Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 5

Zweites Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Als er dessen Privatkontor betrat, sah er betroffen, dass sein Pflegevater vor seinem Schreibtisch saß und das Gesicht in den Händen vergraben hatte.

»Ich störe doch nicht, lieber Vater?«, fragte Rudolf ganz betreten, dass er den Vater in solch einer Situation überraschte.

Georg Roland zuckte zusammen. Er hatte den Eintritt Rudolfs überhört. Jetzt sah er auf und starrte Rudolf fassungslos an. Nur mühsam rang er eine große Erregung nieder.

»Ich habe dich erschreckt, Vater – bist du nicht wohl?«

Besorgt sah der junge Mann in das blasse Gesicht des älteren. Mit einem tiefen Atemzug fand sich Georg Roland wieder in die Wirklichkeit.

»Es ist seltsam, Rudolf, ich dachte gerade an deinen Vater – heute ist sein Todestag. Und da standest du vor mir, und es ist mir noch nie so aufgefallen wie heute, wie sehr du ihm gleichst. Deinen Eintritt hatte ich überhört, weil ich mit meinen Gedanken in vergangenen Zeiten war. Und als ich aufblickte, war mir, als sei dein Vater aus meinen Gedanken heraus vor mich hingetreten.«

Es geschah sehr selten, dass Georg Roland mit seinem Pflegesohn von dessen Vater sprach.

»Gleiche ich meinem Vater wirklich so sehr?«, fragte Rudolf.

Der alte Herr nickte.

»Ja, je älter du wirst, je mehr gleichst du ihm.«

»Er war ja wohl ungefähr in meinem Alter, als er starb?«

»Ganz recht, vierunddreißig Jahre war er alt, genau wie du jetzt.«

»Und heute ist sein Todestag – seit dreiunddreißig Jahren ist er nun schon tot.«

Schwer nickte Georg Roland mit dem Kopfe.

Rudolf setzte sich zu ihm und nahm seine Hand.

»Du sprachst mir so selten von ihm, ich weiß so wenig über ihn, dass ich dich gerade heute bitten möchte, mir doch wenigstens über seinen plötzlichen Tod einmal ausführlich zu berichten.«

»Es weckt schmerzliche Erinnerungen, wenn ich von ihm spreche, deshalb vermeide ich es gern. Aber ich kann deinen Wunsch verstehen und will mich dazu aufraffen, davon zu sprechen. Also höre mich an.«

Der alte Herr setzte sich so, dass sein Gesicht im Schatten blieb. Dann begann er mit heiserer Stimme:

»Es war die schwerste Stunde meines Lebens, Rudolf, und gerade, ehe du eintratest, hielt ich sie mir wieder in der Erinnerung vor. Ganz lebendig steht sie wieder vor mir. Du weißt, dein Vater war mein bester, wohl mein einziger Freund, was man wirklich einen Freund nennen kann. Wir kannten uns von der Schule her schon. Dein Vater war einer der besten und kühnsten Bergsteiger, und einige Tage vor seinem Tode waren wir wieder einmal in die Schweiz gereist, in den Engadin, um verschiedene Touren zu machen. Wir waren über Nacht in der Schutzhütte geblieben und wollten nun den letzten Teil des Aufstiegs auf den Gipfel eines Berges machen. Ich verschweige dir absichtlich, welcher Berg es war, denn da du selber gern auf die Berge steigst, will ich dich nicht damit belasten. Dein Vater kannte Weg und Steg genau, und wir machten die Tour, die durchaus nicht zu den gefährlichsten gehörte, die wir schon zusammen gemacht hatten, ohne Führer, wie immer.

