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Dreizehntes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Jan brachte am übernächsten Tage die Post. Es waren für Waltraut drei Briefe dabei, zwei von ihrem Vater und einer von Rudolf. Waltrauts Hand zitterte, und sie wurde sehr blass. Sie nahm die Briefe und ging in ihr Zimmer. Sie musste allein sein, wenn sie Rudolfs Antwort las.

Jan sah ihr unruhig nach. Schlüters hatten aber auch Post, und wenn man weiß, wie wichtig an so abgelegenen Orten der Posttag ist, wird man verstehen, dass Jan sich vorläufig mit sich selbst beschäftigen musste. Tee bekam er vorläufig noch nicht, als er sich inzwischen erfrischt hatte. Schlüters saßen noch bei ihrer Post, und Waltraut war auch noch nicht erschienen.

Sie saß in ihrem Zimmer und hatte mit zitternden Händen Rudolfs Brief geöffnet. Mit brennenden Augen las sie:

»Meine liebe, arme, kleine Schwester! Wie leid tut es mir, dass Du so viel Kummer hattest durch unser Verlöbnis. Aber Du konntest das Dir doch denken, Waltraut, dass ich auf keinen Fall zulassen würde, dass man Dich zu etwas zwingt. Ich habe Deinem Vater damals gleich gesagt, unter keinen Umständen. Sei ruhig, mein liebes Schwesterchen, Du bist frei! Lass mich Dir zugleich beichten, dass Dein lieber Brief auch mich von einem qualvollen Zwange befreit hat. Mir ist es ergangen wie Dir, auch ich habe mein Herz erst entdeckt, nachdem wir uns auf Vaters Wunsch verlobt hatten, und für mich war die Angst und Sorge, dass Du Dich bereits mit dem Gedanken an eine Verbindung zwischen uns gewöhnt haben könntest, noch viel quälender. Ich hätte ja nicht davon sprechen können, dass ich mich von Dir lösen wollte. Gottlob, Du hast dies Wort gesprochen, das Dich und mich befreit. Und sei ganz ruhig, wenn wir beide fest entschlossen sind, uns nicht zu heiraten, so muss auch Dein Vater einsehen, dass unsere Verlobung wieder gelöst werden muss. Schade, dass die Post so lange braucht, wir können uns deshalb nur langsam verständigen über das, was getan werden muss. Ehe ich aber näher darauf eingehe, lass Dir von ganzem Herzen Glück wünschen zu der Wahl, die Dein Herz getroffen hat. Hoffentlich wird Dir dieser Mann auch sein Herz ganz und ungeteilt schenken. Dass Du es keinem Unwürdigen geschenkt haben wirst, weiß ich, dazu kenne ich Dich zu gut. Und so kann ich ruhigen Herzens wünschen, dass Deine Liebe erwidert wird.

Doch nun zu dem, was wir tun müssen. Es wird natürlich nicht leicht sein, Deinen Vater umzustimmen und ihn zu überzeugen, dass sein Gelübde nicht bindend sein kann für uns und dass wir ihm nicht helfen können, es zu erfüllen. Ich werde ihm klarzumachen versuchen, dass er seine Freundschaft für meinen Vater dadurch besser bezeigen kann, wenn er uns nach unserem Willen glücklich werden lässt. Wenn er sich gelobte, seine Tochter dem Sohne seines Freundes zu vermählen, so geschah dies doch nur, um mir Gutes zu tun, mich an seinem Erbe teilhaftig werden zu lassen. Aber ich habe nie auf dies Erbe gerechnet und verzichte gern darauf. Es genügt mir, wenn er mich in meiner Stellung als Prokurist der Firma belässt, damit ich die Frau, die ich liebe, heimführen und ihr ein sorgloses, wenn auch bescheidenes Los bieten kann. Denn das Mädchen, das ich liebe, ist arm wie ich selber und darauf angewiesen, sich sein Brot selbst zu verdienen. Dir will ich es gestehen, Waltraut, es ist die neue Sekretärin Deines Vaters, Lore Lenz, von der Dir der Vater sicher schon geschrieben hat. Sie ist seine rechte Hand geworden, und er mag sie sehr gern. Auch ich weiß noch nicht genau, ob ich wiedergeliebt werde, doch sage ich wie Du, so etwas fühlt man. Sie ist ein lieber, feiner und guter Mensch, wenn auch aus ganz schlichten Verhältnissen. Und ich weiß nun auch, wie glücklich man sein kann, wenn man liebt, wirklich liebt. Du hast es ja nun auch erfahren, meine liebe, kleine Schwester, und so sind wir beide noch rechtzeitig vor einem großen Irrtum bewahrt worden. Hab’ Dank, dass Du das erlösende Wort fandest.

