verbrannt. Als Sie uns nun heute erzählten, dass wir die falsche Brieftasche genommen hatten, da habe ich beschlossen, Ihnen die richtige abzunehmen. So, nun wissen Sie alles, nun lassen Sie uns gehen!“

Gert war zusammengezuckt, als. Kurt davon sprach, dass er die Brieftasche aus dem Wagen geworfen hatte. Und Lena hatte dieses Zusammenzucken bemerkt. Jetzt wandte sich Gert an Lena.

„Hat Ihr Bruder die Wahrheit gesagt? Ich behalte mir alles Weitere vor, wenn ich entdecke, dass er gelogen hat.“

„Er sprach die Wahrheit“, sagte sie trotzig.

„Es ist gut! Ich werde Ihre Angaben nachprüfen. Vorläufig können Sie sich entfernen – Sie haben bis auf weiteres hier nichts mehr zu suchen.“

Kurt und Lena beeilten sich, das Zimmer zu verlassen. Wie ein geprügelter Hund schlich Kurt davon; Lena schritt mit trotzig zurückgeworfenem Haupt neben ihm her, und ihre Blicke verrieten einen unbändigen Hass auf Gert … und auf Ruth Alving.

Heute vergaßen sie sogar, nach dem Auto zu rufen. Zu Fuß gingen sie davon.

Als Kurt von der Fahrstraße abbiegen und auf dem Fußweg nach der Elektrischen gehen wollte, hielt ihn seine Schwester an.

„Lass uns den Fahrweg weitergehen, wir wollen sehen, ob wir die Brieftasche nicht wiederfinden.“

„Wozu das?“, fragte er mürrisch.

Sie sah ihn mit blitzenden Augen an.

„Weil diese angeblich leere Brieftasche doch der Behälter für das Dokument sein muss. Hast du nicht gemerkt, wie er zusammenzuckte, als du sagtest, dass du sie aus dem Wagen geworfen hast? Und wie interessiert er sich erkundigte, wo wir sie hinausgeworfen haben! Es ist mir wie ein Blitz gekommen, dass er heute die ganze Sache nur inszenierte, um von uns zu erfahren, wo die Brieftasche geblieben ist. Vielleicht hat die Brieftasche ein Geheimfach, das du übersehen hast. Hättest du sie nur nicht hinausgeworfen! Jedenfalls lass uns suchen, ob wir sie nicht wiederfinden. Komm schnell! Ich vermute, Herfurt wird auch bald hier erscheinen.“

Kurt folgte nun willig der Schwester, und sie gingen in das Gehölz und suchten eifrig nach der Tasche. Aber so sehr sie auch suchten, sie fanden die Brieftasche nicht.

„Sie muss bereits von jemand anderem gefunden worden sein“, sagte Lena wütend. –

Ihre Vermutung war richtig. Der glückliche Finder war der Laufbursche Max Reichert. Er hatte zu der Zeit, da gestern Kurt und Lena mit der geraubten Brieftasche davonfuhren, Waren in der Villa Bernd abgeliefert. Auf dem Rückweg war er durch das Gehölz gegangen, seinen Korb am Arm, und vergnügt vor sich hin pfeifend, obwohl er in seiner Jacke erbärmlich fror.

Ruth hatte ihm die versprochenen Sachen noch nicht ausgeliefert, und heute, als er kam, war sie nicht zu Hause gewesen.

Als Max Reichert nun vergnügt durch das Gehölz schritt, blieb er plötzlich lachend stehen und schaute auf ein Gestrüpp am Weg.

„Wat für’n Vogel wippt denn da mang die Zweige? Det is’ doch wahrhaftig ’ne lederne Brieftasche“, sagte er vor sich hin.

Und seinen Korb niedersetzend, holte er die Brieftasche aus dem Gestrüpp.

Sie genau besichtigend, fuhr er in seinem Selbstgespräch fort: „Hm! Is’ noch janz jut. Det Leder is’ fest, und sie sieht noch janz reputierlich aus, bis uff det rote Fleckchen. Schade, det nich’ so ’n paar Dollar drin stecken von ’n valutastarken Ausländer, die hätt’ ick jut brauchen können – un’ Mutter ooch. Na, wat so ’n echter Berliner Junge is’, der muss dem lieben Jott für allens danken. Ick kann ihr sehr jut jebrauchen, meine olle Tasche is’ man schonst sehr altersschwach.“ Und schmunzelnd steckte er die Brieftasche ein.

***

Als die Geschwister Bernd die Villa verlassen hatten, standen sich Ruth, Gert und der alte Diener eine Weile stumm gegenüber. Dann atmete Gert tief auf.

„Eine vornehme Gesellschaft, diese Geschwister Bernd! Es ist ein erhebender Gedanke für mich, dass sie mit mir verwandt sind.“

Ruth strich sich über die Augen und schauerte zusammen.

„Es war eine furchtbar peinliche Situation.“

Besorgt sah Gert sie an. „Haben Sie sich aufgeregt, Fräulein Ruth? Ich muss Sie um Verzeihung bitten, dass ich Sie hineinzog. Aber Zeugen brauchte ich, um diese Menschen einzuschüchtern, und außer Ihnen und Heinrich wusste ich niemand hier im Haus, auf dessen Schweigen ich bauen konnte.“

„Sie werden die Verbrecher doch anzeigen, gnädiger Herr?“, fragte Heinrich empört.

Gert schüttelte den Kopf. „Mir lag nicht so viel daran, sie zu überführen, als daran, sie zu einem Geständnis zu bringen, was sie mit meiner Brieftasche gemacht haben. Ich weiß nun, dass sie wenigstens nicht verbrannt ist. Eine entfernte Möglichkeit, sie wiederzuerlangen, besteht also immerhin noch. Vor allen Dingen muss ich jetzt in das beschriebene Gehölz gehen und den Fahrweg absuchen.“

Heinrich fuhr auf.

„Dann tun Sie es nur gleich, gnädiger Herr, denn wenn die Geschwister ihren Schrecken verwunden haben, suchen sie am Ende selbst nach der Tasche.“

„Lassen Sie uns mitgehen, Herr Herfurt!“, bat Ruth. „Sechs Augen sehen mehr als zweit.“

„Wollen Sie sich wirklich die Mühe machen?“

„Selbstverständlich!“

So machten sich die drei Personen auf den Weg.

Natürlich fanden auch sie die Brieftasche nicht, und da nun die Dunkelheit herniedersank, mussten sie erfolglos nach der Villa Bernd zurückkehren.

„Sie müssen unbedingt ein Inserat in die Zeitung rücken lassen, Herr Herfurt. Setzen Sie eine Belohnung aus! Vielleicht erhalten Sie dann doch die Brieftasche zurück“, sagte Ruth.

Gert sah nicht sehr hoffnungsfroh aus.

Ruth fasste seine Hand.

„Seien Sie ein wenig zuversichtlich! Der liebe Gott wird schon helfen, dass Sie zu Ihrem Recht kommen.“

Er küsste ihre Hand: „Sie liebe Trösterin! Also, ich lasse morgen das Inserat einrücken, und dann will ich Dr. Jungmann aufsuchen und ihm alles berichten. Wahrscheinlich wird er mich nach England schicken, damit ich in Longvillage Nachforschungen anstelle. Vielleicht, dass ich doch auf irgendeine Art Beweise beschaffen kann, dass meine Mutter die Tochter von Rochus Bernd war.“

„Würden Sie diese Reise bald antreten?“

„Wahrscheinlich sofort, denn wenn etwas geschehen soll, muss es gleich geschehen. Darf ich in dem Inserat bemerken, dass die Brieftasche in der Villa Bernd abgegeben werden soll? Würden Sie sie in Empfang nehmen?“

„Aber selbstverständlich.“

Wieder küsste er ihre Hand.