Bei schönstem, klarstem Wetter brachen wir auf, aber nach einer Stunde setzte plötzlich, nachdem sich der Himmel schnell umzogen hatte, ein heftiges Schneetreiben ein. Es wunderte mich, denn dein Vater war sonst im Voraussagen des Wetters fast unfehlbar. Diesmal hatte er sich wohl geirrt, sonst wären wir sicher in der Schutzhütte geblieben. Ich muss gestehen, dass mir nicht sehr wohl in meiner Haut war, denn es hatte sich auch ein starker Schneesturm erhoben, und die Staublawinen fegten über uns hinweg, als wollten sie uns mitreißen. Und seltsamerweise war auch dein Vater sehr still und in sich gekehrt, was mich allerdings nicht so sehr wunderte, weil er in jener Zeit viel Schweres erlebt hatte. Der dicht fallende Schnee, der wie ein weißes Tuch über uns herniederfiel, und die Staublawinen verschütteten sofort unsere Spuren. Aber trotzdem, wir waren schon in schlimmerer Situation gewesen, ohne dass dein Vater die Richtung verloren hätte. An jenem Tage war es aber doch geschehen. Wir waren über eine Stunde in diesem wüsten Schneetreiben unterwegs und waren dicht neben einem steilen Abgrund angekommen, von dessen Schauerlichkeit ich durch den dichten Schnee, der uns fast blind machte, keine Ahnung hatte. Und da setzte sich dein Vater, der sonst nie die Ruhe und Sicherheit verlor, dicht neben den Abgrund nieder in den Schnee und stöhnte: Ich habe die Richtung verloren, wir haben uns verirrt. –

Aber das war nicht das Schlimmste, dein Vater erklärte plötzlich: ›Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, geh du allein weiter, halte dich immer rechts an der Felswand – lass mich allein – rette dich.‹

Es fiel mir natürlich nicht ein, diesen Worten Folge zu leisten, aber was nun kam, war etwas so Rätselhaftes, Unverständliches für mich, dass ich es heute noch nicht begreifen kann. Dein Vater, dieser kühne und unverzagte Bergsteiger, bekam, wie ein Neuling, einen furchtbaren Anfall von Bergkrankheit. Du weißt, das ist ein vollständiges Versagen der Nervenkraft, eine absolute Willenlosigkeit, die durch nichts zu besiegen ist. Ich war fürchterlich erschrocken. Wohl hatte dein Vater in jener Zeit Schweres erlebt, und deshalb hatte ich ihn überredet, zu seiner Erholung mit mir in die Berge zu gehen, aber einen solchen Nervenzusammenbruch hätte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Der einige Wochen zurückliegende Tod deiner Mutter, die er sehr geliebt und die er nach schwerer Krankheit verloren, hatte ihm wohl mehr zugesetzt, als ich geglaubt hatte. Ich war gerade erst von einer mehrjährigen Auslandsreise zurückgekommen und hatte ihn sehr verändert gefunden, aber wie gesagt, einen solchen Nervenzusammenbruch hatte ich bei ihm nicht für möglich gehalten. Offen gesagt, ich war sehr gegen die Verbindung deines Vaters mit deiner Mutter gewesen, weil sie beide völlig vermögenslos waren und dein Vater auf sein Gehalt angewiesen war, das er in einer Stellung in einem großen Handelshause bezog. Er hätte bei seiner fabelhaft interessanten Erscheinung und seinen glänzenden Fähigkeiten eine ganz andere Partie machen können. Aber er liebte deine Mutter namenlos und wollte nicht von ihr lassen. Fast zwei Jahre ist das gut gegangen, aber dann begann deine Mutter nach deiner Geburt zu kränkeln und starb dann auch nach monatelangem Leiden. Wie gesagt, kurz nach ihrem Tode kehrte ich zurück, und nun saßen wir da oben in dem Schneetreiben fest. Dein Vater war völlig hilflos, ganz zusammengebrochen. Er beschwor mich nur immer wieder mit matter Stimme, ich möge mich allein retten, er sei nicht mehr imstande, nur noch einen Schritt zu tun.

Ich hätte natürlich gern Hilfe herbeigerufen, denn ich allein konnte den großen, schweren Mann nicht tragen, zumal ich auch etwas von Kräften war durch das Ankämpfen gegen den Schneesturm, aber ich wagte nicht, deinen Vater in der gefährlichen Nähe des Abgrundes allein zu lassen.«

Eine Weile verstummte Georg Roland und vermochte nicht, weiterzusprechen. Er stützte den Kopf in die Hand und verbarg sein Gesicht. Rudolf sah ihn erregt und erwartungsvoll an, drängte aber nicht, dass er weiter berichten möge. Endlich richtete sich der alte Herr auf, seufzte tief auf und wischte sich über die Augen, als müsse er ein quälendes Bild verscheuchen. Dann sprach er weiter mit heiserer, gepresster Stimme:

»Ich beschwor deinen Vater, sich zusammenzunehmen, sich aufzuraffen und mit mir zu kommen, aber er reagierte gar nicht mehr, saß nur stumm und starrte vor sich hin. Ich wurde ärgerlich. ›Willst du hier liegen bleiben und erfrieren? Komm mit mir, denke doch an dein Kind‹, sagte ich.