Und nun sage mir, willst Du mir freie Hand geben, unsere Sache bei Vater zu führen, wie ich es für das Beste halte? Dann telegrafiere mir das eine Wort: Einverstanden. Denn es dauert zu lange, bis ich briefliche Antwort bekomme. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Richte das Telegramm ruhig an meine Adresse ins Geschäft; denn wenn Vater es sieht, habe ich gleich eine Gelegenheit, mit ihm über die Sache zu sprechen. Es ist das Beste, wenn das baldmöglichst geschieht. Du bekommst dann sofort Nachricht von mir, wie es abgelaufen ist. Geht Vater auf unseren Wunsch, unser Verlöbnis zu lösen, sogleich ein, dann depeschiere ich Dir das eine Wort: Sieg! Erlange ich das aber nicht sogleich, was ich annehmen muss, dann telegrafiere ich: Geduld. Das heißt dann, dass meine erste Attacke abgewiesen ist und dass wir Weiteres abwarten müssen. Ich werde dann aber nicht nachlassen, in Vater zu dringen und um unser Glück zu kämpfen. Und damit Gott befohlen, meine liebe, kleine Schwester. Beunruhige Dich nicht, schließlich muss doch alles noch gut werden, so oder so. Wir wollen jetzt offiziell im steten Briefwechsel bleiben, denn es hat keinen Zweck, ihn vor Vater zu verheimlichen. Er soll ruhig merken, dass wir zusammenhalten und uns ganz klar sind, dass wir uns in keinem Falle heiraten werden. Du hast recht, das wäre eine Versündigung gegen unsere Natur. Also Mut und Kopf hoch, Schwesterchen! Sei innig gegrüßt und in alter brüderlicher Liebe und Treue geküsst von Deinem

Bruder Rudolf.«

Waltraut drückte den Brief ans Herz.

»Lieber, guter Rudolf, wie danke ich dir«, sagte sie leise vor sich hin. Dann steckte sie den Brief wieder in das Kuvert und schrieb ein Billett an Jan:

»Lieber Jan! Ich bin überaus froh und glücklich, dass ich frei bin. Bitte, telegrafiere an Rudolfs Adresse, die Du in seinem Brief findest: ›Einverstanden!‹ Tue das spätestens morgen Vormittag. Und bitte lies Rudolfs Brief, damit Du über alles unterrichtet bist. Ich bin über alle Maßen froh!

Deine – Deine Waltraut.«

Diesem Billett legte sie Rudolfs Brief bei und barg ihn in ihrer kleinen Handtasche. Sie wollte ihn Jan irgendwie heimlich übergeben. Denn so gerne sie Dora eingeweiht hätte, sagte sie sich doch, dass es eine Belastung für Schlüters sein würde, müssten sie gegen ihren Vater Partei ergreifen.

Waltraut nahm sich jetzt nicht Zeit, die Briefe ihres Vaters zu lesen, es zog sie hinaus zu Jan, der, wie sie wusste, voll Unruhe auf ihren Bescheid warten würde.

Als sie wieder auf die Veranda hinaustrat, sah sie Jan allein in der Nähe ihres Zimmers stehen. Er sah mit brennenden Augen in die Ferne und wartete sehnsüchtig auf sie. Schlüters saßen noch über ihrer Post. So trat Waltraut zu Jan heran und schob ihm verstohlen den Brief in die Hand.

»Ich bin frei!«, sagte sie leise.

Er wandte sich rasch nach ihr um und sah sie glückstrahlend an.

»Liebling!«, flüsterte er.

Aber sie konnten sich nicht weiter unterhalten. Dora sprang auf.