„Sie sind so lieb und gut! Wie froh bin ich, wie glücklich, dass ich Sie gefunden habe, Ruth!“ Als Gert sich dann verabschiedete, sagte er, ihre beiden Hände mit einem fast schmerzhaften Druck umschließend: „Vielleicht sehe ich Sie nicht noch einmal wieder, ehe ich nach England reise. Aber ich werde mich beeilen, so sehr ich kann, um bald wiederzukommen. Nur der Gedanke, dass die Geschwister Bernd fürs erste eingeschüchtert sind, wird mich darüber beruhigen, dass ich Sie allein zurücklassen muss. Sicher werden sich die Geschwister jetzt nicht mehr in der Villa Bernd sehen lassen. So vermeiden Sie es, mit ihnen allein zu bleiben. Lassen Sie sich auf nichts ein, und benehmen Sie sich ganz so, als wenn Sie von dem rechtmäßigen Erben hier als Hausverwalterin mit allen Rechten eingesetzt sind. Alles andere wird dann geregelt, wenn ich wiederkomme.“

Ihre Augen schimmerten feucht. „Ich werde nur in Ihrem Sinn handeln und danke Ihnen, dass Sie so besorgt um mich sind.“

Er zog sie dicht an sich heran. „Ruth, liebe Ruth, nicht wahr, Sie wissen, fühlen, was Sie mir sind? Denken Sie immer daran, dass Sie mein kostbarstes Gut sind. Und … geben Sie mir den Trost mit auf den Weg, dass, was auch kommen mag und was uns die Zukunft auch bringt, unser Weg ein gemeinsamer sein wird.“

Sie war glühend rot geworden, sah ihn aber mit strahlenden Augen an.

„Sie wissen es, müssen es wissen, Gert Herfurt, dass mir keine Zukunft schön und lebenswert erscheinen wird, in der ich Sie nicht finde.“

Er atmete tief auf „Gott helfe mir, dass ich Ihnen eine frohe Zukunft schaffen kann. Mehr will ich nicht sagen. Ehe nicht alles klar ist um mich, darf ich Sie nicht an mich fesseln. Aber wissen sollen Sie, dass ich Sie liebe – unsagbar liebe. Leben Sie wohl, Ruth, und Gott mit Ihnen!“

Ihre Augen glänzten in Tränen. „Leben Sie wohl, und kommen Sie gesund wieder!“

Am nächsten Morgen gab Gert zunächst ein Inserat folgenden Inhalts auf:

Fünftausend Mark Belohnung!

Brieftasche, schwarz, Kalbleder, braunes Futter, roter runder Fleck in rechter unterer Ecke, verloren gegangen. Ehrlicher Finder erhält obige Belohnung in Villa Bernd, Grunewald, wenn Tasche unversehrt abgegeben wird.

Als er das Inserat aufgegeben hatte, ging er zu Dr. Jungmann und berichtete ihm, was geschehen war.

Der Notar hörte ihm aufmerksam zu, und als Gert zu Ende war, sagte er lebhaft: „Solche Gauner! Es freut mich, dass sie Ihnen in die Falle gegangen sind. Sie wissen nun wenigstens, dass die Brieftasche noch nicht vernichtet ist. Wo und wie sie existiert, ist freilich ein Rätsel. Aber vielleicht hat Ihr Inserat doch Erfolg. Diese Hoffnung ist freilich schwach, und ich würde Ihnen raten, auf alle Fälle so schnell wie möglich nach Longvillage zu reisen und zu ergründen, ob die Trauzeugen Ihrer Eltern noch existieren. Kennen Sie ihre Namen?“

„Nein, leider nicht.“

„Hm! Na, Longvillage kann ja nur ein kleines Dorf sein, wo sich Erinnerungen lange frisch erhalten. Und wenn Sie von Haus zu Haus gehen müssten – vielleicht finden Sie die Zeugen doch. Inzwischen bereite ich hier alles vor. Jetzt ist es eine besondere Ehrensache für mich, Ihre Angelegenheit zu vertreten.“

Gert dankte ihm und verabschiedete sich. Er hatte noch einiges zu besorgen und traf dann im Hotel seine Reisevorbereitungen.

Nach der Villa Bernd konnte er nicht noch einmal hinausfahren. Aber er schrieb einige Zeilen an Ruth, ehe er am nächsten Morgen abreiste. Sie sollte wenigstens Nachricht von ihm haben.

***

Kurt und Lena Bernd verlebten den Tag nach ihrer Entlarvung in einer sehr trüben Stimmung. Sehr zeitig gingen sie zur Ruhe.

Am nächsten Morgen saßen sie sich verdrießlich am Frühstückstisch gegenüber. Lena blätterte in der Zeitung, während Kurt stumpfsinnig vor sich hinstarrte. Plötzlich stutzte sie.

„Du, Kurt!“

„Was denn?“

„Sieh mal hier – das Inserat!“

Sie schob ihm die Zeitung hin.

Als Kurt das Inserat gelesen hatte, sah er seine Schwester an.

„Nun, was ist damit?“

„Herrgott, Kurt, sei doch nicht so begriffsstutzig! Was ist damit? Verstehst du das nicht? Er hat die Brieftasche so wenig gefunden wie wir. Und er will es sich fünftausend Mark kosten lassen, diese leere Brieftasche zurückzuerhalten. Wetten, dass der Trauschein doch noch drinsteckt?“

„Nun ja, aber wir haben die Brieftasche nun mal nicht.“

Sie tippte sich an die Stirn. „Deine Begriffsstutzigkeit kann Balken biegen. Verstehst du nicht – wir haben das Dokument nicht, aber er hat es auch nicht. Und das ist der Haken, an den wir uns klammern können.“

Lena sah starr und nachdenklich vor sich hin. Ihre schwarzen Augen bekamen ein raubtierähnliches Funkeln. So saß sie lange Zeit. Und dann sprang sie mit einem Satz auf und nahm das Telefonbuch aus dem Schreibtisch. Sie suchte nach einer Adresse.

„Was willst du tun, Lena?“

„Im Hotel anfragen, ob Herfurt dort ist.“

„Nun – und?“

„Wenn er im Hotel ist, kann er nicht in der Villa Bernd sein.“

Sie klingelte im Hotel Exzelsior an.

Als sie Verbindung hatte, sagte sie: „Hier Villa Bernd. Ist Herr Herfurt anwesend?“

„Nein, Herr Herfurt ist soeben abgereist nach England. Ist dort ein Fräulein Ruth Alving am Apparat?“

Lena besann sich nicht lange.

„Jawohl, hier ist Ruth Alving.“

„Herr Herfurt hat einen Brief für Sie hinterlassen, Fräulein Alving. Er ist an die Villa Bernd adressiert, und ich soll ihn zur Post geben.“

„Nein, bitte nicht – das … Es dauert so lange mit der Post. Bitte, halten Sie ihn zurück! Ich hole ihn mir gleich selbst ab.“

„Sehr wohl, Fräulein Alving.“

Aufatmend hing Lena den Hörer hin und sah ihren Bruder triumphierend an.

„Ein bisschen Glück haben wir doch noch, Kurt! Herfurt ist nach England abgereist, das heißt, dass für uns die Bahn frei ist zu der Villa Bernd.“

„Du hättest den Mut, hinauszugehen?“

Sie richtete sich auf.