Er sah mich an mit einem Blick, den ich nie vergessen werde.

›Ich will sterben, geh, lass mich allein‹, stieß er hervor. ›Versprich mir, dass du dich meines Sohnes annimmst, ich weiß, du wirst dies Versprechen halten.‹

Um ihn zu beruhigen, sagte ich, dass ich ihm das verspreche, aber er möge nicht so törichtes Zeug reden und möge aufstehen, da ich ihn doch nicht tragen könne.

Er schüttelte den Kopf und starrte wieder vor sich hin. Da sagte ich, um ihn aufzustacheln:

›Sei keine Memme, so kenne ich dich gar nicht.‹

Wieder sah er mich seltsam an.

›Nein – du kennst mich nicht.‹

Da zwang ich mich, in meiner Angst um ihn, zu einem verächtlichen Ton: ›Feigling!‹, rief ich ihm zu.«

Wieder machte Georg Roland eine Pause und kämpfte erst die Erregung in sich nieder. Dann fuhr er, mit starren Augen auf einen Fleck sehend, fort:

»Als ich ihm dieses Wort zurief, erhob er sich plötzlich – tat es aber so schwerfällig und ungeschickt, dass er auf dem glatten Boden ins Gleiten kam und – vor meinen entsetzten Augen – in den Abgrund stürzte, ehe ich ihn nur halten konnte.«

Lange war es still zwischen den beiden Männern, Georg Roland war totenblass geworden, und seine Augen sahen glanzlos in die Weite, als sähe er das Grauenhafte wieder vor sich.

Endlich fasste Rudolf, der sich gefasst hatte, seine Hand. Auch er war tief erschüttert.

»Verzeihe mir, ich habe schlimme Erinnerungen in dir geweckt durch meine Bitte.«

Georg Rolands Brust hob sich in einem stöhnenden Atemzug.

»Die brauchen nicht geweckt zu werden, Rudolf, sie sind immer wach, immer lebendig, jene Stunde steht immer in grauenvoller Klarheit vor mir. Also höre weiter: Dein Vater war abgestürzt, und ich konnte nichts, nichts tun, ihn zu retten. Der Abgrund, den ich ja nur ahnen konnte, da ihn das Schneetreiben ganz verdeckte, hatte deinen Vater aufgenommen. Ich stand eine Weile wie gelähmt, habe wohl vor Schreck laut aufgeschrien, schrie nun weiter wie sinnlos und beugte mich über den Rand des Abgrundes, um deines Vaters Namen zu rufen. Eine grauenvolle Stille antwortete mir. Und da endlich kam mir zum Bewusstsein, dass ich um jeden Preis Hilfe holen müsse. Ich lief davon wie ein Blinder, aber instinktiv mich nach deines Vaters Rat immer rechts haltend. Immer wieder schrie ich laut um Hilfe, und nachdem ich wohl eine halbe Stunde so gelaufen war, hörte ich eine Antwort auf meine Rufe – sie kam aus der Schutzhütte; zu meinem Erstaunen stand ich dicht davor, und drei Männer kamen mir entgegengestürzt, auf meinen Ruf antwortend. Wir mussten im Kreise herumgelaufen sein, da wir die Hütte vor Stunden verlassen hatten. Die drei Männer waren zwei Engländer und ein Führer, die dieselbe Tour, wie wir vorgehabt, machen wollten und in der Schutzhütte noch vor dem Schneetreiben angekommen waren. Ich berichtete völlig verstört von dem Unglück, das meinen Freund betroffen hatte, und musste von dem Führer allerlei Vorwürfe anhören, weil wir die Tour ohne Führer gemacht hatten. Ich konnte ihm kaum erklären, dass wir ganz andere Touren schon ohne Führer gemacht hatten. Aber er und die Engländer begleiteten mich zurück zu der Unfallstelle. Wie durch einen Zauberspruch hatte plötzlich das Schneetreiben wieder aufgehört, und hell und klar schien die Sonne. Wir fanden die Stelle bald, an der dein Vater abgestürzt war, seinen Eispickel, das Seil und den Rucksack fanden wir schon tief unter dem Schnee. Der Schnee hatte alle Spuren verwischt. Aber ich sah nun erst den grauenvollen Abgrund klar vor mir und starrte entsetzt hinab.