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber Post geht über alles. Und jetzt gibt es Tee mit allem Zubehör. Jan, machen Sie doch nicht so schrecklich hungrige Augen.«

»Wenn Sie wüssten, Frau Dora, was ich ausgestanden habe, solange Sie gemütlich Ihre Post durchsahen. Ich verschmachte!«

Dabei sah er Waltraut an, und sie wusste, was er damit sagen wollte.

»Halten Sie nur noch fünf Minuten aus«, rief Dora lachend und verschwand im Hause.

Als man dann beim Tee saß, fragte Dora:

»Hast du gute Nachricht von deinem Vater, Waltraut?«

»Vaters Briefe habe ich noch gar nicht gelesen, nur den meines Bruders, aus dem ich ersehen habe, dass zu Hause alles gut geht. Vaters Briefe lese ich erst heute Abend, wenn ich ganz ungestört bin.«

Jan hätte sehr gern Rudolfs Brief gleich jetzt gelesen, aber er musste damit schon warten, bis er nach Hause kam. Er wusste ja die Hauptsache schon durch Waltrauts Worte.

Der Abend verlief wie gewöhnlich, und nachdem Jan sich entfernt hatte, bat Waltraut, sich zurückziehen zu dürfen, weil sie ihre Briefe lesen wollte. Dora umarmte und küsste sie.

»Ich finde es fabelhaft, dass du dich so lange hast bezwingen können. Wir wollen dich nun ganz bestimmt nicht länger abhalten, dich in die Lektüre deiner Briefe zu vertiefen.«

Waltraut verabschiedete sich und suchte ihr Zimmer auf. Als sie verschwunden war, flüsterte Dora ihrem Gatten zu:

»Ich wette mit dir, um was du willst, dass Jan und Waltraut ein Paar werden.«

Harry Schlüter küsste seine Dora lachend.

»Dorle, da ist der Wunsch der Vater des Gedankens, und wir wollen lieber nicht wetten.«

Sie zog die Brauen hoch.

»Du wirst es erleben, dass ich recht behalte.«

»Das tun Frauen doch immer und auf jeden Fall.«

Waltraut saß in ihrem Zimmer und hatte die beiden Briefe ihres Vaters vor sich. Sie las zuerst den, der einige Tage vor Weihnachten geschrieben war. Er lautete:

»Mein liebes Kind! Nun bist Du schon fast ein Vierteljahr fort von uns, und bei dem Gedanken, dass Du Weihnachten nicht mit uns feiern wirst, ist mir recht unbehaglich zumute. Rudolf und ich werden am Weihnachtsabend im Klub sein, zusammen mit anderen einsamen Junggesellen. Denn zu Hause ohne Dich will es uns beiden nicht gefallen. Ich schrieb Dir in meinem letzten Briefe schon von meiner Sekretärin, Fräulein Lenz. Wenn ich sie ansehe, muss ich immer an Dich denken. Sie ist auch nicht viel älter als Du und ist mir eine große Stütze. Sie ist eine ganz eminent tüchtige Kraft, und ich hoffe, dass sie mir erhalten bleibt.

Rudolf fühlte sich einige Zeit nicht recht wohl, und ich schickte ihn einige Tage in die Berge in den Schnee. Heute ist er zurückgekommen und hat sich fabelhaft erholt. Er lässt Dich herzlich grüßen. Über Deine ausführlichen Berichte freue ich mich sehr und bin froh, dass es Dir in Saorda so gut gefällt. Hoffentlich erfüllt Deine lange Abwesenheit auch unsere anderen Erwartungen. Du wirst Dich bald mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, dass Rudolf Dein Gatte wird. Ich bin Dir aufrichtig dankbar, dass Du dich meinem Wunsche gefügt hast und es mir ermöglichst, mein Gelübde zu halten.

Damit für heute genug, ich schreibe bald wieder. Bitte grüße Deine lieben Gastgeber herzlich von mir, und empfiehl mich auch den Besitzern von Larina, die sich, wie Du mir schriebst, so freundlich Deiner annehmen. Es ist wirklich ein drolliges Zusammentreffen, dass sie Werkmeester heißen. Aber warum soll dieser Name nicht auch in Holland vorkommen. Und nun bleib gesund und freue Dich des schönen Lebens dort. Lass bald wieder von dir hören.