„Warum nicht? Mit Herfurt möchte ich freilich nicht zusammentreffen, deshalb fragte ich an, ob er im Hotel ist. Aber nun ist er gar nach England gefahren. Mir scheint, das ist ein gutes Zeichen für uns. Und, das allerbeste – man hielt mich am Telefon für die Alving und verriet mir, dass von Herfurt ein Brief für sie hinterlassen wurde. Ich sagte, dass ich ihn abholen würde, und das werde ich sofort tun.“

„Was willst du mit dem Brief?“

Sie lachte hart auf.

„Kurt, du bist wirklich nicht sehr intelligent. Bedenke doch, aus diesem Brief können wir vielleicht mancherlei erfahren; was uns nützlich sein kann.“

Lena machte sich nun hastig zum Ausgehen fertig, warf ihren schwarzen Plüschmantel über und drückte ein schwarzes Hütchen auf das nachlässig frisierte Haar.

Eine Stunde später war sie wieder daheim und schwang triumphierend einen Brief.

„Das Telefon ist doch eine famose Erfindung, Kurt!“

Vorsichtig öffnete sie den Brief und las ihrem Bruder das Schreiben vor. Es lautete:

„Liebes, teures Fräulein Ruth!

Es ist mir leider nicht möglich gewesen, noch einmal zu der Villa Bernd hinauszukommen, denn Dr. Jungmann hält es für notwendig, dass ich sogleich nach Longvillage reise, um Nachforschungen anzustellen.

Ich habe wenig Hoffnung, dass meine Brieftasche mit dem Trauschein meiner Eltern mir zurückgebracht wird, trotz der hohen Belohnung. Es ist auch fraglich, ob das zwischen Futter und Oberleder steckende Dokument noch leserlich ist. Die Brieftasche braucht nur stark durchnässt worden zu sein.

So will ich für alle Fälle doch noch mein Glück in Longvillage versuchen. Vielleicht kann ich wirklich einen Zeugen auftreiben, der die Ehe meiner Eltern bestätigt. Wenn auch das vergeblich ist, will Dr. Jungmann es notfalls auf einen Prozess ankommen lassen, in dem wir die Geschwister Bernd des Raubes anklagen, wobei Sie und Heinrich zeugen müssten. Aber nach reiflicher Überlegung habe ich den Entschluss gefasst, das nicht zu tun. Meines Großvaters Name soll nicht verunglimpft werden. Das einzige, wozu ich mich schlimmstenfalls herbeilassen werde, ist, dass wir die Geschwister zu einem Vergleich zwingen. Unangenehm wäre mir auch dieses Vorgehen, aber ich denke an Sie, liebste Ruth, und daran, dass ich ein Recht an das Erbe habe.

Ich bin jedenfalls froh, dass ich die Geschwister durch die Drohung, eine Anzeige zu erstatten, eingeschüchtert habe. Sie werden es nicht wagen, Feindseligkeiten gegen Sie zu begehen. Und hoffentlich wirkt es wenigstens solange nach, bis ich zurückkomme.

Ich küsse Ihre lieben Hände und sage Ihnen: Auf Wiedersehen.

Ihr Gert Herfurt“

Lena lachte hässlich auf.

„Nun also, dieser Brief ist ein kostbarer Fund für uns. Er verrät uns alles, was wir wissen müssen. Wenn uns das Glück nur ein wenig hold ist, wird die Erbschaft doch uns gehören, mindestens aber zur Hälfte. Unsere größte Sorge muss jetzt sein, zu verhindern, dass die Brieftasche, wenn sie wirklich in der Villa Bernd abgegeben wird, in andere Hände als die unseren fällt. Nun mach dich schnell fertig. Ich bringe diesen Brief wieder in Ordnung und gebe ihn zur Post. Es ist besser, wenn ihn die Alving erhält. Für sie ist er ja nicht so wertvoll wie für uns.“

***

Ruth Alving erschrak nicht wenig, als die Geschwister Bernd wieder auftauchten und sich mit einer selbstverständlichen Unverfrorenheit in der Villa Bernd breit machten.

Am meisten hielten sich die Geschwister im Wohnzimmer auf, das an das Vestibül anstieß, und einer von ihnen saß immer am Fenster. Den Weg vom Gartentor bis zum Portal des Hauses hatten sie unter ständiger Kontrolle. Es konnte kein Mensch ins Haus gelangen, der nicht vor ihren Augen Revue passieren musste.

Auf das Inserat hatte sich bisher noch niemand gemeldet, und nun war kaum noch eine Hoffnung, dass irgendwer die Brieftasche ablieferte. Entweder hatte sie niemand gefunden, oder der Finder hatte das Inserat nicht gelesen.

Eines Vormittags befanden sich die Geschwister wieder im Wohnzimmer. Kurt hatte am Kamin Platz genommen, in dem ein helles Feuer brannte. Lena saß am Fenster auf Wachtposten und langweilte sich. Plötzlich aber richtete sie sich auf. Sie sah, dass draußen am Gartentor jemand Einlass begehrte. Es war der Laufbursche Max Reichert, der Waren abzuliefern hatte.

Als die Gartenpforte aufsprang, trat Max Reichert ein und stampfte auf dem schneebedeckten Weg nach der Hinterpforte der Villa. Der alte Heinrich öffnete ihm die Tür, aber schon war Lena hinausgeeilt und stand neben ihm.

„Was wollen Sie?“, examinierte sie den Laufburschen.

Max Reichert sah sie unerschrocken an.

„Wat werd’ ick wollen, Fräuleinchen, ick bringe Kolonialwaren. Herr Heinrich, is’ Fräulein Alving da? Ich möchte ihr gern fragen, ob sie mich die Sachen schon injepackt hat, die sie mich versprochen hat. Et is’ ’ne Hundekälte heute.“

„Liefern Sie die Waren in der Küche ab, Max, ich sage inzwischen Fräulein Alving Bescheid, damit Sie die versprochenen Sachen bekommen, sie liegen schon zurecht“, sagte Heinrich.

„Au, fein! Denn will ick mir tummeln. Wo soll ick nachher hinkommen?“

Hier griff Lena ein. „Was will der Junge für Sachen haben, Heinrich?“

In diesem Moment kam Ruth herbei. Sie hörte Lenas Frage.

„Es handelt sich um abgelegte Anzüge und Mäntel von Onkel Rochus, die ich dem Burschen versprochen habe.“

Lena maß Ruth mit misstrauischen Blicken.

„Ist es nicht sehr anmaßend von Ihnen, dass Sie Kleider unseres Großoheims nach Ihrem Belieben verschenken?“

Ruth blieb ganz ruhig, während Max das schwarze Fräulein mit wenig liebevollen Blicken betrachtete.

„Sie irren, Fräulein Bernd, es ist keinerlei Anmaßung im Spiel. Die Sachen haben Mottenschäden, und Onkel Rochus hat mir kurz vor seinem Tod erlaubt, dass ich sie Max Reichert schenke. Ich kam bisher nicht dazu, dem Burschen die versprochenen Kleider auszuhändigen. Jetzt soll es aber geschehen, die Sachen sind schon zusammengepackt.“

Ruth wandte sich an den alten Diener.

„Bitte, Heinrich, tragen Sie das Paket ins Wohnzimmer, Sie wissen ja, wo es liegt.“

Und dann wandte sie sich an Max Reichert.

„Tragen Sie die Ware in die Küche, Max, ich warte hier auf Sie.“

Lena ging mit einem misstrauischen Blick auf Ruth und den Laufburschen ins Wohnzimmer, während Heinrich davonging, um die Sachen zu holen und Max im Souterrain verschwand.