Es war ausgeschlossen, dass wir von hier oben aus deinem Vater hätten zu Hilfe kommen können, selbst wenn er noch am Leben gewesen wäre. Der Felsen fiel ganz steil ab in eine tiefe Schlucht, in die von halber Höhe des Felsens ein tosender Wasserfall mit furchtbarer Gewalt herniederbrauste und auf dem Grund der Schlucht einen brodelnden Wasserkessel bildete, der von rotierenden Steinen durch die Gewalt des Wassers ausgehöhlt worden war. Aus diesem Wasserkessel suchte sich das Wasser mit großer Gewalt einen Ausweg, um sich in eine Ache zu ergießen. Das alles sah man aber nicht vom Rand des Abgrunds aus, es wurde mir nur von dem Führer der Engländer erzählt. Ganz glatt fiel der Felsen ab, nur etwa drei Meter tiefer, als wir standen, war ein schmaler Vorsprung zu sehen, der sich zu einer aufwärtsführenden Felsschrunde hinzog. Der Vorsprung war aber nur so schmal, dass ein Mensch vielleicht einen Halt gefunden hätte, wenn er vorsichtig und sanft hinuntergeglitten wäre, aber im jähen Fall konnte sich hier niemand halten. Der Körper deines Vaters war aufgeschlagen auf diesem Vorsprung, denn der Schnee lag nicht so hoch an der Stelle, wo er abgestürzt war, als an den anderen. Sonst aber war keine Spur von deinem Vater zu erblicken. Tief unten brodelte der Wasserfall, der sicher alles mit sich in die Tiefe riss, was ihm in den Weg kam. Es war aber unmöglich, auf den Grund der Schlucht zu sehen, obwohl es ganz klar geworden war. Der Führer sagte uns, dass es ausgeschlossen sei, dass dein Vater noch am Leben sei. Selbst, wenn er sich nicht gleich zu Tode gestürzt hätte, wäre er von dem Wasserfall in den brodelnden Wasserkessel gestürzt und dort zerrieben worden durch die Gewalt des Wassers. Es sei kaum eine Möglichkeit, dass die Leiche unversehrt geborgen werde, wenn sie überhaupt zutage gefördert werden könne, was unerhört schwierig sein würde.

Trotzdem wurde, nachdem wir sofort abgestiegen waren – den Engländern war die Lust an der geplanten Partie vergangen –, eine umfassende Rettungsaktion, die voraussichtlich im günstigsten Falle nur eine Bergung der Leiche möglich erscheinen ließ, in die Wege geleitet. Aber sie verlief trotz unbeschreiblicher Mühen ergebnislos. Auch von deines Vaters Leiche fanden wir keine Spur, weder damals noch später. Ein Priester weihte die Stelle, und wir beteten für das Heil seiner Seele, weiter konnten wir nichts tun. Nicht einmal ein christliches Begräbnis konnte ich dem Freunde verschaffen.«

Erschöpft schwieg der alte Herr und sank in sich zusammen. Auch Rudolf saß mit blassem, fahlem Gesicht da und konnte nicht sprechen. Nach einer langen Weile fuhr Georg Roland fort:

»Du kannst dir denken, wie der Tod deines Vaters auf mich gewirkt hat. In einer unbeschreiblichen Stimmung reiste ich nach Hause, als alles getan war, was getan werden konnte. Mein Erstes war, dass ich mich deiner annahm, nicht nur, weil ich es deinem Vater versprochen hatte, sondern auch, weil es mir Bedürfnis war. Du warst unter der Aufsicht deiner alten Kinderwärterin zurückgeblieben, die nun mit dir in meine Junggesellenwohnung übersiedelte. Als ich bald darauf heiratete, geschah es nicht zuletzt, um dir eine Mutter zu geben, die sich deiner annehmen konnte. Meine Wahl fiel auf eine Frau, der ich zutraute, eine gute Mutter auch für dich zu werden. Sie war einverstanden, dich aufzuziehen mit liebevoller Sorgfalt, und ich brauche dir nicht in Erinnerung zu bringen, was für eine gute Mutter sie dir wurde.«

»Nein, wahrlich nicht, lieber Vater, nie, niemals werde ich euch beide vergessen, was ihr für mich getan habt«, sagte Rudolf warm und herzlich.

»Von mir sprich nicht, ich erfüllte nur eine Pflicht und löste ein Versprechen. Nicht nur deinem Vater hatte ich gelobt, für dich zu sorgen, auch mir selbst hatte ich es gelobt, dich wie meinen eigenen Sohn aufzuziehen. Und ich hoffe, du bist überzeugt, dass ich dich wie einen Sohn an mein Herz nahm.«

Rudolf fasste seine Hand.

»Ja, Vater, davon bin ich überzeugt und danke dir von ganzem Herzen.«

Und damit drückte er schnell einen Kuss auf die Hand seines Wohltäters. Dieser zog wie in tiefem Erschrecken seine Hand zurück.

»Nein, danke mir nicht! Ich will keinen Dank! Und – nun lass mich allein. Ich muss mich erst wiederfinden und habe dann noch zu tun. Oder hattest du noch ein besonderes Anliegen?«

»Ja, Vater, ich traf Waltraut draußen im Treppenhaus. Sie sagte mir, weshalb sie bei dir war, und bat mich, ein gutes Wort für sie bei dir einzulegen. Könntest du Waltraut nicht gestatten, ihre Freundin für einige Zeit zu besuchen? Du hast mich vor Jahren lange Zeit ins Ausland gehen lassen, willst du deiner Tochter diese Erlaubnis nicht auch gewähren?«

»Du bist ein Mann und du gingst hauptsächlich, um unsere geschäftlichen Verbindungen im Ausland zu festigen. Frauen gehören ins Haus.«

»Aber sie will doch nur die Freundin besuchen, die ja nun einmal so weit fort geheiratet hat. Du musst bedenken, wie schwer Waltraut durch den Verlust ihrer Mutter betroffen ist – viel schwerer als du und ich. Wir haben unsere geschäftlichen Ablenkungen und sind abends oft im Klub. Waltraut ist so viel allein in dem Hause, das sonst die Liebe ihrer Mutter mit Wärme füllte. Leider ist fast zu gleicher Zeit ihre einzige Freundin von hier fortgegangen, und du weißt, wie schwer sich Waltraut an andere Menschen anschließt, die ihr zudem nicht zusagen. Nun kommen immer von ihrer Freundin die Sehnsuchtsrufe, weil auch diese sich im fremden Lande einsam und allein fühlt, da ihr Mann den ganzen Tag unterwegs ist. Wie verständlich ist es, dass Waltraut diesem Rufe gern Folge leisten möchte. Lass sie doch einige Zeit nach Ceylon gehen. Reisen ist ein gutes Mittel gegen Stimmungen, wie Waltraut solchen anscheinend unterworfen ist. Kommt sie zurück, wird sie sich freuen, wieder daheim zu sein, und den Verlust ihrer Mutter nicht mehr so schmerzlich empfinden.«

Georg Roland hatte seinen Pflegesohn mit forschenden Augen angesehen. »Würdest du Waltraut nicht vermissen?«

»Doch, Vater, sehr, wie ich auch weiß, dass du sie vermissen würdest, aber an uns dürfen wir in diesem Falle wirklich nicht denken, nur an Waltraut. Ich muss gestehen, ich sorge mich um sie, sie ist jetzt immer so still und bedrückt und grübelt zu viel.«