Dein Dich innig liebender Vater.«

Aufseufzend legte Waltraut diesen Brief zur Seite. Es bedrückte sie sehr, dass der Vater ihr dankte, dass sie es ihm ermöglichen würde, sein Gelübde zu halten. Sie konnte es ja nicht tun – konnte nicht. Und nun ergriff sie den anderen Brief, der vom fünfundzwanzigsten Dezember datiert war.

»Mein geliebtes Kind! Das war gestern ein wenig schöner Weihnachtsabend. Rudolf und ich kamen sehr spät aus dem Klub, weil wir uns einfach fürchteten, wieder nach Hause zu gehen. Aber nun ist es ja überstanden, und am nächsten Weihnachtsfest haben wir Dich wieder hier. Ich habe unsere Leute, wie gewöhnlich, beschenkt, unsere Haushälterin hatte alles sehr nett arrangiert. Und im Geschäft habe ich die gewöhnlichen Weihnachtsgratifikationen ausgeteilt. Nur Fräulein Lenz habe ich außerdem noch eine kleine Aufmerksamkeit erwiesen. Rudolf hat mir für sie eine hübsche Armbanduhr besorgt, die sie noch nicht besaß. Du hättest die Freude sehen sollen, Waltraut, es war rührend. Sie ist wirklich ein lieber, feinfühliger Mensch, was mir sehr lieb ist, da ich sie fast den ganzen Tag um mich habe. Das arme Ding steht ganz allein im Leben, und ich hoffe, dass Du dich ihrer, wenn Du erst wieder hier bist, ein wenig annimmst. Weißt Du, wenn man jemandem sein ganzes Vertrauen schenken muss in geschäftlichen Dingen, dann soll man ihn auch privat nicht völlig ignorieren. Sie ist wirklich eine Dame, obwohl sie aus kleinen Verhältnissen stammt. Ihre ganze Art hat etwas Taktvolles, vornehm Zurückhaltendes und doch Liebenswürdiges. Ich bin überzeugt, dass sie auch Dir sehr gut gefallen wird. Ich habe nun immer daran denken müssen, wie Du wohl da unten Weihnachten feiern wirst. Hast Du nicht ein wenig Sehnsucht gehabt nach daheim? Rudolf, der sonst wieder recht frisch und munter ist, war gestern Abend auch recht traurig. Ich tröstete ihn und sagte ihm: ›Das Christfest übers Jahr wirst Du mit deiner jungen Frau feiern.‹ Da sagte er mit einem Seufzer und ganz sehnsüchtigen Augen: ›Gott mag es geben, lieber Vater.‹ – Er lässt Dich herzlich grüßen. Ich habe Dir absichtlich keine Weihnachtsgeschenke geschickt, mein liebes Kind, Du hast also nach Deiner Rückkehr verschiedene Wünsche frei. Bücher sende ich Dir, sobald wir, Rudolf und ich, etwas Neues entdecken, von dem wir annehmen können, dass es Dich interessiert.

Grüße Schlüters herzlich und in dankbarer Ergebenheit für Ihre Gastfreundschaft.

Dein treuer Vater.«

Lange sah Waltraut vor sich hin, als sie die beiden Briefe gelesen hatte. Also Lore Lenz, des Vaters Sekretärin, hatte Rudolfs Herz gewonnen. Wie sehr sie der Vater lobte! Das zählte bei ihm doppelt, denn er sparte mit solchem Lobe. Oh, sie wollte diese Lore Lenz wie eine Schwester lieben, denn da sie Rudolfs Herz gewonnen hatte, dankte sie es gewissermaßen ihr, dass sie sich mit Rudolf so schnell verständigt hatte. Wenn es nur erst so weit wäre, dass sie diese Lore ihre Verwandte nennen könnte.

Aber der Gedanke an den Vater lag ihr schwer auf der Seele. Sie schob ihn jedoch weit von sich und dachte an Jan. Wie glücklich er sie angesehen hatte heute Nachmittag, als sie ihm gesagt hatte, sie sei frei. Heute Abend noch würde er Rudolfs Brief und ihre Zeilen lesen. Wie glücklich würde er sein – wie sehr liebte er sie – und wie sehr liebte sie ihn.