Ruth stand mit zusammengebissenen Zähnen an der Treppe und wartete. Als Max wieder auftauchte, führte sie ihn ins Wohnzimmer. Da saßen Kurt und Lena Bernd am Kamin, und Heinrich stand vor ihnen und packte das große Paket aus. Er musste nun Stück um Stück vor den Geschwistern ausbreiten und zeigte ihnen geflissentlich jedes noch so winzige Mottenloch. Max Reichert machte einen langen Hals, und seine Augen leuchteten vor Freude über die schönen, warmen Sachen, denen Ruth auch noch ein abgelegtes Kleid von sich für seine Mutter beigefügt hatte. Als die Prüfung beendet war, sagte Lena, sich erhebend: „Nun, immerhin repräsentieren diese Sachen, trotz der kleinen Schäden, einen ganz anständigen Wert. Aber wenn unser Großoheim wirklich erlaubt hat, dass Sie die Sachen verschenken, dann wollen wir nichts gegen seinen Willen sagen. Der Bursche soll die Sachen bekommen.“

Max bekam vor Freude einen roten Kopf.

„Jotte doch! Dann danke ich auch ville Male, Fräulein. Soll ich det allens haben, Fräulein Alving – ooch det Kleed for Muttern?“

„Ja, Max, packen Sie es ordentlich zusammen, damit Sie es gut tragen können.“

Als er damit fertig war, wollte er den Packen auf die Schultern heben.

Ruth hielt ihn am Arm fest und sagte lächelnd: „Vor lauter Freude vergessen Sie ganz, die Rechnung einzukassieren, Max, ich habe ja noch nicht bezahlt, was Sie gebracht haben.“

Max ließ das Paket fallen und schlug sich an die Stirn.

„Det hab’ ick vor Freude janz verjessen. Scheenen Dank, det Sie mir erinnert haben. Also will ick Ihnen man die Rechnung präsentierten.“

Max setzte nun ein ernstes Gesicht auf und holte seine neue Brieftasche aus seinem zerschlissenen Rock. Ruth und Lena standen dicht neben ihm und sahen ihm zu. Aber plötzlich zuckten sie beide zusammen und starrten auf den runden roten Fleck auf der Brieftasche. Fast zu gleicher Zeit riefen sie: „Wo haben Sie die Brieftasche her?“

Max sah erstaunt auf.

„Die is’ fein, nich’? Ick hab’ ihr gefunden, janz in der Nähe hier. Im Gebüsch hat sie jehangen.“

Ruth zitterte vor Erregung.

„Max“, sagte sie mit klingender Stimme, „geben Sie mir die Brieftasche, Sie sollen einen guten Finderlohn bekommen! Haben Sie nicht in der Zeitung gelesen, dass diese Tasche gesucht wird?“

Verblüfft sah Max sie an. „Nich’ een Wort hab’ ick jelesen, Fräulein Alving, sonst hätte ich ihr doch jebracht. Hat sie jemand hier aus dem Haus verloren?“

Sie merkte in ihrer Aufregung nicht das raubtierähnliche Leuchten in den Augen der Geschwister.

Max entleerte willig die Brieftasche. Aber in dem Augenblick, da er sie Ruth reichen wollte, fasste Lena Bernd mit einem jähen Griff danach und schleuderte sie mit einem kräftigen Schwung in die helle Glut des Kamins.

Ruth schrie auf und stürzte auf den Kamin zu. Aber es war nichts mehr zu retten. Sie fiel halb ohnmächtig in einen Sessel, und ein Schluchzen erschütterte ihren Körper.

Betreten sah Max sie an. „Jotte doch Fräulein Alving, war denn die Brieftasche so ville wert?“

Ruth hob ihr blasses Gesicht zu dem Jungen auf.

„Nicht die Brieftasche, Max, aber drin, zwischen Futter und Oberleder, steckte ein Dokument, ein sehr wertvolles Papier – und das ist nun verbrannt.“

Über Max Reicherts Gesicht breitete sich ein ganz seltsamer Ausdruck. Es war, als wolle er etwas sagen. Aber dann presste er die Lippen fest zusammen, als halte er krampfhaft zurück, was er sagen wollte. Und dann richtete er sich entschlossen auf.

„Na, Fräulein Alving, helfen kann ick Ihnen jetzt doch nich’, und mit die Rechnung, det kann jetzt bleiben, bis ick ’n andermal wiederkomme. Ick danke Ihnen noch ville Male vor die scheen Sachen. Denn adjes! Ick – ick komme vielleicht morgen wieder, wenn ooch Sonntag is’, Fräulein Alving.“

Ruth nickte ihm matt zu, und Max ging hinaus.

Draußen stand er eine Weile ganz konsterniert.

„Wenn Mutter man bloß nich’ det Makulatur vakooft hat!“, sagte er vor sich hin.

***

Max Reichert war mit seinem Paket bis zu dem Geschäft gegangen, in dem er angestellt war. Ein ungewohnt sorgenvoller Ausdruck lag auf seinem sonst so vergnügten Gesicht.

Er bat den Geschäftsinhaber, bei dem er in Stellung war, ob er nicht schnell einmal nach Hause laufen und seiner Mutter die geschenkten Sachen bringen könne.

Der Prinzipal erlaubte es ihm.

„Aber gleich wiederkommen, Max, heute ist Sonnabend, da gibt es viel auszutragen.“

„Jawohl, Herr Prinzipal, ick beeile mir nach Noten“, sagte Max, nahm sein Paket auf die Schulter und trabte heim.

Seine Mutter stand am, Waschfass. Er warf mit einem Ruck das Paket vor sie hin.

„Da Mutter, allens feine warme Sachen – picobello! Aber nu’ sag mir erst mal, ob du det Makulatur schon vakooft hast.“

Die Mutter wischte den Seifenschaum von den Händen und löste die Knoten, mit denen das Paket zugebunden war.

„Nee doch, Maxe, wo werd’ ick denn! Et jibt doch alle Tage mehr for det Kilo. Wir warten noch.“

Max atmete tief auf und sank auf einen Holzstuhl.

„Jottlob, Mutter, ick habe eene Angst jehabt, det du det Makulatur vakooft hast.“

„Na, warum denn, Maxe?“

„Det is’ ne lange Jeschichte, Mutter. Ick habe jetzt keene Zeit, denn ick muss schleunibus wieder in’t Jeschäft. Heute Abend nach Feierabend, denn erzähle ick dir allens. Dann wirste Oogen machen, Mutter! Also, kiek dir mal die scheenen Sachen an – allens hat mich Fräulein Alving jeschenkt.“

Die Mutter staunte und bewunderte und war außer sich vor Freude.

Max erhob sich.

„Haste nich’ ’ne Stulle, Mutter?“

Die Mutter seufzte. „Junge, wenn du eenen ankiekst, denn haste Hunger. Haste denn heute in der Villa Bernd nich’ ’ne Stulle jekriegt?“

„Hab’ ick, Mutter, aber ick habe mir so uffgeregt wegen det Makulatur, und denn war ooch det Paket so schwer. Nun hab’ ick wieder Hunger.“

Die Mutter schnitt eine Stulle ab und kratzte ein wenig Margarine darauf.

„Na denn – hier haste, Maxe. Un’ nu’ mach’, det du wieder an deine Arbeit kommst!“

„Jawoll Mutter, Adjes! Un’ det du um Jottes willen nischt von det Makulator vakoffst!“

Max rannte nun vergnügt wieder in das Geschäft, und er war noch flinker als sonst auf seinem Posten. Er kam den ganzen Tag nicht mehr zur Ruhe. Nach Ladenschluss eilte er nach Hause. Er aß mit der Mutter und den beiden Brüdern Abendbrot. Und als er fertig war und die Brüder zu Bett gegangen waren, setzte sich Maxe zur Mutter und erzählte ihr, was er heute in der Villa Bernd erlebt hatte.