Der alte Herr strich sich über die Stirn, als sei ihm zu heiß. »Ihr setzt mir beide sehr zu, aber – ich kann nicht einwilligen, weil ich einen ganz bestimmten Grund habe. Ich habe andere Pläne – lange schon –, und die sollen sich jetzt verwirklichen. Und zwar erscheint mir der heutige Tag, der Todestag deines Vaters, besonders dafür geeignet. Aber jetzt nichts mehr davon, heute Abend daheim, da werden wir weitersprechen. Jetzt lass mich allein, ich habe zu viel zu erledigen, die Arbeit wächst mir zuweilen über den Kopf, und ich sehe ein, dass ich mir eine Sekretärin engagieren muss. Wenn man nur gleich eine tüchtige, anstellige Persönlichkeit finden würde. Für Versuche am untauglichen Objekt fehlt mir die Zeit und die Geduld. Also geh, mein Junge, hier nimm diese Post mit, sie geht dich an.«

Er reichte seinem Pflegesohn einen Stoß Briefe, und dieser entfernte sich, um in sein eigenes Kontor zurückzukehren. Er war seit zwei Jahren Prokurist der Firma Roland mit einigen anderen Herren zusammen. Freilich war er der jüngste Prokurist.

Als Georg Roland allein war, begann er aber nicht gleich zu arbeiten. Er hatte nur allein sein wollen, denn was er seinem Pflegesohn erzählt hatte, wühlte alles wieder in ihm auf, was er an jenem Tage erlebt hatte. Wieder wie vorhin vergrub er das Gesicht in den Händen und saß in qualvolle Gedanken versunken. Fast sechsundsechzig Jahre war er alt geworden, und dreiunddreißig Jahre lag jener Tag hinter ihm, aber er konnte ihn nie vergessen. Immer wieder sah er den gleichaltrigen Freund vor sich, wie er ihn gesehen hatte, ehe er abstürzte. Er hatte sich bei seiner Erzählung in einigen Punkten nicht ganz streng an die Wahrheit gehalten, nie hatte er einem Menschen die unbedingte Wahrheit über jene Szene, die dem Absturz seines Freundes vorausgegangen war, gesagt. Wahrheit war, dass er mit Heinrich Werkmeister, seinem Freund, jene Bergtour gemacht hatte, und auch sonst stimmten alle Einzelheiten, nur hatte er sich in jener gefährlichen Situation nicht nur damit begnügt, dem Freunde zuzureden, dass er sich aufraffen solle, er hatte sich schließlich zu dem Willenlosen herabgebeugt und hatte versucht, ihn emporzuheben. Dieser hatte sich dagegen gewehrt, und zwar mit viel mehr Kraft, als das völlige Versagen seiner Nerven hätte zulassen können. Und da erst hatte ihm Georg Roland, um ihn aufzustacheln aus seiner Lethargie, zugerufen, dass er ein Feigling sei. Darauf hatte sich Heinrich Werkmeister plötzlich aufgerichtet, hatte sich auf den Freund gestürzt und ihm zugerufen:

»Das lasse ich mir auch von dir nicht ungestraft sagen – wehre dich!«

Und dicht an dem furchtbaren Abgrund hatten sie zu ringen begonnen, und Heinrich Werkmeister hatte plötzlich eine erstaunliche Kraft entfaltet. Georg hatte ihn im Ringen von dem Abgrund fortziehen wollen, aber er hatte sich nicht vom Fleck bringen lassen, hatte so unglücklich manövriert, dass er immer dichter herankam. Und dann hatte er ihm einen so kräftigen Stoß versetzt, dass er ein Stück zurücktaumelte und zu Boden fiel. Aber wohl dadurch, dass er den Freund in diesem Augenblick losgelassen hatte, war dieser plötzlich über den Rand des Abgrunds in die Tiefe geglitten.