Jan, lieber Jan, werden wir glücklich sein dürfen?

Sie erhob sich und trat an das Fenster. Ihre Augen suchten den Berg von Larina. Der Mond schien hell und hüllte alles in ein mildes Licht. Da drüben – da drüben wohnte ihr Glück.

Sehnsüchtig breitete sie die Arme aus.

Als Jan an diesem Abend nach Larina zurückkam, fand er seinen Vater noch wach. Dieser hatte erst in seinem Tagebuch geschrieben und sich dann in die Lektüre von deutschen Zeitungen vertieft, die er heute mit der Post bekommen hatte.

Jan begab sich zunächst auf sein Zimmer, um endlich Rudolf Werkmeisters Brief zu lesen. Beglückt entdeckte er Waltrauts Billett und drückte es an seine Lippen. Der Inhalt von Rudolfs Brief beruhigte ihn sehr. Er nahm sich vor, gleich morgen früh zu dem Dak-Bungalow zu fahren und das Telegramm aufzugeben.

Dann erhob er sich und suchte seinen Vater auf.

»Guten Abend, lieber Vater, du bist ja noch wach. Ah, ich sehe, du hast deutsche Zeitungen bekommen. Das ist doch deine liebste Lektüre.«

»Sie sind am sachlichsten gehalten«, erwiderte der alte Herr, als müsse er erklären, weshalb er am liebsten deutsche Zeitungen las, obwohl er doch Holländer war.

Jan setzte sich zu ihm, den Vater groß und ernst anblickend. Dieser schob die Zeitungen beiseite, nahm die Shagpfeife aus dem Munde und sagte forschend:

»Du siehst aus, mein Junge, als hättest du mir etwas Besonderes mitzuteilen.«

Jan fuhr sich durch seinen Haarschopf.

»Ja, Vater, ich habe dir etwas zu sagen.«

»Bist du einig geworden mit Waltraut Roland?«, forschte der alte Herr etwas erregt.

»Ja, mit ihr bin ich einig, Vater, aber es ging nicht alles so glatt, wie ich hoffte. Es gab erst arges Herzweh, und es türmen sich allerlei Hindernisse auf.«

Und er erzählte alles, was gestern in Saorda zwischen ihm und Waltraut geschehen und gesprochen worden war, dann zeigte er ihm Waltrauts Billett und zuletzt Rudolfs Brief.

Die Hand des alten Herrn zitterte ein wenig, als er nach diesem Brief griff. Er stützte seinen Kopf in die Hand, sodass sein Gesicht beschattet war, während er las. Als er damit zu Ende war, ließ er den Brief sinken und sah lange in Gedanken verloren vor sich hin. Jan wartete still und geduldig, bis der Vater sprechen werde.

Endlich sagte der alte Herr scheinbar sehr ruhig:

»Die Hauptsache, dünkt mich, ist, dass ihr beiden einig seid. Aus diesem Briefe geht hervor, dass Waltraut wirklich nur auf Wunsch ihres Vaters diese Verlobung eingegangen ist. Ein Glück, dass die beiden Menschen noch rechtzeitig erkannt haben, dass sie nicht zueinander passen als Mann und Frau.«

»Ja, Vater. Und zwischen ihnen ist ja nun alles im Klaren, aber was fängt man mit dem Vater an? Wenn er sich durch dies Gelübde gebunden fühlt, wie soll man ihn dann dazu bringen, Waltraut und mir seinen Segen zu geben? Denn ohne ihres Vaters Segen wird Waltraut nicht glücklich, dafür kenne ich sie.«

Wieder sah der alte Herr in tiefes Sinnen verloren vor sich hin. Seine Hand glitt dabei immer wieder über Rudolfs Brief. Es sah aus, als streichele er ihn. Nach einer Weile ergriff er ihn und las nochmals die Stelle durch: Wenn er sich gelobte, seine Tochter dem Sohne seines Freundes zu vermählen … Lange blieben seine Augen darauf ruhen. Dann erhob er den Kopf, sah seinen Sohn mit großen Augen an und sagte feierlich:

»Die Wege des Herrn sind wunderbar! Er führt uns auf Wegen, wie er will, mein Sohn. Und wenn wir glauben, dass wir unsere eigenen Wege gehen, dann kommt ein Tag, an dem wir einsehen, er hat uns geführt. Und nun höre mir zu: Du wirst Waltraut Roland heiraten können, ohne dass ihr Vater sein Gelübde zu brechen braucht.«

Jan sah den Vater unsicher an. An kleine Wunderlichkeiten war er bei ihm gewöhnt. Was er jedoch jetzt gesagt hatte, war mehr als wunderlich.