„Siehste Mutter, als nu’ Fräulein Alving von det Dokument zu mich redete, da dachte ick man bloß: Wenn Mutter man bloß det Makulatur nicht vakooft hat“, schloss er.

Die Mutter hatte gespannt zugehört. Nun sagte sie kopfschüttelnd: „Wat haste bloß mit det olle Makulatur, Maxe? Wat hat denn det mit die Angelegenheit zu tun?“

Max tippte ziemlich unehrerbietig an die Stirn.

„Merkste nichts, Mutter?“

„Nee!“

„Na, ick habe doch die Brieftasche janz jenau untersucht. Und da fand ick denn, det sie uff die eene Seite uffjetrennt jewesen war. Ick trenne also die Naht uff un’ finde zwischen Leder und Futter ’n janz vajilbtet Papier. Ick denke natürlich, et is’ bloß deshalb rinjesteckt, det sich die Tasche hübsch steif uffplustert. Und da nehme ick also det Papier raus, bekieke et mir un’ kann nich’ mal lesen, wat druffsteht, et war in ’ne fremde Sprache jeschrieben. Na, also, ick schmeiße det olle Papier mang unser Makulatur un’ lege so ’n hübschet neuet Papier rin. Na, merkst nu’, Mutter – det olle Papier, det war det wertvolle Dokument, nach dem Fräulein Alving so gejault hat. Ick war janz vadattert un’ janz still, weil ick doch nich’ wusste, ob du det Makulatur vakooft hast. Wenn et weg jewesen wäre, denn hätt’ ick mich doch nich’ jetraut, wat zu sagen. Aber nu’ is’ et da, Mutter, ick brauche et bloß zu suchen. Und denn bringe ick et morjen Fräulein Alving, un’ denn freut sie sich. Det schwarze Fräulein werde ick dabei aus dem Wege jehen, die schmeißt et sonst ooch noch in det Feuer, denn det is’ n’ Deibel, Mutter.“

Max schwieg nach der langen Rede erschöpft und schleppte nun einen Stoß Makulatur herbei.

„Det is’ et, Mutter, det is’ et, ick kenne et gleich an die jelbe Kulör. Du, Mutter, jib mich mal aus die Kommode ’n neuet Kuvert! Ick will det Dokument rinstecken, det es nich’ noch zerreißt.“

***

Ruth hatte in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag sehr wenig geschlafen. – Zeitig erhob sie sich. Zu ihrer Erleichterung kamen heute die Geschwister Bernd nicht schon am frühesten Morgen in die Villa. Sie gönnten sich ihren so sehr beliebten, lang ausgedehnten Morgenschlaf, denn sie waren ja nun darüber beruhigt, dass die Brieftasche samt dem Dokument vernichtet war.

Als sie in den verschneiten Garten hinausblickte, bemerkte sie plötzlich Max Reichert, der in seinem sonntäglichen Konfirmationsanzug langsam am Gartenzaun herüberspähte. Und als er Ruth am Fenster entdeckte, machte er ihr ein Zeichen, sie möge zu ihm herauskommen.

Ein wenig abgelenkt von ihren Gedanken, erhob sie sich und ging hinaus.

Als sie bei Max anlangte, fragte sie mit blassem Lächeln: „Was haben Sie nur, Max? Weshalb kommen Sie nicht herein? Sie wollen wohl das Geld für die gestrige Rechnung kassieren?“

Max atmete tief auf.

„Det eilt nich’, Fräulein Alving. Ick wollte man bloß wissen, ob det schwarze Fräulein im Haus ist.“

„Nein, Max, sie ist noch nicht hier, aber sie kann jederzeit kommen.“

Max sah die Straße entlang. „Na, in Sicht is’ sie vorläufig noch nich’. Denn habe ick Zeit, mir mit Ihnen zu unterreden über ’ne wichtige Angelegenheit.“

Ruth lächelte. „Dann kommen Sie nur herein, Max! Warum haben Sie denn in der Kälte nicht einen von den warmen Mänteln angezogen, die ich Ihnen gestern gegeben habe?“

„Mutter will erst die Mottenlöcher stoppen, det sie nich’ weiter ausreißen könne. Un’ ick soll Ihnen tausendmal Dank sagen von Muttern, sie war janz aus det Häuschen vor Freude un’ sitzt und flickt nu’ den janzen Sonntag, det allens in Ordnung kommt. Sie sind ’n Engel, hat Mutter gesagt, un’ det sag’ ick ooch. Un’ deshalb bin ick nu’ janz früh am Sonntag raus, um Ihnen ooch mal ’ne Freude zu machen. Ich bringe Ihnen wat Scheenes, aber det jebe ick Ihnen erst drinnen in Nummer sicher.“

Max kratzte auf dem Abstreifer fast die Stiefelsohlen kaputt, ehe er es wagte, auf die Treppe zu treten.

Heinrich sah erstaunt auf Max. Ruth sagte ihm lächelnd: „Max will mir etwas Schönes sagen, Heinrich. Bitte, bestellen Sie doch in der Küche, dass ich ihn nachher hinunterschicke. Die Köchin soll ihm heute ein Sonntagsfrühstück geben.“

Heinrich nickte und ging zur Küche, nachdem er die Tür zum Wohnzimmer geöffnet und hinter Ruth und Max Reichert geschlossen hatte.

„So, Max, nun sagen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben“, sagte Ruth, sich niederlassend.

Max hielt seine Mütze unter den Arm geklemmt und holte seine alte, zerschlissen Brieftasche hervor.

„Fräulein Alving, Sie haben doch jestern so sehr nach eenen Dokument jejault. War det Dokument in eener fremden Sprache jehalten?“

Erstaunt sah Ruth auf. „Allerdings, Max, in englischer Sprache.“

Max nickte befriedigt. „Na, denn hat ja allens seine Richtigkeit. Det Dokument, det war nämlich nich’ mehr in die Brieftasche.“

Jetzt fuhr Ruth erblassend empor. „Max, Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie das Dokument herausgenommen haben?“

Er erschrak ein wenig vor ihrer Heftigkeit. „Seien Sie man bloß nich’ böse, Fräulein Alving, ick hatte ja keene Ahnung, det et een Dokument war, det olle jelbe Papier. Ick meente ja nur, et hätte drin jestochen, damit die Brieftasche Stand kriegte. Un’ denn warf ick et in de Makulatur und steckte andres Papier rin.“

Ruth las jedes Wort von seinen Lippen.

„Und? Max, lieber Max, um Gottes willen – wo ist das Dokument geblieben?“, fragte sie wie außer sich.

„Man mit die Ruhe, Fräulein Alving, et is’ da, et is’ allens in scheenster Ordnung. Ick hätte Ihnen det jestern schon jern jesagt, aber da wusste ick nich’, ob Mutter de Makulatur nich’ vakooft hat, un’ denn hätte ick Ihnen bloß uffjeregt.“

Und Max erzählte nun ausführlich seine Ängste und Nöte von gestern und wie er das Dokument gefunden hatte.

Ruth liefen die hellen Tränen über die Wangen.