Wie gelähmt hatte Georg Roland auf die Stelle gestarrt, wo der Freund gestanden hatte, und hatte nur einen grauenvollen Schrei ausgestoßen, als sei er selbst in höchster Todesnot gewesen. Und dann hatte er sich mühsam erhoben, hatte immer wieder um Hilfe geschrien, obwohl er keinen Menschen in der Nähe wusste, und hatte sich weit über den Abgrund gebeugt, um den Namen des Freundes in qualvoller Angst zu rufen, ohne dass er eine Antwort erhalten hätte. Endlich hatte er sich dann aufgemacht, um Hilfe um jeden Preis zu holen. Und sein Herz hatte die Gewissheit bedrückt, dass er schuld sei an dem Tod des Freundes, obwohl er ihn doch nur hatte retten wollen. Eine heiße Angst war dabei über ihn gekommen. Wenn man ihn nun zum Mörder seines Freundes stempelte, wenn man ihm nicht glaubte, dass er ihn nur einen Feigling genannt hatte, um ihn aus seiner Lethargie zu reißen, wenn man annahm, der Ringkampf habe im Ernst stattgefunden und er habe bei diesem Ringkampf den Freund mit Vorbedacht in den Abgrund gestürzt? Da warf man ihn vielleicht ins Gefängnis, stellte Verhöre mit ihm an und wühlte in der Wunde, die ihm durch den Tod des Freundes geschlagen worden war. Und sein stolzer Vater – was sollte der leiden, wenn er nur einen solchen Verdacht auf seinen Sohn geworfen sehen würde? Nein, er durfte nicht die volle Wahrheit sagen, musste sich eine andere Version zurechtlegen.

Und während er, die Seele voll Verzweiflung, im Schneetreiben nach Hilfe rief und dahineilte wie ein Blinder, sich nur instinktiv so weit wie möglich rechts haltend, hatte ihn der Selbsterhaltungstrieb befähigt, sich die Szene am Abgrund in etwas veränderter Gestalt zurechtzulegen, und niemand hatte seine Schilderung bezweifelt.

Aber obwohl er sich im Grunde seines Herzens unschuldig fühlen musste, blieb doch immer ein heimlicher Stachel in seiner Brust, der ihm sagte: Wenn du Heinrich nicht einen Feigling genannt hättest, hätte er nicht mit dir gerungen und wäre nicht abgestürzt. Dann lebte er vielleicht noch. Und so bist du unschuldig schuldig geworden.

Und noch etwas hatte er Rudolf verschwiegen, in bester Absicht freilich. Als er damals aus den Bergen heimgekehrt war mit bedrücktem Herzen, hatte er die Firma aufgesucht, bei der Heinrich Werkmeister angestellt gewesen war, um dort den Tod seines Freundes zu melden. Man hatte aber dort schon in den Zeitungen davon gelesen und – da der Posten Heinrich Werkmeisters neu besetzt werden sollte, hatte man eine Revision seiner Bücher vorgenommen. Dabei war dann zutage gekommen, dass Heinrich Werkmeister im Laufe einiger Jahre zwanzigtausend Mark unterschlagen hatte. Erst waren es nur ganz kleine Summen, die nicht ordnungsgemäß gebucht waren, dann immer größere und zuletzt, kurz vor seiner Abreise, waren noch zehntausend Mark unterschlagen worden. Im Ganzen fehlten also zwanzigtausend Mark.

Georg Roland war durch diese Nachricht wie vor den Kopf geschlagen gewesen, das veränderte, nervöse Wesen seines Freundes war ihm nun in einem anderen Lichte erschienen. Erst jetzt kam ihm zum Bewusstsein, dass Heinrich Werkmeister doch all die großen Kosten, die ihm die Krankheit seiner Frau, die Anschaffung des Hausstandes, der Tod der Frau und die Geburt seines Sohnes verursacht haben mussten, nicht von seinem Gehalt hatte bestreiten können. Leider war er selbst in all der Zeit im Ausland gewesen, sonst hätte sich der Freund sicher um Hilfe an ihn gewandt, die er ihm auch gewiss gewährt hätte. So hatte er sich an fremdem Eigentum vergriffen, hatte die Bücher fälschen müssen und hatte dann nicht gewusst, was er hätte tun sollen. Nun wurde ihm der völlige Nervenzusammenbruch des Freundes erklärlich. ›Nein, du kennst mich nicht!‹, hatte ihm Heinrich da oben zugerufen und hatte ihn mit einem gramerfüllten Blick angesehen, den er nie vergessen konnte.

Alles das erschien ihm jetzt in einem anderen Licht, und er hatte sich gefragt: Wollte er sterben, um sein Unrecht zu sühnen? Hatte er ihn deshalb fortschicken wollen, ihm den rechten Weg angebend, den er also sicher nicht verloren hatte, damit er sich dann in die Tiefe stürzen konnte, deren Furchtbarkeit er doch sicher kannte, da er nicht zum ersten Male diese Partie machte?