»Wie meinst du das, Vater?«

Der alte Herr strich sich über die Stirn.

»Ich meine es genau, wie ich es gesagt habe. Du hast mit kindlicher Liebe und Geduld manche Schrullen deines Vaters in Kauf genommen, ohne zu deuteln und zu fragen. Ertrage sie noch ein Weilchen, dann soll dir, das verspreche ich dir, alles klar werden. Heute nur das eine, was aus der Vergangenheit immer wieder vor mir aufsteigen wollte wie eine drohende Wolke, die über mir schwebte und seit vielen Jahren an meinem Herzen fraß, dass … ach, auch für mich wird es vielleicht noch eine Ruhe geben. Ich werde jetzt die Kraft finden, etwas auf mich zu nehmen, was ich fürchtete. Ich muss eine alte Schuld bekennen, muss sie ausbreiten vor den Augen meines Sohnes. Gebüßt habe ich diese Schuld ein halbes Leben lang, aber ich habe sie keinem Menschen bekannt außer deiner lieben Mutter. Sie hat meine Beichte verständnisvoll aufgenommen, hat mir Absolution erteilt und mir manches tragen helfen, was für mich allein zu schwer war. Für dich legte ich meine Beichte in einem Tagebuch nieder, du solltest sie erst nach meinem Tode finden und dann die alte Schuld für mich bezahlen. Ich war zu feige, meinem Sohne ins Gesicht zu sagen, was ich auf mich geladen habe in bitterer Not, unter einem dumpfen Zwange. Aber nun gilt es dein Glück und das Glück zweier anderer Menschen, und nun werde ich den Mut haben und bekennen, ehe ich sterbe. Frage mich heute nicht weiter, es soll bald alles klar werden. Sobald ihr telegrafischen Bescheid von Rudolf Werkmeister habt, gebt mir Nachricht, was er depeschiert hat. Und dann werde ich sehen, wie ich euch helfen kann. Dass ich es tue, dass ich die Hindernisse, die euch trennen, beiseiteräumen werde, so oder so, dessen sei gewiss, mein Junge. Mache dir keine Sorgen mehr, ihr werdet glücklich sein dürfen. Damit lass dir für heute genügen.«

Fassungslos sah Jan den Vater an. Seine Hände ergreifend, sagte er bewegt:

»Lieber, lieber Vater, was für eine Schuld du auch zu beichten hast, fürchte dich nicht, sie einzugestehen. Mutter hat dir Absolution erteilt, und für mich wirst du stets der verehrungswürdige Mensch bleiben, der du für mich immer warst. Das sollst du wissen, ehe du mir etwas beichtest. Ich will nicht in dich dringen, will geduldig warten, was du mir eröffnen wirst, was mir jetzt noch rätselhaft erscheint. Ich will dir auch glauben, dass ich mit Waltraut glücklich werden darf; denn ohne sie, Vater, gibt es kein Glück für mich.«

Der Vater streichelte über seinen Kopf. Das war bei ihm eine seltene Liebkosung, und Jan sah eine fremde Weichheit auf des Vaters Zügen. Seine Augen schienen heller zu blicken.

»Geh zur Ruhe, mein Sohn, und schlafe gut. Diesen Brief lass mir für diese Nacht. Und morgen früh gib gleich das Telegramm an Rudolf Werkmeister auf.«

»Das werde ich tun, Vater.«

Am nächsten Morgen jagte er in aller Frühe mit dem Auto hinunter zu dem Dak-Bungalow und gab das Telegramm an Rudolf Werkmeister auf. Dann ging er an seine Arbeit und war froh, dass er tüchtig zu tun hatte, damit die Zeit schneller verging.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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