„Max, lieber Max, Sie sind ein Prachtmensch! Was tue ich Ihnen nur an vor lauter Freude? Sie haben ja keine Ahnung, was dieses Papier für einen Wert hat. Aber jetzt legen wir es schnell wieder ins Kuvert, und das stecken wir in das Buch, das hier auf dem Tisch liegt. So kann ich das Dokument am unauffälligsten nach oben bringen. Aber Sie dürfen keinem Menschen sagen, dass Sie es mir gebracht haben.“

„Aha, die Schwarze un’ ihr Herr Bruder, die möchten et wohl jern aus der Welt schaffen?“

„So ist es. Es handelt sich um eine Erbschaft. Später erzähle ich Ihnen das einmal. Aber jetzt sollen Sie erst einmal Ihre Belohnung bekommen!“ Damit ging sie zum Schrank und entnahm ihm eine Kassette. Ein oben aufliegendes Kuvert reichte sie Max. „Das ist der Finderlohn, den Herr Herfurt für die Brieftasche ausgesetzt hat. Sie haben die Brieftasche gefunden. Sie sollen auch das Geld haben.“

Max stand wie von einem Starrkrampf befallen und starrte Ruth an. Ganz blass war er geworden.

„Det ville Jeld soll ick haben?“, keuchte er.

Ruth lachte. „Ja, Max. Nehmen Sie nur!“

***

Als Max Reichert nach einem reichlichen Frühstück in der Küche das Haus verlassen wollte, traf er im Vestibül mit den Geschwistern Bernd zusammen. Sie waren eben angekommen und sahen Max erstaunt an.

„Was wollen Sie denn schon wieder?“, fragte Kurt.

Max wandte sich mit seiner Antwort an Lena.

„Det Jeld vor die Rechnung hab’ ick mir jeholt, wenn Sie et jenau wissen wollen. Und jefrühstückt hab’ ick ooch, ob’s Ihnen passen tut oder nich’.“

Kurt sah wütend auf den Jungen. „Machen Sie, dass Sie hinauskommen!“

Max ließ sich nicht imponieren.

„Ick bin nich’ bei Ihnen uff Besuch – ick habe hier im Haus jeschäftlich zu tun.“

Jetzt kam Ruth die Treppe herab. Sie hatte den Wortwechsel gehört.

„Gehen Sie jetzt, Max, Ihr Geld haben Sie ja.“

Er dienerte artig.

„Jawoll, Fräulein Alving, wenn Sie mich det sagen, denn is’ det ’ne andere Sache. Adjes – un’ vielen Dank!“

Und Max verließ das Haus.

Kurt wandte sich brüsk an Ruth. Sein und seiner Schwester Auftreten war seit gestern bedeutend siegessicherer geworden.

„Warum beschweren Sie sich nicht bei dem Prinzipal dieses Lümmels, dass er ein so freches Auftreten hat?“, herrschte Kurt Ruth Alving an.

Sie blieb auf der Treppe stehen und sah ihn groß an.

„Max ist kein frecher Lümmel, sondern ein braver Bursche, und ich habe nie ein freches Auftreten an ihm wahrgenommen.“

„So? Sie nehmen den Bengel noch in Schutz? Hier ist ja ein unglaublich schlampiger Ton eingerissen. Das wird aber bald anders werden, verlassen Sie sich darauf! Wann gedenken Sie überhaupt, endlich dieses Haus zu verlassen?“

Ruth wurde sehr bleich, sah ihn aber stolz und ruhig an.

„Sobald ich Schlüssel und Wirtschaftsbücher in die Hände des rechtmäßigen Erben gelegt habe.“

„Dann liefern Sie sie uns ruhig aus, denn wir sind die rechtmäßigen Erben, wir haben keine Lust, noch länger hinter einem Schwindler zurückzustehen. Geben Sie die Schlüssel her!“

Ruth richtete sich hoch auf.

„Wahren Sie Ihre Zunge! Wenn Sie mit dem Schwindler Herrn Herfurt meinen sollten, dann wird er Sie zur Verantwortung ziehen, wenn er zurückkommt!“

„Ja, das wird er“, erklang plötzlich eine metallische Stimme hinter ihnen. Ruth und die Geschwister fuhren erschrocken herum. Im Eingang zum Vestibül stand Gert Herfurt. Max war ihm an der Gartenpforte begegnet und hatte ihn eintreten lassen. So hatte er nicht zu klingeln brauchen und war, von den anderen unbemerkt, ins Haus hereingekommen.

Tief errötend, aber mit leuchtenden Augen lehnte Ruth am Geländer der Treppe.

Kurt war zusammengezuckt und duckte sich feige vor Gerts drohendem Blick. Auch Lena verließ einen Moment ihre Unverfrorenheit. Sie stellte sich neben den Bruder. Kurt ermannte sich zuerst. Die Gewissheit, dass das Dokument verbrannt war, machte ihm Mut.

„Mit welchem Recht kommen Sie so unangemeldet hier herein? Was fällt Ihnen überhaupt ein, sich in unser Gespräch zu mischen? Unverschämtheit! Komm, Lena, mit diesem Menschen haben wir nichts zu schaffen!“ Und dann zog er seine Schwester schnell mit sich fort ins Wohnzimmer.

„Ruth, meine Ruth“, sagte Gert in heißer Zärtlichkeit und zog die schlanke Mädchengestalt fest in seine Arme. „Dass ich dich nur wiederhabe!“ Und überwältigt von seinem Gefühl, küsste er sie auf die Lippen. Eng umschlungen, durchpulst von ihrer Liebe, standen sie beieinander und fühlten mit inniger Beglückung den Schlag ihrer Herzen.

Lächelnd löste sich Ruth schließlich aus seinen Armen.

„Komm“, sagte sie weich, „ich habe dir so viel zu erzählen. Alles hat sich zum Guten gewendet.“

Hand in Hand gingen sie hinüber in den Salon, und dort berichtete sie ihm hastig und erregt, wie der Trauschein vor der Vernichtung bewahrt blieb. Er hörte ihr zu, immer wieder seine Lippen auf ihre Hände drückend.

Als Ruth mit ihrem Bericht zu Ende war, sagte sie: „Die Geschwister Bernd haben keine Ahnung, dass Max Reichert mir das Dokument gebracht hat. Irgendwie müssen sie aber die Überzeugung gewonnen haben, dass es dennoch in deiner Brieftasche verborgen war, denn sonst hätte Lena Bernd sie wohl nicht ins Feuer geworfen. Irgendeinen Grund muss sie doch dafür gehabt haben.“

Gert lachte verächtlich auf. „Das kann ich dir wahrscheinlich erklären, Ruth. Wie hast du meinen Brief bekommen?“

Sie sah ihn erstaunt an. „Mit der Post natürlich.“

„Du hast ihn also nicht im Hotel abgeholt?“

Sie schüttelte betroffen den Kopf. „Nein, ganz gewiss nicht.“

Er nickte. „Ich ahnte es fast, als der Portier mir bei meiner Rückkehr heute Nacht mitteilte, dass der Brief, den ich mit der Weisung, ihn zur Post zu geben, hinterließ, von einer Dame persönlich abgeholt worden sei. Die Beschreibung, die er von der Dame gab, passte nicht auf dich. Es muss Lena Bernd gewesen sein. Natürlich hat sie den Brief gelesen und ihn danach erst an dich abgesandt.“

Ruth zuckte zusammen. „Mein Gott, so wusste sie also genau, dass sich das Dokument in der Brieftasche befand! Nun kann ich mir auch ihr ganzes Verhalten erklären. Sie kamen am frühen Morgen und gingen am späten Abend und ließen keinen Menschen ohne Kontrolle aus und ein gehen. Ich glaubte, es sei Misstrauen gegen mich, aber jetzt verstehe ich – sie warteten darauf, dass die Brieftasche hier abgegeben werden könnte, und waren wahrscheinlich fest entschlossen, das Dokument um jeden Preis an sich zu bringen.“

„So wird es sein, mein Liebling.“

„Mein Gott, Gert, was sind das für hartnäckige Verbrecher! Das erklärt auch ihr unverschämtes Auftreten. Sie fühlen sich schon als Herren, weil sie bestimmt zu wissen glauben, dass der Trauschein deiner Eltern mit der Brieftasche verbrannt ist.“

Er küsste sie zärtlich. „Ganz blass ist mein süßes Herz geworden vor Entsetzen.“

Ruth legte die Arme um seinen Hals. „Gert, lieber Gert, wie froh bin ich, dass du wieder bei mir bist!“

Er drückte sie fest an sein Herz.