Dies Geheimnis würde nie geklärt werden. Heinrich Werkmeister hatte es mit sich in sein grausiges Grab genommen.

Aber es war für Georg Roland eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass er dem ehemaligen Chef des Freundes die unterschlagene Summe ersetzte. Deshalb sah dieser von einer Publizierung des Falles ab, und Heinrich Werkmeisters Name war rein erhalten worden für seinen kleinen Sohn. In der Zerrissenheit seines Gemüts, niedergedrückt von einem Schuldbewusstsein, das doch keines war, suchte Georg Roland an dem Sohne seines Freundes gutzumachen, was in seiner Macht stand. Und dabei wuchs der Knabe ihm ans Herz wie ein eigenes Kind. Rudolf zählte bereits dreizehn Jahre, als Georg selbst ein Töchterchen geboren wurde. Georg Roland war dadurch in eine schwierige Lage gekommen. Er hatte in Rudolf seinen Sohn und Erben gesehen, und fast erschien es ihm nun wie ein Unrecht an diesem, dass ihm durch die Geburt seiner Tochter dies Erbe verloren gehen sollte. Er grübelte, wie er das abwenden konnte, und kam zu einem Entschluss. Er legte sich selbst ein feierliches Gelübde ab, dass seine Tochter eines Tages die Gattin seines Pflegesohnes werden solle, damit ihm so das ihm zugedachte Erbe erhalten bliebe, ohne dass er seine eigene Tochter hätte enterben müssen. Dies Gelübde, in einer Stunde seelischer Erregung abgelegt, hielt er für bindend. Da nun seine Tochter herangewachsen war, hielt er es an der Zeit, die beiden jungen Menschen aneinanderzubinden. Waltraut war nun einundzwanzig Jahre alt, also heiratsfähig. Hatte doch ihre kaum zwei Jahre ältere Freundin Dora schon vor drei Jahren Hochzeit gehalten. Heute, am Todestage seines Freundes, wollte er noch mit Rudolf und danach auch mit Waltraut sprechen und ihnen sagen, dass sie füreinander bestimmt seien.

Und er sagte sich, dass er, wenn Rudolf der Gatte seiner Tochter geworden sei, alles getan haben würde, was er hätte für Rudolf tun können. Dann musste doch endlich seine »Schuld« gesühnt sein. Er hatte sich bis heute noch nicht mit der Tatsache abfinden können, dass der Freund wohl selbst hatte den Tod suchen wollen und dass es eher ein Verhängnis für ihn selbst gewesen sei als eine Schuld, dass er die Ursache zum Tode seines Freundes geworden war. In seinem Unterbewusstsein hatte er es immer als Schuld empfunden, und die wollte er gutmachen um jeden Preis.

Dass er schon getan hatte, was in seinen Kräften stand, dass er Heinrich Werkmeisters Namen rein erhalten hatte und seinem Sohne eine sorglose Heimat gab, damit begnügte sich der äußerst gewissenhafte Mann nicht.

Ganz fest war er entschlossen, sein Gelübde zu halten und aus Rudolf und Waltraut ein Ehepaar zu machen. Er tat damit auch seiner Ansicht nach das Beste für seine Tochter und bezweifelte gar nicht, dass die beiden jungen Menschen füreinander geschaffen seien.

Niemals hatte Georg Roland seinem Vater Mitteilung davon gemacht, was damals in den Bergen geschehen war. Und ebenso wenig seiner späteren Frau. Oft war er nahe daran gewesen, ihr auch das Letzte zu enthüllen, aber immer hatte er es wieder in sich verschlossen, und sie war wohl zu feinfühlig, um nicht zu spüren, dass er sein tiefstes Inneres ihr verschlossen hielt, wenn sie auch nie darüber sprach.

Über all das grübelte der stille Mann am Schreibtisch noch in dieser Stunde, und er kam nicht mehr zum Arbeiten, bis es Zeit war, zu Tisch zu gehen – obwohl die Arbeit drängte.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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