„Liebling, meine liebe, süße Ruth.“

In ihre selige Versunkenheit hinein tönte plötzlich das Öffnen einer Tür und dann ein höhnisches Lachen. Lena Bernd stand auf der Schwelle des Wohnzimmers, und hinter ihr erschien jetzt Kurt, als sie laut und spöttisch ausrief: „Sieh dir das an, Kurt! So ehrt man das Andenken eines verstorbenen Wohltäters, indem man im Trauerhaus eine Liebschaft anfängt mit irgendeinem hergelaufenen Betrüger.“

Die Liebenden waren zusammengezuckt, und Ruth sah erbleichend in Gerts Gesicht, dem die Zornesröte in die Stirn stieg. Aber sanft und sorgsam löste er erst Ruths Hände von seinem Hals, ehe er sich stolz aufrichtete und dicht vor die beiden Geschwister hintrat.

„Danken Sie es dem Umstand, dass Sie eine Frau sind, dass ich Sie nicht niederschlage. Noch ein Wort gegen meine Braut, und Sie sollen mich von einer Seite kennen lernen, alle beide, von der Sie mich noch nicht kennen. Haben Sie vielleicht Ihren verstorbenen Wohltäter, meinen Großvater, damit geehrt, dass Sie das Verbrechen in sein Haus trugen? Dass Sie es wagen, hier zu stehen, mir in die Augen zu sehen und meine Braut und mich zu verunglimpfen, zeugt von Charaktereigenschaften, um die ich Sie nicht beneide. Sie haben mich erst betäubt und beraubt, dann haben Sie einen Brief von mir an Fräulein Alving unter betrügerischen Angaben an sich gebracht, haben ihn widerrechtlich geöffnet und gelesen, haben sich dann hier im Haus festgesetzt, um die Brieftasche, falls sie ein ehrlicher Finder brachte, abzufangen, weil Sie aus meinem Brief gelesen hatten, dass sich der Trauschein meiner Eltern darin befand. Sie haben dann diese Brieftasche, mein Eigentum, ins Feuer geworfen. Und jetzt stehen Sie mit frecher Stirn noch immer hier in diesem Haus. Dazu gehört allerdings eine große Dosis Unverschämtheit. Ich will Ihnen gleich noch sagen, dass Ihr verbrecherischer Anschlag, das Dokument zu vernichten, zum zweiten Mal misslungen ist. Der brave Laufbursche Max Reichert hat meiner Braut heute das Dokument gebracht, das er aus der Brieftasche herausgenommen hatte. Es befindet sich gottlob wieder in meinen Händen. Und nun hinaus mit Ihnen aus dem Haus meines Großvaters, das Sie mit Ihrer Gegenwart verpesten – hinaus, wenn ich Sie nicht sofort durch die Polizei festnehmen lassen soll! In fünf Minuten befinden Sie sich außerhalb dieses Grundstücks.“

Und mit drohender Gebärde zeigte er nach der Tür.

Kurt und Lena hatten verschiedentlich versucht, seine Rede zu unterbrechen. Zuerst zeigten sie ein spöttisches Lächeln. Aber das verging ihnen mehr und mehr, und als Gert davon sprach, dass das Dokument wieder in seinem Besitz war, wurden sie sehr bleich, und ihre Gesichter verzerrten sich.

Inzwischen war Heinrich, von Gerts lauter Stimme angelockt, herbeigekommen und nahm nun Kurts und Lenas Überkleider vom Garderobenständer. Er hielt sie ihnen hin, als Gert geendet hatte und nun nach der Uhr sah. Da ermannte sich erst Lena, riss Heinrich Mantel und Hut aus den Händen und eilte wie in wilder Flucht hinaus. Kurt folgte ihr nicht weniger eilig. Sie fürchteten doch, nun, da alles verloren war, auch noch Bekanntschaft mit der Polizei zu machen.

Gert, Ruth und Heinrich standen reglos, bis draußen die Gartenpforte ins Schloss fiel. Dann sagte Heinrich, die Hände gefaltet zum Himmel streckend: „Gottlob, jetzt ist die Luft rein. Sie sind hoffentlich zum letzten Mal hier gewesen.“

Gert legte seinen Arm um Ruth. „Heinrich, Sie haben treu zu uns gehalten – ich stelle Ihnen Fräulein Ruth als meine liebe Braut vor. Sie wissen wahrscheinlich ebenso wohl, wie es Dr. Jungmann und auch meine Braut sicher gewusst hatten, dass mein Großvater, ehe er von meiner Existenz wusste, in Ruth Alving seine Haupterbin sah. Sie sehen, der Himmel fügt alles zum Guten und Rechten. Ich werde Ruth Alving als meine liebe Frau an die Stelle setzen, die ihr mein Großvater zugedacht hatte. Und Sie selbst, Heinrich, sollen ein geruhsames Alter in diesem Haus verleben, wie es Ihnen mein Großvater auch zugedacht hatte.“

Der alte Diener rang mit seiner Ergriffenheit.

„Gott lohne es Ihnen, gnädiger Herr, und er schenke Ihnen und Fräulein Ruth ein volles, reiches Glück, wie Sie es beide verdienen.“

Gert und Ruth fassten die Hände des alten Mannes und nickten ihm lächelnd zu. Innig umschlungen ging das Brautpaar dann ins Wohnzimmer. Und hier erzählte Gert vom Ergebnis seiner Reise.

In Longvillage hatte er zuerst den Pfarrer aufgesucht. Er selbst konnte ihm zwar nicht behilflich sein, aber er machte Gert darauf aufmerksam, dass die alte Dienerin von Maria Herfurts Tante noch in Longvillage lebte. Sie hieß Betty Flead und wohnte im Damenstift. Gert hatte die alte Dame aufgesucht, und sie war ganz außer sich gewesen vor Freude, Gert, den sie als kleinen Jungen kannte, nun als Mann wiederzusehen. Einen ganzen Nachmittag lang hatte sie ihm von alten Zeiten erzählt, und Gert hatte geduldig zugehört. Das meiste konnte ihm natürlich nicht weiterhelfen, nur die Erwähnung einer schwarzen Mappe, die Maria bei ihrer Reise zu ihrem Vater nach Deutschland mitgenommen hatte und in der sich ihre Papiere befunden haben sollten, erschien ihm interessant. Wie Miss Flead weiter berichtete, sollte sich in der Mappe auch ein Duplikat des Trauscheins befunden haben, das sich Maria anfertigen ließ, um es ihrem Vater nach erfolgter Aussprache vorzulegen.

„Wer weiß, wo diese Mappe nach dem Tod meiner Mutter hingekommen ist?“, schloss Gert seinen Bericht. „Ich glaube nicht, dass sie überhaupt noch existiert.“

Schon bei der ersten Erwähnung der schwarzen Mappe hatte Ruth aufgehorcht. Nun sagte sie: „Doch, Gert, ich glaube, die Mappe existiert noch. Ich entsinne mich, dass eine schwarze Mappe zwischen der Wäsche deiner Mutter lag. Sie fiel mir zwischen der weißen Wäsche besonders auf. Lass uns gleich auf den Speicher hinaufgehen, Gert, und danach schauen!“

Sie klingelte Heinrich und bat ihn, mit auf den Speicher zu gehen. Er möge die Schlüssel holen.

Und sie begaben sich auf den Speicher. Gert öffnete die Koffer seiner Mutter mit einem seltsamen Gefühl. Wie ein Heiligtum berührte er die Kleider, die seine Mutter getragen hatte. Und wirklich lag die schwarze Mappe zwischen der weißen Wäsche. Gert öffnete sie und fand darin nicht nur den Trauschein seiner Eltern, sondern auch alle Papiere seiner Mutter, dazu Briefe seines Vaters aus der Zeit, da seine Eltern noch nicht verheiratet waren.

Gert nahm nur die Papiere heraus, die er brauchte. Alles andere legte er wieder in die Mappe zurück und verschloss sie wieder im Koffer. Still stiegen sie wieder hinab.

Nach Tisch machten sie Zukunftspläne. Gert wollte am nächsten Morgen zu Dr. Jungmann gehen, und nun in aller Form seine Erbansprüche stellen. Ruth sollte bis zur Hochzeit in der Villa Bernd bleiben, und Gert wollte solange im Hotel wohnen.

„Bald halten wir in aller Stille Hochzeit. Ich will nicht länger warten. Wie die Verhältnisse liegen, ist es das beste für uns, die Verlobungszeit abzukürzen. Inzwischen werden meine Erbansprüche geregelt, und dann wollen wir glücklich sein, Ruth. Mein Großvater würde es sicher nicht anders haben wollen.“

Ruth lehnte den Kopf an seine Schulter. „Der liebe Gott hat es so gut mit mir gemeint, Gert.“

Noch eine Stunde saßen sie beisammen. Sie sprachen auch davon, wie sich Gert ihre Zukunft ausgemalt hatte für den Fall, dass er nicht seine Erbansprüche hätte beweisen können. Er sagte ihr, dass er willens sei, seine Verträge zu halten und fleißig zu arbeiten.

„Lass mich dir helfen dabei“, bat sie lebhaft.

Er streichelte ihre Hände. „Wenn diese fleißigen Hände die Zügel des Hauswesens führen, werden sie auch ohnedies nicht müßig sein. Aber wenn du in deinen Mußestunden in mein Arbeitszimmer kommen und mir helfen willst, werde ich dich immer willkommen heißen. Wir wollen gemeinsam schaffen und streben, denn keine Zeit hat so nötig fleißige Arbeiter gebraucht wie diese. Wir wollen nach Kräften das unsere tun.“

„Das wollen wir, Gert.“

Am nächsten Tag suchte er den Notar auf und übergab ihm alle nötigen Papiere.

***

Die nächsten Wochen vergingen den Liebenden sehr schnell. Es gab viel für sie zu tun. Ohne Schwierigkeiten wurde Gert zum Erben seines Großvaters eingesetzt. Er hatte den Geschwistern Bernd mitteilen lassen, dass er Ihnen dieselbe Summe, die sie bisher von seinem Großvater erhalten hatten, in Zukunft ebenfalls anweisen lassen würde. Diese Zuwendung werde aber sofort erlöschen, wenn sie sich noch irgendwelcher feindseliger oder verbrecherischer Vergehen schuldig machen würden.

Als der Notar ihn fragte, ob er nicht auch etwas für Fräulein Alving zu tun gedenke, sagte Gert lachend: „Mit ihr teile ich nicht nur mein ganzes Erbe, sondern auch mein ganzes Leben in Zukunft. Ruth Alving ist meine Braut.“

Da hatte ihm der Notar herzlich gratuliert.

„Das wird völlig im Sinn des Erblassers sein, Herr Herfurt. Wenn es für uns Menschen wirklich einen Rückblick gibt aus den Gefilden der Seligen, dann wird Rochus Bernd sehr zufrieden auf Sie und Ihre Braut herabblicken.“

***

Als der Frühling ins Land zog, führte Gert seine junge Frau heim. Es war ein großer Freudentag für die Villa Bernd, so still auch die Hochzeit gefeiert wurde.

Als das Brautpaar aus der Kirche kam, stand Max Reichert neben dem alten Heinrich am Portal. Er hielt einen großen Strauß Frühlingsblumen in der Hand und repetierte ein Gedicht, das er aufsagen wollte. Aber das Hochdeutsch machte ihm Schwierigkeiten, und in der Aufregung vergaß er alles, was er mühsam gelernt hatte, und deshalb ließ er Gedicht Gedicht sein und stieß mit der ganzen Vehemenz seines Empfindens heraus: „Ick wünsche von janzem, det Ihnen alle Tage det Jlück hell zum Fenster reinscheint. Und der liebe Jott segne Ihnen alle beede, det is’ mein innigster Wunsch.“

Gert und seine junge Frau machten ihre kurze Hochzeitsreise nach England und hielten sich einige Wochen in Longvillage auf. Und Longvillage erlebte zum zweiten Mal das heiße, volle Glück eines jungen Paares. Miss Betty Flead versicherte jedem, der es hören wollte, dass sie bis an ihr Lebensende von der Erinnerung an diese junge Glückseligkeit zehren werde.

Dann kehrten sie in ihr schönes Heim zurück.

Wenige Tage nach ihrer Heimkehr wurde ihnen durch Lena Bernd mitgeteilt, dass ihr Bruder Kurt einen jähen Tod durch eine Blutvergiftung erlitten habe. In Wahrheit hatte er zu viel von seinen narkotischen Zigaretten geraucht, weil seine Schmerzanfälle immer häufiger kamen. Sein durch allerlei Ausschweifungen geschwächter Körper hatte den giftigen Einwirkungen nicht widerstehen können.

Gert teilte Lena auf Ruths Bitte mit, dass er ihr auch die für ihren Bruder bestimmte Summe auszahlen werde. Lena dankte jedoch in einem ziemlich kühlen, schnippischen Ton, und zu Beginn des Sommers teilte sie dem jungen Paar mit, dass sie sich verlobt habe. Sie hatte sich endlich doch den reichen Mann erobert, den sie sich immer gewünscht hatte. Dass dieser Mann ein gewissenloser Schieber und Spekulant war, irritierte sie nicht. Sie verstand sich sehr gut mit ihm, half ihm lukrative Pläne ersinnen und führte mit ihm ein Leben, das ganz auf Genuss basierte. In höhnischen Worten teilte sie Gert mit, dass sie auf den Bettel verzichte, den er ihr habe zukommen lassen, sie brauche sich nicht länger zu demütigen und auch noch für die Lappalie zu danken, denn ihr Mann erfülle ihr jeden Wunsch, und wenn sie wolle, könne sie täglich so viel verbrauchen, wie er ihr für den ganzen Monat angewiesen habe.

Gert und Ruth sahen sich an, als sie diesen Brief gelesen hatten, und atmeten auf. Nun waren alle Beziehungen zwischen Gert und seinen Verwandten erloschen. Er bedauerte es nicht. Sein und seiner heiß geliebten Gattin Glück war durch diese Angelegenheit nicht mehr getrübt worden. Das junge Paar lebte in inniger Glückseligkeit und Harmonie ein schönes, segensreiches Leben. Sie fanden sich in gemeinsamer Liebe, in gemeinsamer Arbeit und einem gütigen Menschentum.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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